Leitsatz (redaktionell)
Bei einer Klage auf Rentengewährung muß das Gericht, sofern es nicht zu einer Klageabweisung gelangt, wenigstens über den Grund des Rentenanspruchs entscheiden; es darf sich nicht darauf beschränken, nur einzelne Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und im übrigen den Versicherungsträger zur Erteilung eines neuen Bescheides zu verurteilen. Ein solches Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 4 Fassung: 1953-09-03, § 123 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
1. Von einer Vorlage an den Großen Senat wird abgesehen.
2. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1956 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die am 5. November 1893 geborene und schon vor dem 1. Juli 1944 in Berlin ansässige Klägerin war bis zum 21. Mai 1947 in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtig. Vom 17. Februar 1941 an erhielt sie öffentliche Fürsorge; vom 1. Januar bis 30. Juni 1949 sowie in den Jahren 1951 bis 1953 stand sie unter der Stempelkontrolle des Arbeitsamts, wovon sie in der Zwischenzeit von Juli 1949 bis Dezember 1950 befreit war.
Im März 1954 beantragte die Klägerin Invalidenrente mit der Behauptung, seit 1. März 1954 wegen Hypertonie und Herzmuskelschwäche invalide zu sein. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 1. Juli 1954 mit der Begründung ab, die Anwartschaft sei mangels Beitragsentrichtung für das Jahr 1950 erloschen und auch durch Halbdeckung nicht erhalten.
Die Klägerin erhob hiergegen Klage beim Sozialgericht Berlin mit dem Antrag, ihr die Rente zu gewähren. Sie legte zwei Ausweiskarten von anderen Frauen vor, die in ihrer Arbeitskarte den Stempel des Arbeitsamtes haben, daß sie künftig von der Meldepflicht gemäß Verfügung vom 16. August 1948 befreit sind. Das Sozialgericht rechnete der Klägerin auch das Jahr 1950 als Ersatzzeit für die Erhaltung der Anwartschaft an und verurteilte die Beklagte durch Urteil vom 7. Juni 1955 unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Juli 1954, der Klägerin die Rente zu gewähren.
Die Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Berlin ein mit dem Antrage,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Juni 1955 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das bezeichnete Urteil mit Ausnahme der Kostenentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Klägerin überreichte eine Bescheinigung des Arbeitsamts Berlin-Nord vom 24. August 1955, wonach sie in der Zeit vom Juli 1949 bis Dezember 1950 von der Meldekontrolle befreit war. Sie beantragte Zurückweisung der Berufung.
Das LSG erließ am 26. Juni 1956 folgendes Urteil:
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Juni 1955 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin auf ihren Rentenantrag neu zu bescheiden, wobei davon auszugehen ist, daß die Anwartschaft aus den Beiträgen der Klägerin zur Rentenversicherung erhalten ist.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Das LSG ging hierbei davon aus, daß die Anwartschaft bis zum 31. Dezember 1948 erhalten sei. Für die folgenden Jahre seien zwar die notwendigen Beiträge nicht entrichtet worden, doch müßten diese Zeiten nach § 1267 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF als Ersatzzeiten angerechnet werden, da die Klägerin in ihnen aus der öffentlichen Fürsorge unterstützt worden und arbeitslos gewesen sei. Letzteres müsse trotz der Befreiung von der Meldepflicht beim Arbeitsamt auch für das Jahr 1950 gelten, da die Klägerin stets den Willen zur Arbeit gehabt habe und demnach arbeitslos gewesen sei. Da die Klägerin nicht die für die Altersrente vorgeschriebene Wartezeit von 180 Beitragsmonaten erfüllt habe, habe sie nur bei festgestellter Invalidität einen Rentenanspruch. Ob diese vorliege, sei im bisherigen Verfahren nicht festgestellt worden. Die Beklagte wende sich daher mit Recht gegen ihre Verurteilung zu einer Leistung und könne nur noch in dem sich aus der Urteilsformel ergebenden Umfang verurteilt werden. Das erscheine angemessen, schon um den Beteiligten für das weitere Verwaltungsverfahren eine klare Rechtslage zu schaffen.
Gegen das am 12. Juli 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte unter Stellung eines Antrags am 23. Juli 1956 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Sie rügt als wesentlichen Mangel des Verfahrens, daß das LSG es unterlassen habe, auf die erhobene Leistungsklage durch Leistungsurteil oder durch Zurückweisung der Berufung zu entscheiden. Der statt dessen getroffene Verpflichtungsausspruch sei unzulässig. In dem Urteilsausspruch liege in verkappter Form sogar eine Zurückverweisung an den Versicherungsträger, die ebenfalls unzulässig sei; im vorliegenden Falle führe dies zu einer reformatio in peius. Infolge mangelhafter Sachaufklärung habe das Gericht auch die Grenzen der ihm zustehenden freien Beweiswürdigung überschritten. Obwohl die Klägerin nach 1945 nur einen Monat im Frühjahr 1947 nebenher tätig gewesen sei, habe das LSG sie zu dem Personenkreis der Arbeitslosen und Arbeitswilligen gerechnet. Diese Würdigung sei unzutreffend und verstoße gegen allgemeine Denk- und Erfahrungsgesetze.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1956 den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für ein zulässiges Feststellungsurteil. Die gerügten Verfahrensmängel lägen nicht vor. Im übrigen seien Verfahrensmängel, die für denjenigen, der sich darauf berufe, keine Beschwer bedeuten, keine wesentlichen Mängel im Sinne des § 162 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Nach mündlicher Verhandlung am 22. Oktober 1959 hat der erkennende Senat folgenden Beschluß gefaßt:
Dem Großen Senat wird nach § 42 SGG folgende Frage vorgelegt:
Liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Landessozialgerichts vor, wenn dieses auf eine Klage, mit der die Verurteilung des Versicherungsträgers zu einer Rentenleistung, auf die ihrer Art nach ein Rechtsanspruch besteht, ohne Angabe der Höhe begehrt wird, den Versicherungsträger verurteilt, den Kläger neu zu bescheiden (§ 54 Abs. 1 SGG), anstatt ihn zur Leistung (§ 54 Abs. 4 SGG), sei es auch nur dem Grunde nach (§ 130 SGG), zu verurteilen?
Die Anrufung des Großen Senats soll unterbleiben, wenn sowohl der 1. wie der 8. Senat auf Anfrage erklären, daß sie an ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht mehr festhalten.
In den Gründen des Beschlusses, auf die im übrigen verwiesen wird, ist ausgeführt, daß der erkennende Senat die erhobene Verfahrensrüge wegen Verstoßes gegen § 123 SGG für begründet hält, daß er sich aber durch die Rechtsprechung des 1. und 8. Senats daran gehindert sieht, das angefochtene Urteil aufzuheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Der 1. Senat hat auf die an ihn gerichtete Frage erklärt, daß er an der dem Urteil vom 27. März 1957 (BSG 5, 60) zugrunde liegenden Auffassung weiterhin festhält. Nach diesem Urteil sind in der Rentenversicherung die Klagen, die sich gegen die Ablehnung eines Rentenantrags richten oder die Vorverlegung des Beginns der gewährten Rente begehren, in der Regel als zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklagen im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG und nicht als zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklagen im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG auszulegen. Der 8. Senat hat auf Anfrage mitgeteilt, daß er an seiner im Beschluß vom 7. März 1958 (SozR SGG § 123 Bl. Da 1 Nr. 3) vertretenen Rechtsauffassung
- "eine Verletzung des im § 123 SGG niedergelegten Grundsatzes verstößt nicht gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das das Verfahren selbst nicht berührende "materielle Prozeßrecht". Eine Rüge der Verletzung des materiellen Prozeßrechts fällt aber nicht unter die Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG".-
nicht festhält.
Angesichts dieser Äußerungen der befragten Senate hat der erkennende Senat den Beteiligten mitgeteilt, daß er beabsichtige, zunächst darüber zu entscheiden, ob die nunmehr entstandene Rechtslage eine Vorlage an den Großen Senat entsprechend dem Beschluß vom 22. Oktober 1959 erfordert, und verneinenden Falles in der Sache selbst erneut zu verhandeln und zu entscheiden. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt, daß der Senat in der Sache ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, falls die Vorlage an den Großen Senat unterbleibt.
Entscheidungsgründe
Nach dem Beschluß vom 22. Oktober 1959 sollte die Anrufung des Großen Senats unterbleiben, wenn sowohl der 1. wie der 8. Senat erklären, daß sie an ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht mehr festhalten. Eine derartige Erklärung hat nur der 8. Senat für die von ihm früher vertretene Rechtsauffassung abgegeben, während der 1. Senat an der seinem Urteil vom 27. März 1957 zugrunde liegenden Auffassung weiterhin festhalten will. Wenn es sich in beiden Fällen um dieselbe Rechtsfrage handelte, würde bei dieser Sachlage die Anrufung des Großen Senats nicht entbehrlich werden. Die Tatsache, daß die von dem erkennenden Senat beabsichtigten Abweichungen von Entscheidungen des 1. und 8. Senats verschiedene Rechtsfragen betreffen und nunmehr nur noch eine Divergenz zum 1. Senat besteht, also nur noch für eine der beiden Rechtsfragen, macht bei dem diesen Fall nicht ausdrücklich erfassenden Wortlaut des Beschlusses vom 22. Oktober 1959 eine erneute Prüfung notwendig, ob die Voraussetzungen des § 42 SGG für eine Entscheidung des Großen Senats noch gegeben sind. Dies ist nach Ansicht des erkennenden Senats nicht der Fall, weil die nach dem derzeitigen Sachstande zu treffende Entscheidung von der Verschiedenheit der Auffassung des 1. und 4. Senats über die Auslegung von Klagen gegen die Ablehnung von Rentenanträgen nicht berührt wird und daher auch keine vorherige Klärung durch den Großen Senat voraussetzt. Auch unter Zugrundelegung der Auffassung des 1. Senats, wonach es sich trotz des Leistungsbegehrens um eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage handeln würde, könnte - weil nicht die notwendigen Feststellungen für alle Anspruchsvoraussetzungen getroffen sind - die Entscheidung nur dahin lauten, daß die Revision wegen wesentlichen Verfahrensmangels statthaft ist und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung führen muß. Der erkennende Senat hat daher davon abgesehen, die Sache dem Großen Senat zur Entscheidung der verschieden beurteilten Rechtsfrage vorzulegen, weil hiervon die nach dem jetzigen Sach- und Rechtsstand in der Sache zu treffende Entscheidung nicht abhängt.
Zunächst rügt die Revision, daß das LSG über die Leistungsklage der Klägerin nicht vollständig entschieden habe und sieht darin einen Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 54 Abs. 4 und 123 SGG. Diese Rüge des Beklagten greift unabhängig davon, ob es sich um eine Aufhebungs- und Leistungsklage oder um eine Aufhebungs- und Vornahmeklage handelt, schon allein aus dem Grunde durch, weil die begehrte Rente eine Leistung ist, auf die bei Erfüllung ihrer gesetzlichen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch besteht. Über diesen von der Klägerin erhobenen Anspruch hatte das LSG nach § 123 SGG zu entscheiden; es durfte sich nicht darauf beschränken, nur einzelne Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und im übrigen die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Annahme der Anwartschaftserhaltung zu verurteilen. Ein solches Verfahren leidet, wie bereits der 3. Senat zutreffend entschieden hat (Urt. v. 25.2.1958 in SozR SGG § 130 Bl. Da 2), an einem wesentlichen Mangel. Das LSG mußte, wenn es nicht zu einer Klagabweisung kam, wenigstens über den Grund des Rentenanspruchs entscheiden. Auch wenn das LSG der vom erkennenden Senat nicht geteilten Ansicht war, die erhobene Klage sei eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG, hätte es die Pflicht gehabt, alle Anspruchsvoraussetzungen selbst zu prüfen und die notwendigen Beweise zu erheben, soweit die vorhandenen nicht ausreichen. Insbesondere gilt dies für die bisher überhaupt noch nicht geprüfte Frage der Invalidität der Klägerin. Der Beklagten ist zuzugeben, daß insoweit die Verurteilung zum Erlaß eines neuen Bescheides einer Zurückverweisung gleichkommt, wie denn auch das LSG selbst ausführt, der Rentenanspruch der Klägerin sei nur bei festgestellter Invalidität begründet; ob diese gegeben sei, sei im bisherigen Verfahren nicht festgestellt worden.
Daß mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsaktes gleichzeitig die Leistung verlangt werden kann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, schreibt das Gesetz ausdrücklich vor. Ob eine demgemäß erhobene Klage auf Gewährung einer Rente, wenn kein bestimmter Rentenbetrag eingeklagt wird, als Aufhebungs- und Verpflichtungsklage anzusehen ist, wie der 1. Senat meint, kann hier ebenso dahingestellt bleiben wie die weitergehende Frage, ob überhaupt in derartigen Fällen bei Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, eine Verpflichtungsklage zulässig ist. Der erkennende Senat neigt dazu, beide Fragen zu verneinen und Verpflichtungsklagen nur zuzulassen bei Ansprüchen auf Leistungen, auf die ihrer Art nach kein Rechtsanspruch besteht, und bei Ansprüchen, die keine Leistung zum Inhalt haben. Auf die Richtigkeit dieser Auffassung kommt es für die Entscheidung nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in Verbindung mit § 123 SGG aber nicht an. Bei einer auf Gewährung einer Rente gerichteten Klage gegen einen die Rentengewährung ablehnenden Bescheid kann sich das Gericht seiner Verpflichtung, über den erhobenen Anspruch zu entscheiden, nicht dadurch entziehen, daß es nur über eine von mehreren Anspruchsvoraussetzungen entscheidet und die Feststellung, ob auch die weiteren Voraussetzungen gegeben sind, dem Versicherungsträger überläßt. Nur wenn das LSG der Überzeugung gewesen wäre, daß die Beklagte zu Recht den Rentenantrag mangels Erhaltung der Anwartschaft abgelehnt hat, wäre es einer Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen enthoben gewesen und hätte die Klage unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils abweisen können. Dies muß gleichermaßen gelten, wenn die Klage als Aufhebungs- und Leistungsklage und wenn sie - entgegen der Ansicht des erkennenden Senats - als Aufhebungs- und Verpflichtungsklage aufgefaßt wird. Das Verfahren des LSG, das nicht über den erhobenen Anspruch, sondern nur über eine Voraussetzung dieses Anspruchs entschieden hat, verstößt somit gegen § 123 SGG und leidet an einem wesentlichen Mangel, der die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft macht.
Die zulässige Revision ist wegen dieses Mangels auch begründet, da das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn das LSG die notwendigen Feststellungen getroffen hätte und entweder die Berufung zurückgewiesen oder die Klage abgewiesen hätte. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
Da das Bundessozialgericht keine eigene Entscheidung ohne die fehlenden tatsächlichen Feststellungen treffen kann, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Über Kosten war nicht zu entscheiden.
Fundstellen