Orientierungssatz
Anwendbarkeit von § 4 des Gesetzes über die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungsneuregelungsgesetzes (ArVNG):
NVG § 4 Abs 1 und 3 sind durch ArVNG Art 3 § 2 außer Kraft gesetzt worden und können deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 nicht mehr angewandt werden (vgl BSG 1967-08-30 4 RJ 317/65; BSG 1967-11-29 4 RJ 127/64).
Hingegen gilt NVG § 4 Abs 4 sinngemäß weiter und ermöglicht es, einen Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckten Schaden herbeizuführen.
Normenkette
NVG § 4 Abs. 1, 3-4; ArVNG Art. 3 § 2
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 25.10.1966) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Oktober 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Weise Zeiten einer politischen Verfolgung bei der Berechnung der Versichertenrente zu bewerten sind.
Die Klägerin erlernte von 1934 an die Kinderpflege und übte diesen Beruf bis Ende März 1938 aus. Während dieser Zeit gehörte sie der deutschen Invalidenversicherung an. Im Februar 1939 sah sie sich zur Emigration nach England gezwungen, wo sie auch heute noch lebt. Sie ist als Verfolgte des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 29. April 1965 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. August 1963 an in Höhe von damals 34,70 DM monatlich. Dabei legte sie der Rentenberechnung 104 Pflichtbeiträge der zweiten und 21 Pflichtbeiträge der dritten Beitragsklasse zugrunde, ferner 569 Versicherungswochen ohne Werteinheiten als Ersatzzeiten (6. Februar 1939 bis 31. Dezember 1949).
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, ihr unter Zugrundelegung von Werteinheiten auch für die Ersatzzeit von 1939 bis 1949 eine höhere Rente zu gewähren.
Das Sozialgericht Hamburg hat der Klage durch Urteil vom 7. März 1966 stattgegeben; es hat die Beklagte verpflichtet, für die Ersatzzeit von 569 Wochen Werteinheiten der Klasse IV gutzubringen. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 25. Oktober 1966 zurückgewiesen mit folgender Begründung: Verfolgungszeiten im Sinne des § 1251 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien auch nach dem seit 1957 geltenden Rentenrecht nicht nur als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit und bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre, sondern auch für die Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage zu berücksichtigen, und zwar so, als ob während dieser Zeiten Beiträge geleistet worden wären. Dies ergebe sich aus der Sonderstellung, die das Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 ( VerfolgtenG ) den Verfolgten eingeräumt habe. Diese Sonderstellung sei ihnen durch die Rentenversicherungsneuregelung des Jahres 1957 nicht genommen worden. Das VerfolgtenG sei Bestandteil des BEG; denn § 138 BEG, nach dem die Wiedergutmachung auf dem Gebiet der Sozialversicherung nach dem VerfolgtenG zu erfolgen habe, gelte unverändert weiter. Das VerfolgtenG haben die Verfolgten in der Rentenversicherung so gestellt, als ob sie während der Verfolgungszeit ihr bisheriges Beschäftigungsverhältnis fortgesetzt oder gar noch verbessert hätten, jedenfalls aber so, als ob sie rentenversicherungspflichtig beschäftigt geblieben und für sie Beiträge entrichtet worden wären. Dementsprechend seien bei der Errechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage die Verfolgungszeiten so zu berücksichtigen, als ob der Verfolgte während dieser Zeiten eine seiner bisherigen Tätigkeit und Ausbildung entsprechende Tätigkeit ausgeübt hätte, mindestens jedoch eine der früheren vierten Beitragsklasse in der Invalidenversicherung entsprechende Tätigkeit. - Die Anrechnung von Werteinheiten für diese Ersatzzeiten führe praktisch nicht zu einer niedrigeren Rente als es bei der Berechnungsweise der Beklagten der Fall sei, weil es bei der Anrechnung von Werteinheiten durchaus nicht bei der vierten Beitragsklasse verbleiben müsse, vielmehr bei höherem Arbeitsentgelt vor oder nach der Vertreibung höhere Beitragswerte anzurechnen seien. - Aus der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 1256 RVO sei nicht, wie zuweilen angenommen werde, herzuleiten, daß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO gegenüber der bisherigen Regelung durch das VerfolgtenG eine Änderung gebracht habe. Der Gesetzgeber des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) habe die Verfolgten nicht schlechter stellen wollen als sie vorher gestanden hätten. Durch die Regelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO seien daher die Grundsätze des VerfolgtenG für die Rentenberechnung der Verfolgten nicht verdrängt worden. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt und zu dessen Begründung ausgeführt: § 4 VerfolgtenG sei ausschließlich auf die Vorschriften ausgerichtet, welche die Berechnung der Rente nach Grund- und Steigerungsbeträgen vorgesehen hätten; er könne nicht auf die völlig andere Berechnungsart des neuen Rentenrechts übertragen werden. Die in § 1251 RVO aufgezählten Ersatzzeiten seien den Beitragszeiten nicht gleichgestellt. Ihre Aufgabe bestehe lediglich darin, bei der Rentenberechnung als Versicherungsjahre zu wirken. Insoweit hätten sie keine andere rechnerische Bedeutung als die Ausfall- und Zurechnungszeiten. Somit könnten die Ersatzzeiten nicht auf die für den Versicherten maßgebende Rentenbemessungsgrundlage einwirken; diese Wirkung sei nach der Regelung des § 1255 Abs. 1 RVO allein den Beitragszeiten vorbehalten. Hiernach stehe die im VerfolgtenG vorgesehene Berücksichtigung von Ersatztatsachen den Bestimmungen des neuen Rechts entgegen und sei gemäß Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt. - Wollte man mit dem LSG die Zeiten der Verfolgung als Beitragszeiten ansehen und damit auf die persönliche Bemessungsgrundlage wirken lassen, so bliebe unklar, aus welchem Grunde diese Zeiten in den Katalog des § 1251, nicht aber in den des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO gebracht worden seien. - Abgesehen davon sei es auch nicht gerechtfertigt, den Verfolgungszeiten Einfluß auf die persönliche Bemessungsgrundlage einzuräumen; dies führe zur Berücksichtigung fiktiver Verdienste, was unbefriedigend sei.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin pflichtet den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet; sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Unrecht auf Grund des § 4 Abs. 1 und 3 VerfolgtenG verpflichtet, für die Ersatzzeit von 1939 bis 1949 Werteinheiten entsprechend der vierten Beitragsklasse anzurechnen. Diese Vorschriften sind, wie bereits mehrere Senate des Bundessozialgerichts (BSG) übereinstimmend entschieden haben, durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden und können deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 - um einen solchen Fall handelt es sich in dem vorliegenden Rechtsstreit - nicht mehr angewandt werden (vgl. SozR Nrn. 8, 9, 11 und 12 zu VerfolgtenG All.; 4 RJ 317/65 vom 30. August 1967).
An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest; er hat sie noch im Urteil 4 RJ 127/64 vom 29. November 1967 (SozR Nr. 13 zu VerfolgtenG Allg) bestätigt, und zwar unter Auseinandersetzung mit der aus dem sogenannten Überleitungsvertrag idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a (BGBl 1955 II 301, 405, 431) hergeleiteten Gegenmeinung.
Aus dem Vorstehenden folgt indessen nicht, daß die Klage unbegründet wäre. Eine höhere als die der Klägerin von der Beklagten zugebilligte Rente - auch eine solche in Höhe der Klageforderung - kann sich nämlich aus § 4 Abs. 4 VerfolgtenG ergeben. Diese Vorschrift ist - ebenso wie Abs. 5 aaO -, wie das BSG gleichfalls in mehreren Entscheidungen aus dem VerfolgtenG innewohnenden Wiedergutmachungsgrundsatz gefolgert hat, nicht durch das ArVNG aufgehoben worden, sondern gilt sinngemäß weiter. Sie ermöglicht es, in der in den oa Urteilen Nrn. 11, 12 und 13 dargelegten Weise einen Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckten Schaden herbeizuführen.
Weil das angefochtene Urteil nicht die für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen tatsächlichen Feststellungen enthält, kann der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Das Berufungsurteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seinem abschließenden Urteil mit zu befinden haben.
Fundstellen