Leitsatz (redaktionell)
Die Anwendung des RKG § 86 Abs 2 setzt nicht voraus, daß die für die neue Tätigkeit erforderlichen "neuen Kenntnisse und Fertigkeiten" denjenigen gleichwertig sind, die der Hauptberuf erfordert; auch eine betriebliche Einweisung und Einarbeitung von 3monatiger Dauer reicht aus, um "neue Kenntnisse und Fertigkeiten" iS dieser Vorschrift zu vermitteln.
Normenkette
RKG § 86 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28.Januar 1965 aufgehoben, soweit es die Zahlung der Bergmannsrente über den 30. Juni 1963 hinaus sowie die Kosten betrifft; insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1924 geborene Kläger hatte im Aachener Steinkohlenbergbau von 1952 an als Gedingearbeiter, und zwar von Juli 1957 an als Hauer gearbeitet. Nachdem er wegen leichter Silikose für grubenuntauglich befunden worden war, wurde er am 5. Mai 1958 auf Veranlassung der Bergbau-Berufsgenossenschaft als Hilfsarbeiter in den Tagesbetrieb verlegt. Seit dem 3. April 1963 ist er in einem nicht knappschaftlichen Betrieb mit der Bedienung einer Vulkanpresse beschäftigt. Sein Antrag vom 29. Mai 1958 auf Bergmannsrente wurde von der Beklagten zurückgewiesen; Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht (SG) blieben erfolglos.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Bergmannsrente vom 1.Mai 1958 an zu zahlen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG ging es von der Hauertätigkeit als dem Hauptberuf des Klägers aus. Da er nach Ansicht der Ärzte unter Tage nicht mehr arbeiten dürfe, sei er als bisheriger Hauer vermindert bergmännisch berufsfähig; auf im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten über Tage könne er nicht verwiesen werden, weil ihm entweder die hierzu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fehlten oder es sich nicht um "Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" handele. Der Anspruch auf Rente werde durch die seit dem 3. April 1963 außerhalb des Bergbaus verrichtete Tätigkeit nicht beeinträchtigt, wenn der Kläger mit dem dabei erzielten Lohn auch möglicherweise die für ihn maßgebliche Bemessungsgrundlage erreiche. Denn dieser Lohn werde nicht auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten erworben. Nach der Auskunft des Arbeitgebers erfordere die neue Tätigkeit des Klägers nur eine kurze Anlernungszeit von etwa drei Monaten; eine Umstellungszeit von dieser Dauer sei aber einem Versicherten schon bei der Verweisung im Rahmen von § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zuzumuten, sie könne daher zur Anwendung von § 86 Abs. 2 RKG nicht genügen. Es komme hinzu, daß die für das Bedienen einer Vulkanpresse erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten denjenigen, welche für die Facharbeitertätigkeit eines Hauers vorausgesetzt würden, auch nicht annähernd qualitativ gleichwertig seien.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Mit der Revision rügt die Beklagte unrichtige Anwendung des § 45 Abs. 2 sowie des § 86 Abs. 2 RKG. Nachdem sie zunächst die Auffassung vertreten hatte, mit Rücksicht auf die geringe Dauer der Hauertätigkeit könne nur von der Lehrhauertätigkeit als bisher verrichteter knappschaftlicher Arbeit des Klägers ausgegangen werden und demgemäß könne er noch auf eine Reihe wirtschaftlich gleichwertiger Übertagetätigkeiten verwiesen werden, läßt sie nunmehr die Hauertätigkeit als Hauptberuf des Klägers gelten und erkennt den Rentenanspruch für die Zeit bis zum 30. Juni 1963 an. Für die Zeit vom 1. Juli 1963 an stehe aber die Vorschrift des § 86 Abs. 2 RKG dem Rentenanspruch entgegen. Es müsse - entgegen der Auffassung des LSG - genügen, daß für die neue Tätigkeit des Klägers eine dreimonatige Anlernzeit erforderlich sei, um die gesetzliche Voraussetzung "neuer Kenntnisse und Fertigkeiten" zu erfüllen. Der Kläger habe 1963 aus seiner neuen Tätigkeit außerhalb des Bergbaus einen Verdienst von 5.488,37 DM oder monatlich 609,61 DM erzielt, während seine persönliche Bemessungsgrundlage 7.306,94 DM oder monatlich 608,91 DM betragen habe; sein Verdienst habe somit die persönliche Bemessungsgrundlage überstiegen. Gleiches gelte für das Jahr 1964, in dem der Verdienst 8.021,94 DM, die persönliche Bemessungsgrundlage aber nur 7.992,19 DM betragen habe.
Aus der Höhe der Entlohnung ergebe sich auch, daß es sich nicht um eine gering bewertete Tätigkeit handele.
Die Beklagte hat die Revision insoweit zurückgenommen, als es sich um die Bergmannsrente für die Zeit bis zum 30.Juni 1963 handelt. Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 28.Januar 1965, soweit noch angefochten, aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 8. Mai 1961 insoweit zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision in dem aufrechterhaltenen Umfang zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Darüber hinaus macht er geltend, sein Jahresverdienst im ganzen entspreche nicht der Bemessungsgrundlage; der Vergleich müsse jeweils für ein Jahr, nicht für einzelne Monate angestellt werden. Das entscheidende Kriterium für die Anwendung des § 86 Abs. 2 RKG liege jedoch nicht in dem Verdienst, sondern in dem Erwerb "neuer" Kenntnisse und Fähigkeiten, woran es hier fehle.
II
Die Revision der Beklagten ist, soweit sie aufrechterhalten wird, begründet.
Der Kläger ist seit Antragstellung vermindert bergmännisch berufsfähig. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (s. SozR Nr. 15 und Nr. 20 zu RKG § 45), genügt beim ordnungsgemäßen Aufstieg eines Lehrhauers zum Hauer eine nur kurzfristige Ausübung der Tätigkeit als Hauer, um diese als "bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit", im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG ("Hauptberuf") gelten zu lassen. Es ist daher von der Hauertätigkeit als dem Hauptberuf des Klägers auszugehen. Das LSG hat zutreffend und in rechtlicher Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG 21, 282 = SozR Nr. 15 zu RKG § 45) dargelegt, daß der Kläger, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr unter Tage arbeiten darf, auf Tagesarbeiten im Bergbau, die der Hauertätigkeit noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind, nicht verwiesen werden kann, weil ihm entweder die dafür erforderlichen beruflichen Voraussetzungen fehlen oder es sich nicht um "Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" handelt. Das gilt jedenfalls für die Zeit bis zur Einführung der Lohngruppe I b über Tage (Lohnordnung für den rheinischwestfälischen Steinkohlenbergbau vom 1.Juni 1966).
Es bestehen aber Bedenken gegen die Annahme des LSG, die seit dem 3. April 1963 außerhalb des Bergbaus verrichtete Tätigkeit des Klägers lasse den Rentenanspruch auch dann unberührt, wenn mit ihr mindestens ein Entgelt erzielt werde, das seiner Rentenbemessungsgrundlage entspricht. Der Senat vermag zunächst nicht der Auffassung des LSG zu folgen, die Anwendung des § 86 Abs. 2 RKG setze voraus, daß die für die neue Tätigkeit erforderlichen "neuen Kenntnisse und Fertigkeiten" denjenigen gleichwertig seien, welche der Hauptberuf erfordere. Die Vorschrift des § 86 Abs. 2 RKG ergänzt die des § 45 Abs. 2 RKG; sie enthält eine Alternative für die Verweigerung bzw. Entziehung der Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit. Dem Wesen einer Alternativregelung entspricht es dabei, daß die Voraussetzungen für die Verweisung des Versicherten auf andere Tätigkeiten teilweise verschärft, teilweise gemildert werden. Die Verweisung nach § 45 Abs. 2 RKG setzt voraus, daß es sich bei der Verweisungstätigkeit um die Arbeit in einem knappschaftlich versicherten Betrieb handelt, daß sie im Vergleich zum Hauptberuf im wesentlichen gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und daß sie dem Hauptberuf im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist. Nach § 86 Abs. 2 RKG wird dagegen eine im Vergleich zu § 45 Abs. 2 RKG wirtschaftlich bessere Stellung des Versicherten vorausgesetzt; es genügt nicht, daß seine neue Tätigkeit dem Hauptberuf noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist, sondern der Versicherte muß darüber hinaus mit ihr mindestens ein Entgelt erwerben, das seiner persönlichen Bemessungsgrundlage, also etwa seinem "angepaßten" früheren Durchschnittsverdienst, entspricht. Mit Rücksicht auf diese wirtschaftliche Besserstellung wird in § 86 Abs. 2 RKG auf das Erfordernis knappschaftlicher Versicherung verzichtet; es genügt, daß es sich um eine überhaupt versicherungspflichtige Beschäftigung handelt. Die weitere Verweisungsvoraussetzung des § 45 Abs. 2 RKG schließlich ist in § 86 Abs. 2 RKG entsprechend der anderen Situation - dort Verweisung auf eine mögliche Tätigkeit im Bergbau, hier auf eine tatsächlich ausgeübte Beschäftigung auch außerhalb des Bergbaus - völlig verändert. Es kommt hier allein darauf an, daß "neue Kenntnisse und Fertigkeiten" - d.h. "andere" als sie der bergmännische Hauptberuf voraussetzt - verwertet werden, nicht aber darauf, wie hoch sie im Vergleich zur bisherigen bergmännischen Tätigkeit qualitativ zu bewerten sind. Abgesehen davon, daß ein solcher Vergleich außerhalb des Kreises der im Bergbau üblichen Tätigkeiten für die Träger der knappschaftlichen Rentenversicherung schwierig sein würde, ist auch kein Bedürfnis für eine solche, im Gesetz nicht ausgesprochene, Einschränkung zu erkennen. Wie der Senat nämlich bereits entschieden hat, kommen bei Anwendung des § 86 Abs. 2 RKG nur solche Kenntnisse und Fertigkeiten in Betracht, die der Versicherte - etwa durch ein Lehr- oder Anlernverhältnis, eine Umschulung oder eine längere betriebliche Einweisung und Einarbeitung - erworben hat (s. SozR Nr. 4 zu RKG § 86), so daß Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters, die nach allenfalls kurzer Einweisung und Einarbeitung von jedermann verrichtet werden können, ohnehin ausscheiden. Auch läßt § 86 Abs. 2 Satz 2 RKG, wonach es genügt, daß der Versicherte auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten "fähig ist", in einem knappschaftlich versicherten Betrieb ein entsprechendes Entgelt zu erwerben, erkennen, daß es hier auf das Erfordernis "gleichwertiger" Kenntnisse und Fähigkeiten nicht ankommen soll, da diese Vorschrift sonst neben § 45 Abs. 2 RKG überflüssig wäre.
Das LSG ist nun der Auffassung, eine Anlernzeit von etwa drei Monaten, sei zu kurz, um darin "neue Kenntnisse und Fertigkeiten" i.S. von § 86 Abs. 2 RKG zu erwerben; es schließt das daraus, daß man schon bei der Verweisung im Rahmen des § 45 Abs. 2 RKG dem Versicherten eine Einarbeitungszeit von dieser Dauer zumuten könne. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Es kann hier offenbleiben, ob - wofür manches spricht - eine solche Abgrenzung zwischen den Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 RKG einerseits und § 86 Abs. 2 RKG andererseits geboten ist; der Senat hätte aber erhebliche Bedenken dagegen, einen Hauer im Rahmen des § 45 Abs. 2 RKG ohne weiteres auf eine andersartige Tätigkeit zu verweisen, für deren Ausübung er erst noch eine Ausbildungszeit (betriebliche Einweisung und Einarbeitung) von drei Monaten zurücklegen müßte. Jedenfalls muß aber eine Einarbeitungszeit von drei Monaten genügen, um den Erwerb solcher "neuen Kenntnisse und Fertigkeiten" anzunehmen, wie sie für die Anwendung des § 86 Abs. 2 RKG erforderlich sind.
Für die Frage, ob der Kläger nach Beendigung seiner Einarbeitungszeit - also vom 1. Juli 1963 an - gemäß § 86 Abs. 2 RKG nicht mehr als vermindert bergmännisch berufsfähig gilt, ist daher entscheidend, ob er aus seiner neuen Tätigkeit seither ein Entgelt erwirbt, das der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage entspricht. Dazu hat das LSG keine Feststellungen getroffen. Bei der hiernach noch erforderlichen Prüfung ist die persönliche Rentenbemessungsgrundlage für jedes Jahr unter Zugrundelegung der jeweils für dieses laufende Jahr nach § 55 RKG bestimmten allgemeinen Rentenbemessungsgrundlage zu berechnen (vgl. SozR Nr. 5 zu RKG § 86). Da die persönliche Rentenbemessungsgrundlage für das Kalenderjahr errechnet wird, müssen Entgelt und Bemessungsgrundlage jeweils für diesen Zeitraum verglichen werden, nicht etwa für einzelne Monate. Der Vergleich für einzelne Monate wäre bei den meist schwankenden Bezügen zudem unpraktisch; auch soll eine Rente gemäß § 86 Abs. 2 RKG nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift nur dann entzogen werden, wenn der Versicherte einen neuen Beruf gefunden hat, der ihm zumindest für eine längere Zeit das entsprechende Entgelt einbringt. Wird die neue Tätigkeit erst von einem Zeitpunkt innerhalb eines Kalenderjahres ausgeübt, so würde es allerdings genügen, wenn schon das Entgelt für den restlichen Teil des Jahres der vollen Höhe der Bemessungsgrundlage für dieses Jahr entspricht. Da, wie bereits oben ausgeführt, nach § 86 Abs. 2 RKG - wenigstens theoretisch - eine wirtschaftliche Besserstellung im Vergleich zu § 45 Abs. 2 RKG vorausgesetzt wird, muß zudem die neue Tätigkeit dem Hauptberuf des Versicherten zumindest noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig i.S. von § 45 Abs. 2 RKG sein. Diese Einschränkung könnte in solchen Fällen von Bedeutung sein, in denen der Versicherte lange Zeiten hindurch knappschaftlich versicherte Tätigkeiten verrichtet hat, die wesentlich niedriger entlohnt wurden als sein Hauptberuf.
Da das Revisionsgericht die hiernach noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen selbst nicht treffen kann, muß das angefochtene Urteil, soweit es noch angefochten ist, aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG hat damit auch Gelegenheit, näher zu untersuchen, ob die neue Tätigkeit des Klägers tatsächlich Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert, für deren Erwerb es einer nicht nur kurzen Einweisung und Einarbeitung bedarf. Es hat sich - entsprechend seiner rechtlichen Auffassung - hierzu bisher mit der sehr dürftigen Auskunft der Firma P begnügt. Es wäre denkbar, daß in dieser Auskunft unter Einarbeitungszeit nicht nur der Zeitraum verstanden wird, in dem die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, sondern auch die Zeit, die der bereits selbständig und vollwertig arbeitende Versicherte noch benötigt, um qualitativ und quantitativ die gleiche Leistung zu erzielen wie ein erfahrener Arbeiter gleicher Art. Die Dauer einer so verstandenen Einarbeitung ließe aber keinen sicheren Schluß darauf zu, ob es sich überhaupt um den Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten handelt. Andererseits darf das einschränkende Erfordernis "neuer Kenntnisse und Fertigkeiten" nach dem sozialpolitischen Sinn und Zweck der Vorschrift des § 86 Abs. 2 RKG nicht überbewertet werden; denn im Vordergrund steht hierbei die verbesserte wirtschaftliche Situation des Versicherten.
Fundstellen