Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Versorgungsrente. Rentenanspruch. Versorgungsleiden. Zusammenhangsbeurteilung. freie Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Ein Gericht, das bei der Feststellung der Voraussetzungen für die Anerkennung einer Neurose als durch Kriegseinwirkungen hervorgerufenes Versorgungsleiden das Fehlen einer Rentenneurose der Klägerin allein auf deren Behauptungen stützt, ohne näher darzulegen, worauf die erforderliche Sachkunde beruht, mit der es eine Frage auf neurologischem Fachgebiet ohne Sachverständigenbeweis beurteilt hat, verstößt gegen sein Recht auf eine freie Beweiswürdigung.
Normenkette
BVG § 1; SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 21.02.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Februar 1967 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Die am 23. März 1906 geborene Klägerin beantragte im Juli 1960 erstmals Versorgung wegen Herz- und Kreislaufschäden, die sie sich als (ehrenamtliche) Krankenschwester im Bunkerdienst, insbesondere infolge eines schweren Fliegerangriffs auf die Stadt Dortmund am 12. März 1945, zugezogen habe. Sie sei zwar durch den Luftangriff nicht verletzt, aber doch stark (seelisch) erschüttert worden. Das Versorgungsamt Landau (Pfalz) lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 15. Dezember 1960 ab, weil die psychogene Fehlhaltung der Klägerin nicht als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) angesehen werden könne. Ihr Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Rheinland-Pfalz vom 5. Januar 1961), weil nach dem fachärztlich erhobenen objektiven Befund die Gesundheitsstörungen auf persönlichkeitseigene Faktoren zurückzuführen seien. Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) Speyer hat mit Urteil vom 21. März 1963 die Klage abgewiesen. Es ist dem im erstinstanzlichen Verfahren nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehörten Gutachter Nervenarzt Dr. M (Gutachten vom 20. Dezember 1962) gefolgt, der "eine wehrdienstliche Verursachung" des Leidens sowohl im Sinne der Entstehung als auch der richtunggebenden Verschlimmerung abgelehnt hat. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 21. Februar 1967 das erstinstanzliche Urteil sowie die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen "Psychoneurose bei funktioneller Angina pectoris vasomotorica", und ihr Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. vom 1. Juli 1960 an zu gewähren. Die Klägerin habe sich im Dienst des Luftschutzes (§ 3 Buchst. o BVG) und durch den Fliegerangriff vom 12. März 1945 eine wesentliche Verschlimmerung ihrer funktionellen Herzsensationen zugezogen. Bei der kurzfristigen Verschüttung des Bunkereingangs durch Bomben habe es sich um unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 5 Buchst. a und b BVG gehandelt. Nach den Gutachten des Neurologen Dr. M und des Internisten Dr. Sch leide die Klägerin an einer Psychoneurose mit erheblichem Krankheitswert; diese Erkrankung stehe mit dem Fliegerangriff vom 12. März 1945 in Zusammenhang und mache die Klägerin erwerbsunfähig. Wenn auch keine organischen Störungen an Herz und Kreislauf vorlägen (so Prof. Dr. P), so beständen doch psychogene Reaktionen, wenn sie auch keinen organischen Befund hinterlassen hätten. Es handele sich um eine echte Gesundheitsstörung, keinesfalls um eine wunsch- und zweckbedingte Rentenneurose. Das LSG hat sich schließlich auch auf das Gutachten des Sachverständigenbeirats des Bundesministeriums für Arbeit zur versorgungs- und sozialmedizinischen Beurteilung der Neurose (BVBl 1960 Heft 1), auf das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 19, 275) und auf Wilke, BVG 2. Aufl. 1965 Seite 48-50, berufen.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Beklagte, das LSG habe gegen das Beweiswürdigungsrecht (§ 128 SGG) verstoßen; es habe in der Beurteilung der medizinischen Sachverständigengutachten Feststellungen getroffen, die dem Erklärungsinhalt dieser Fachgutachten nicht entsprächen. Dem Nervenfacharzt Dr. M werde unterstellt, er habe eine "echte" Gesundheitsstörung festgestellt, die zeitlich mit dem Fliegerangriff vom 12. März 1945 zusammenhänge. Im Gegenteil habe dieser Gutachter unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß sich die psychoneurotische Fehlhaltung (Psychoneurose) der Klägerin "als Aktualneurose zur Sozialneurose mit erheblichem Krankheitswert fixiert habe und nach Sachlage und medizinisch wissenschaftlicher Erfahrung weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung eine Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG sei". Schließlich habe das LSG lediglich nach den Angaben der Klägerin auf einen Vorschaden, nämlich auf eine organische Herzschädigung vor 1945 geschlossen; nach den Befundunterlagen seien hierfür keine Anhaltspunkte vorhanden.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise, das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Der Bombenangriff vom 12. März 1945 habe auf ihre körperliche und seelische Struktur eingewirkt. Das angefochtene Urteil habe zutreffend nicht die objektive Belastung - wie das insoweit fehlerhafte Gutachten des Sachverständigen Dr. M -, sondern die subjektive Belastbarkeit der Klägerin zugrunde gelegt. Im übrigen hätte das LSG sich der Auffassung des Sachverständigen Dr. M und des behandelnden Arztes Dr. U anschließen können. Denn das psychoneurotische Zustandsbild der Klägerin gehöre nicht zum Formenkreis der sogenannten Wunsch- und Begehrensneurosen, sondern habe einen echten Krankheitswert.
Der Beklagte hat die nicht zugelassene Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG); die Revision ist statthaft, weil der gerügte wesentliche Verfahrensmangel (Verletzung des Beweiswürdigungsrechts nach § 128 SGG) vorliegt.
Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gericht überschreitet die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt (SozR SGG § 128 Nr. 2). Ein wesentlicher Verfahrensmangel in der Beweiswürdigung liegt schon dann vor, wenn das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen in dem für die Entscheidung wesentlichen Punkt in den Urteilsgründen übergeht, und deshalb nicht erkennen läßt, ob es seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat (SozR SGG § 128 Nr. 8). Insbesondere überschreitet das Gericht die dem Recht der freien Beweiswürdigung gezogenen Grenzen, wenn es einem ärztlichen Gutachten einen Erklärungsinhalt entnimmt, der nach seinem klaren Wortlaut nicht in ihm enthalten ist (SozR SGG § 128 Nr. 12). Schließlich verletzt das Gericht sein Beweiswürdigungsrecht, wenn es Behauptungen eines Beteiligten ohne Nachprüfung als wahr unterstellt, obwohl diese mit der allgemeinen Erfahrung des täglichen Lebens nicht im Einklang stehen (SozR SGG § 128 Nr. 20).
Das LSG hat, gestützt auf das Gutachten des Nervenarztes Dr. M, festgestellt, daß die Klägerin seit dem Fliegerangriff vom 12. März 1945 eine Psychoneurose mit erheblichem Krankheitswert habe. Diese Feststellung ist wesentlich, weil sie den zeitlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Vorgang im Sinne des § 1 BVG und der Gesundheitsstörung bejaht. Diese Feststellung ist auch gedeckt durch die Äußerung des Sachverständigen, daß die Gesundheitsstörung der Klägerin seit dem "13." März 1945 völlige Erwerbsunfähigkeit bedinge. Der Sachverständige hat diese Gesundheitsstörung zwar nicht - wie das Gericht - als "echt" bezeichnet, aber die ärztliche objektive Feststellung, daß diese Gesundheitsstörung die Klägerin erwerbsunfähig mache, konnte das LSG bestimmen, die Bezeichnung "echt" zu gebrauchen, ohne deshalb schon die Grenze seines Rechts auf freie Beweiswürdigung zu überschreiten. Wenn aber das LSG weiter eine wunsch- und zweckbedingte Rentenneurose (echte Neurose) verneint hat, so fehlte ihm für diese Feststellung jede Stütze in den Gutachten der Sachverständigen. Dr. M hat in seinem Gutachten vom 20. Dezember 1962 zwar ausgeführt, daß die Klägerin konstitutionell eine körperlich-schwächliche Person von psycho-physisch außerordentlich sensibler Strukturierung sei, bei der entgegen aller ärztlichen Erfahrung bis auf den heutigen Tag die primären Folgen der erlittenen Angst- und Schreckzustände als akute Affektstöße ins Vegetativum noch nicht abgeklungen seien. Er ist dann aber zu der Schlußbeurteilung gekommen, daß bei der Klägerin eine Psychoneurose vorliege, die sich als Aktualneurose zur "Sozialneurose mit erheblichem Krankheitswert" fixiert habe. Nach der "Sachlage und medizinisch wissenschaftlicher Erfahrung" hat Dr. M einen Ursachenzusammenhang verneint. Daß der Sachverständige unter "Sozialneurose" eine Rentenneurose versteht, kann daraus gefolgert werden, daß nach seiner Auffassung die Klägerin den Verlust ihres verschollenen Mannes und "ebenso auch nicht das hierdurch eingetretene soziale Abgleiten auf ein ihr nicht zugemessenes niedrigeres Niveau" bis zum heutigen Tag nicht habe verwinden können. Das LSG konnte sich daher nicht auf das Gutachten des Dr. M stützen, der zunächst - entsprechend der Rechtsprechung des BSG - von der individuellen Persönlichkeit, dann aber wieder von der allgemeinen objektiven Belastbarkeit ausgegangen ist. Für die Feststellung des LSG, daß die Klägerin keinesfalls eine "wunsch- und zweckbedingte Neurose" habe, findet sich auch im hausärztlichen Zeugnis des Dr. U vom 20. September 1960 kein Anhaltspunkt. Auch die hausärztliche Bescheinigung vom 1. April 1965 betrifft einen anderen Sachverhalt; sie bescheinigte nur einen Grund zur Terminverlegung. Auch aus dem Gutachten des Prof. Dr. P vom 30. Oktober 1965 ergibt sich nichts für die Auffassung des LSG. Er hat auch von einer "seit Jahren fixierten neurotischen Fehlhaltung" gesprochen, aber unverarbeitete Verlusterlebnisse sowie mangelnde Aufgaben (Kinderlosigkeit, Fehleinschätzung des Lebensschicksals) als im Vordergrund stehend angesehen. Konnte sich aber das LSG für die Verneinung einer wunsch- und zweckbedingten Rentenneurose auf keines der vorhandenen ärztlichen Gutachten stützen, so kommt es darauf an, ob das Gericht mit wohlerwogenen und stichhaltigen Gründen über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggegangen ist, um so seine eigene Auffassung vertreten zu können (SozR SGG § 128 Nr. 2). Das LSG hat seine eigene Auffassung vom Fehlen einer Rentenneurose damit zu begründen versucht, daß es die Schilderung der Klägerin als glaubhaft übernimmt, wonach sie gegen die immer wiederkehrende Herzsensation und Depression "mit 2 Fäusten" ankämpfe. Dieser bildhaften Begründung kann indes keine Überzeugungskraft zukommen. Im übrigen sind die Herzsensationen zweifelhaft, nachdem das LSG auf Grund des Gutachtens des Prof. Dr. P festgestellt hat, daß Herz und Kreislauf ohne objektiven Befund sind. Depressionen können aber sehr wohl mit der ungünstigen wirtschaftlichen Lage in Zusammenhang stehen und mithin als Wunschneurose zu erklären sein. Das LSG hätte daher seine Feststellung vom Fehlen einer Rentenneurose nicht allein auf die Behauptung der Klägerin stützen dürfen. Es hat daher schon in dieser Hinsicht gegen das Beweiswürdigungsrecht verstoßen (SozR SGG § 128 Nr. 20). Da aber das LSG nicht dargelegt hat, worauf die erforderliche Sachkunde beruht, mit der es eine Frage auf neurologischem Fachgebiet ohne Sachverständigenbeweis beurteilt hat, hat es weiter gegen sein Recht auf freie Beweiswürdigung gefehlt (SozR SGG § 128 Nr. 45). Das LSG hat sich zwar bei dieser Beurteilung allgemein auf das Schrifttum (Schriftenreihe des BVBl. "Die Neurose" Heft 1, Bonn 1960, Wilke BVG 2. Aufl. 1965, Seite 48-50) und auf die Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 20. August 1963 (BSG 19, 275) berufen. Diese Fundstellen vermögen aber eine sachverständige Beurteilung des Einzelfalls nicht zu ersetzen.
Der vom ärztlichen Sachverständigenbeirat gebildete Ausschuß für Begutachtung der Neurose hat sich dahin ausgesprochen, daß die Frage, ob neurotische Fehlhaltungen Krankheiten im Sinne der Sozialversorgung sind, besonders schwierig zu beurteilen sei und nur von besonders erfahrenen Ärzten nach gründlicher Untersuchung des Einzelfalls entschieden werden könne. Wunsch- und Zweckreaktionen hätten niemals einen Krankheitswert. Neurosen ständen danach grundsätzlich nicht mit schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes, der kriegseigentümlichen Verhältnisse und der Gefangenschaft ursächlich zusammen. Ausgenommen seien neurologische Zustandsbilder, die frei von Wunsch- und Zwecktendenzen seien und in Anbetracht des ungewöhnlichen Ausmaßes der erlittenen Schädigungen als adäquat bezeichnet werden müßten. Als Ausnahmen bezeichnen die Sachverständigen nur Fälle schädigender Einflüsse, welche in früher Kindheit wirksam waren. Ohne eingehende ärztliche Beurteilung kann allein dieses Gutachten des Sachverständigenbeirats die Auffassung des LSG nicht stützen. Das gleiche gilt für den zitierten Wilke, weil dieser Autor sich auf Seite 48 ff auf die Schrift "Die Neurose" ausdrücklich bezieht. Auch das Urteil vom 20. August 1963, das sich - ebenso wie die Entscheidungen in BSG 8, 209 ff und 10, 209 - mit der Frage befaßt, ob neurotische oder psychogene Reaktionen noch Folgen des Wehrdienstes sind, verlangt eine besondere Prüfung von ärztlichen Sachverständigen.
Hiernach hätte das LSG nicht über die nerven- und internfachärztliche Beurteilung hinweg entscheiden dürfen, daß bei der Klägerin keine Rentenneurose, sondern eine abnorme Erlebnisreaktion frei von Wunschvorstellungen vorliege. Es hat dadurch die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten (SozR SGG § 128 Nr. 45). Wegen dieses wesentlichen Verfahrensmangels ist die Revision statthaft; sie ist begründet, weil es möglich ist, daß das angefochtene Urteil bei einer verfahrensrechtlich einwandfreien Beweiswürdigung anders ausgefallen wäre. Wegen des gerügten und mithin vorliegenden Verfahrensmangels war auf die Revision des Beklagten das angefochtene Urteil mitsamt seinen tatsächlichen Feststellungen aufzuheben. Da einwandfrei zustande gekommene Feststellungen fehlen, konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei dieser neuen Entscheidung wird das LSG auch zu beachten haben, was das BSG für die Beweiswürdigung in Neurosefällen in seinen Entscheidungen vom 7. April 1964 (SozR RVO § 1246 Nr. 38) und 1. Juli 1964 (BSG 21, 189) ausgesprochen hat.
Der Ausspruch über die außergerichtlichen Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen