Leitsatz (amtlich)
NVG § 4 Abs 3 ist für Versicherungsfälle nach dem 1956-12-31 nicht mehr anzuwenden. NVG § 4 Abs 4 und 5 sind - angepaßt an die seit dem 1957-01-01 bestehende Rechtslage - geltendes Recht. (Bestätigung von BSG 1967-05-09 1 RA 295/65 = SozR Nr 8 zu VerfolgtenG Allg; von BSG 1967-05-31 12 RJ 80/66 = SozR Nr 9 zu VerfolgtenG Allg; von BSG 1967-06-29 4 RJ 633/64 = SozR Nr 11 zu VerfolgtenG Allg; von BSG 1967-07-06 5 RKn 72/64 = SozR Nr 12 zu VerfolgtenG Allg; von BSG 1967-11-29 4 RJ 127/64 = SozR Nr 13 zu VerfolgtenG Allg; von BSG 1969-03-11 4 RJ 335/68, von BSG 1969-03-11 4 RJ 443/68).
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, § 1255 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1258 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; NVG § 4 Abs. 3 Fassung: 1949-08-22, Abs. 4 Fassung: 1949-08-22, Abs. 5 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Februar 1967 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger begehrt die Zahlung einer höheren Rente. Zu entscheiden ist, ob Zeiten, die wegen politischer Verfolgung gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Ersatzzeiten anerkannt sind, nur bei der Ermittlung der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre oder auch bei der Feststellung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage zu berücksichtigen sind.
Der im Jahre 1906 geborene Kläger ist Verfolgter im Sinne des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung ( VerfolgtenG ) vom 22. August 1949. Er ist seit dem 8. Mai 1964 erwerbsunfähig und bezieht seit Mai 1964 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Durch Bescheid vom 12. März 1965 berechnete die Beklagte die Rente vom 1. Mai 1964 an neu. Hierbei berücksichtigte sie die Verfolgungszeiten des Klägers (wegen politischer Haft und wegen anschließender Arbeitslosigkeit) in den Jahren 1933 bis 1945 als beitragslose Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO.
Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, für die angerechneten Ersatzzeiten der Verfolgung seien gemäß § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VerfolgtenG mindestens Beiträge der vierten Klasse in Ansatz zu bringen. Art. 3 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) habe die Bestimmungen des VerfolgtenG nicht außer Kraft gesetzt. Die Beklagte hat sich darauf berufen, der Kläger könne die Berechnung seiner Rente nur nach den seit dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften beanspruchen. Aus § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO ergebe sich nicht, daß diese Ersatzzeiten hinsichtlich ihrer Bewertung eine besondere Stellung einnähmen. Als entgegenstehendes Recht seien die Vorschriften des VerfolgtenG gemäß Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft getreten. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger bei der Anrechnung der von ihr anerkannten Verfolgungszeiten die höhere Vergleichsrente zu gewähren, die sich bei einer Berechnung nach § 4 Abs. 3 VerfolgtenG einerseits und nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO andererseits ergebe; es hat die Revision zugelassen.
Das LSG hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei verpflichtet, bei der Berechnung der Rente des Klägers eine Vergleichsberechnung vorzunehmen, indem sie die von ihr anerkannten Verfolgungszeiten einmal als Beitragszeiten, zum anderen als beitragslose Ersatzzeiten berücksichtige und danach die günstigere Rente gewähre. § 4 VerfolgtenG sei kein der Neuregelung entgegenstehendes Recht im Sinne des Art. 3 § 2 ArVNG. Seine Weitergeltung könne nicht auf dessen Absätze 4 und 5 beschränkt werden. Daß die Vorschrift des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG sich bei der Berechnung der Höhe der Rente ungünstiger auswirken könne als diejenige des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO, d.h. im Falle der Anrechnung als beitragslose Ersatzzeit, schließe es nicht aus, dem Grundsatz der ungeschmälerten Rechtsstellung der Verfolgten Rechnung zu tragen, was zwangsläufig zu einer Vergleichsberechnung führe. Die Rentenberechnung im vorliegenden Falle müsse auf die Weise durchgeführt werden, daß den beitragslosen Zeiten der Verfolgung weiterhin wie nach § 4 Abs. 3 VerfolgtenG Beiträge zugeordnet würden. Die Verfolgungszeiten ständen damit Beitragszeiten in den Klassen gleich, wie sie sich aus § 4 Abs. 3 VerfolgtenG ergäben. Außerdem müsse eine weitere Rentenberechnung unter Berücksichtigung der Verfolgungszeiten als beitragslose Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO erfolgen. In beiden Fällen finde diese Berechnung nach der Rentenformel des § 1255 RVO statt. Das günstigere Ergebnis der Doppelberechnung sei der Höhe der Rente des Klägers zugrunde zu legen.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO. Sie meint, § 4 Abs. 3 VerfolgtenG sei als "entgegenstehendes Recht" gemäß Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt. Den Urteilen des 4. Senats vom 29. Juni 1967 und vom 29. November 1967 sowie des 5. Senats vom 6. Juli 1967 (SozR Nr. 11, Nr. 13, Nr. 12 zu VerfolgtenG Allg.), die sich für die Weitergeltung der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG ausgesprochen hätten, vermöge sie sich nicht anzuschließen. In dem Ersatzzeitenkatalog des § 1251 RVO sei eine eindeutige gesetzliche Festlegung der versicherungsmäßigen Qualifikation dieser Tatbestände zu sehen, die für eine Heranziehung früherer Vorschriften im Sinne einer beitragsmäßigen Bewertung der Verfolgtenzeiten keinen Raum lasse. Auch die Vorschriften des § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG seien entgegenstehendes Recht im Sinne des Art. 3 § 2 ArVNG.
Die Revision meint schließlich, es entbehre der gesetzlichen Grundlage, wenn das LSG den Versicherungsträger zur Durchführung einer Vergleichsberechnung verurteilt habe. Eine solche Verpflichtung müßte im Gesetz ausdrücklich festgelegt sein.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Mannheim vom 15. März 1966 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er meint, § 4 Abs. 3 VerfolgtenG sei außer Kraft getreten, während die Absätze 4 und 5 dieser Vorschrift weiterhin "sinngemäß" Bestand hätten. Das angefochtene Urteil habe auf die bei dem Kläger vorliegenden Besonderheiten zutreffend Rücksicht genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Ansicht der Revision, bei Berechnung der Rente des Klägers seien die gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO als Ersatzzeiten anerkannten Verfolgungszeiten des Klägers nur als beitragslose Ersatzzeiten anzurechnen, vermag der Senat nicht zu folgen. Für die Ersatzzeiten der Verfolgung im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sind vielmehr - anders als für die übrigen in § 1251 Abs. 1 RVO aufgeführten Ersatzzeiten - bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage nach § 1255 RVO die Bruttoarbeitsentgelte zu berücksichtigen, die der Verfolgte wahrscheinlich ohne die Verfolgung während der Verfolgungszeiten erworben hätte, wenn diese Berücksichtigung zu einer für den Kläger günstigeren Rente führt. § 1255 a RVO i.d.F. des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 ist für die Berechnung der Rente des Klägers nicht anzuwenden, weil der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1966 eingetreten ist (Art. 5 § 3 RVÄndG).
Der Auffassung des LSG, daß bei der Berechnung der Rente des Klägers eine Vergleichsberechnung vorzunehmen ist, ist zwar grundsätzlich zuzustimmen; jedoch können den als Ersatzzeiten anerkannten Verfolgungszeiten des Klägers nicht die in § 4 Abs. 3 VerfolgtenG vorgesehenen Beitragsklassen zugrunde gelegt werden. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 31. Mai 1967 (SozR Nr. 9 zu VerfolgtenG Allg.) im Anschluß an die Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 9. Mai 1967 (SozR Nr. 8 zu VerfolgtenG Allg.) entschieden, daß § 4 Abs. 1 und 3 VerfolgtenG durch das ArVNG ersetzt und damit außer Kraft getreten ist (Art. 3 § 2 ArVNG). Der Entscheidung des 1. Senats, daß § 4 Abs. 3 VerfolgtenG außer Kraft getreten ist, soweit Renten nach den Vorschriften der RVO in der Fassung des ArVNG festzustellen sind, haben sich auch der 4. Senat in seinen Urteilen vom 29. Juni 1967 und vom 29. November 1967 sowie der 5. Senat in seinem Urteil vom 6. Juli 1967 angeschlossen (SozR Nr. 11, Nr. 13 und Nr. 12 zu VerfolgtenG Allg.). Dieser Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) steht die von der Bundesrepublik im Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 - Überleitungsvertrag - in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. März 1955 Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a (BGBl. 1955 II 301, 405, 431) übernommene, durch Zustimmungsgesetz vom 24. März 1955 (BGBl. II 213) bestätigte Verpflichtung zu angemessener Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht entgegen; denn dieser Verpflichtung wird, wie das BSG bereits ebenfalls entschieden hat, dadurch Genüge getan, daß § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG sinngemäß weiterhin anzuwenden ist (SozR Nr. 13 zu VerfolgtenG Allg.). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, sieht der Senat keinen Anlaß.
Da der Anspruch des Klägers auf Rente auf dem am 8. Mai 1964 eingetretenen Versicherungsfall der EU beruht, gilt für die Berechnung seiner Rente die Vorschrift des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG nicht, so daß sein Begehren, für die Verfolgungszeiten Beitragsklassen dieser Vorschrift gemäß anzurechnen, nicht begründet ist.
Das BSG hat aber außerdem entschieden, daß § 4 Abs. 4 und § 4 Abs. 5 VerfolgtenG weiterhin - sinngemäß, also der seit dem 1. Januar 1957 bestehenden Rechtslage angepaßt - geltendes Recht ist, so daß ein Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise neuen Rechts nicht gedeckten Schaden möglich ist. Ist glaubhaft gemacht, daß der Verfolgte während der Verfolgungszeit ein Bruttoarbeitsentgelt bezogen hätte, dessen Berücksichtigung zu einer höheren persönlichen Rentenbemessungsgrundlage führt, so ist dieses Entgelt bei der Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage zu berücksichtigen (SozR Nr. 11 und Nr. 12 VerfolgtenG Allg.). Zu Unrecht wendet die Revision sich gegen diese Rechtsprechung des BSG. Sie findet ihre Rechtfertigung in dem Grundsatz der Wiedergutmachung eines durch Verfolgungsmaßnahmen verursachten besonderen Schadens in der Sozialversicherung des Verfolgten. Dieser Grundsatz beherrscht das VerfolgtenG und das Bundesentschädigungsgesetz, und von ihm ist das Gesetz auch in den Vorschriften des am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen ArVNG nicht abgegangen. Durch das VerfolgtenG soll die Wiedergutmachung eines durch Verfolgungsmaßnahmen verursachten Schadens in der Sozialversicherung gewährleistet werden und dem Verfolgten soll für diesen besonderen Schaden ein Schadenersatz zukommen. In den Vorschriften des ArVNG fehlt eine Regelung, die den Grundgedanken der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG Rechnung trägt. Über die in § 1251 Abs. 1 RVO getroffene Ersatzzeitenregelung hinaus begründet daher der Grundsatz des Schadensausgleichs im Rahmen der Wiedergutmachung für die Verfolgten die Fortgeltung der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG über den 1. Januar 1957 hinaus.
Allerdings müssen diese Sondervorschriften sinngemäß, und zwar der durch das ArVNG geschaffenen Rechtslage angepaßt, angewandt werden. Die Arbeitsentgelte, die der Verfolgte während der Verfolgungszeit - glaubhafterweise - verdient haben würde, sind nach § 1255 RVO zu berücksichtigen, falls diese Berücksichtigung zu einer für ihn günstigeren Rentenbemessungsgrundlage führt; die Verfolgungszeit wird dadurch jedoch nicht zu einer Beitragszeit (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO), sondern bleibt eine Ersatzzeit mit deren Rechtsfolgen.
Im Ergebnis ist dem LSG darin beizutreten, daß bei der Berechnung der Rente des Klägers eine Vergleichsberechnung durchzuführen ist, die entgegen der Auffassung der Revision ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ihre ausreichende Grundlage in dem Prinzip der Wiedergutmachung für die Verfolgten findet und die sich aus der Anwendung der neuen Vorschriften des ArVNG im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der Vorschriften in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG ergibt. Das LSG hätte aber nicht von der Weitergeltung des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG ausgehen dürfen, sondern prüfen müssen, ob der Anspruch des Klägers auf eine höhere Rente aus der sinngemäßen Anwendung der Bestimmungen in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG begründet ist. Da dies nicht geschehen ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden.
Das Urteil des LSG enthält keine Feststellungen, die eine Beurteilung des Klageanspruchs gemäß § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG zuläßt. Der Senat kann daher in der Sache selbst nicht entscheiden. Dem LSG muß zunächst Gelegenheit gegeben werden, die noch erforderlichen Feststellungen zu treffen. Der Rechtsstreit ist daher gemäß § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen