Leitsatz (amtlich)
1. Für die in RVO § 1259 Abs 3 nF und in RVO § 1260 vorgesehene Berechnung der Halbdeckung dürfen von der Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles Zeiten des Militärdienstes und einer anschließenden Kriegsgefangenschaft nicht abgesetzt werden. 2. Ein Bescheid über die Bewilligung einer Rente wird für den Versicherungsträger in dem Zeitpunkt bindend, in dem er dem Berechtigten zugeht. Dies gilt auch für die Höhe der Rente.
3. Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht auf die Gründe für die Rentenberechnung.
Leitsatz (redaktionell)
Offenbare Unrichtigkeiten, die sich ohne weiteres aus dem Inhalt des Rentenbescheides ergeben, wie zB für jedermann erkennbare einfache Rechenfehler, können berichtigt werden.
Normenkette
RVO § 1260 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1259 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1959 aufgehoben, soweit es die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger in Abänderung des Bescheides vom 1. November 1957 einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem zusätzlich noch weitere anrechnungsfähige Versicherungszeiten der Berechnung der Rente zugrunde zu legen sind, ferner hinsichtlich der Kostenentscheidung.
Die weitergehende Revision der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der ihm in allen drei Instanzen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Durch Bescheid vom 1. November 1957 hatte die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 5. August 1957 bis 28. Februar 1959 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach den §§ 1247, 1276 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Höhe von monatlich 144,80 DM bewilligt. Dabei hatte sie ihm Ausfall- und Zurechnungszeiten nach den §§ 1259, 1260 RVO angerechnet.
Mit der hiergegen erhobenen Klage begehrte der Kläger die Berücksichtigung weiterer Ausfallzeiten. Nach Überprüfung der Rentenberechnung setzte die Beklagte durch Bescheid vom 28. November 1957 die Rente auf 115,60 DM herab. Zur Begründung führte sie aus, Ausfallzeiten könnten überhaupt nicht berücksichtigt werden, weil es an der Halbdeckung nach § 1259 Abs. 2 RVO fehle. Zurechnungszeiten kämen ebenfalls nicht in Betracht, weil von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles nicht mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt seien und auch hier wiederum nicht die Halbdeckung erreicht sei. Die Berichtigung sei zulässig, weil der erste Bewilligungsbescheid noch nicht bindend geworden sei.
Vor dem Sozialgericht (SG) Schleswig beantragte der Kläger,
die Bescheide vom 1. November und 28. November 1957 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm alle nachgewiesenen Krankheits- und Arbeitslosenzeiten als Ausfallzeiten sowie auch Zurechnungszeiten anzurechnen.
Er machte geltend, die Beklagte sei an ihren Bescheid vom 1. November 1957 gebunden gewesen und hätte diesen deshalb nicht mehr zu seinen Ungunsten abändern können. Außerdem seien die Ausfall- und Zurechnungszeiten zu Recht angerechnet worden, weil die Halbdeckung vorhanden sei. Hierbei dürfe die Zeit seines Wehrdienstes vom 27. August 1940 bis 17. Juli 1946 nicht mitgezählt werden. Schließlich hätten ihm noch weitere Ausfallzeiten angerechnet werden müssen.
Das SG wies die Klage durch Urteil vom 19. August 1958 ab. Es war der Auffassung, die Beklagte habe ihren ersten Bescheid noch berichtigen dürfen. Ausfall- oder Zurechnungszeiten könnten nicht angerechnet werden, weil die hierzu erforderliche Halbdeckung nicht erreicht sei. Die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles sei nicht mindestens zur Hälfte mit Versicherungsbeiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt. Die Wehrdienstzeit könne vom Halbdeckungszeitraum nicht abgesetzt werden, da das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) vom 23. Februar 1957 eine dem früheren § 1265 Abs. 2 RVO aF entsprechende Bestimmung nicht mehr kenne.
Dagegen legte der Kläger Berufung ein. Er wiederholte sein bisheriges Vorbringen und ergänzte es dahin, daß die Beklagte bei der Berechnung der Rente noch folgende Beitrags- und Ausfallzeiten nicht berücksichtigt habe:
1. Beitragszeit vom 21. Oktober bis 28. November 1948, während der er ausweislich der zu den Versorgungsakten überreichten Arbeitsbescheinigung der Firma Peter Temming vom 22. Dezember 1948 brutto 227,90 DM verdient habe;
2. Krankheitszeiten als Ausfallzeiten
vom 12. März bis 20. Oktober 1948
vom 3. Dezember 1948 bis 7. März 1949 und
vom 6. Dezember 1955 bis 31. Januar 1956,
die sich aus bereits zu den Versorgungsakten eingereichten Krankheitsbescheinigungen der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis Steinburg sowie einer weiteren vorgelegten Bescheinigung ergäben.
Durch Urteil vom 4. Februar 1959 hob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG vom 19. August 1958 und den Bescheid vom 28. November 1957 auf und verpflichtete die Beklagte, in Abänderung des Bescheides vom 1. November 1957 einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem zusätzlich noch folgende anrechnungsfähige Versicherungszeiten der Berechnung der Rente zugrunde zu legen sind:
1. für das Jahr 1948
a) weitere sieben Monate Ausfallzeiten infolge Krankheit,
b) Beitragszeit durch Arbeitsverdienst für die Zeit vom 21. Oktober bis 28. November 1948 in Höhe von 227,90 DM brutto;
2. für die Jahre 1955 und 1956
zwei Monate Ausfallzeiten infolge Krankheit.
Es war der Auffassung, die Frage, ob die Beklagte ihren Rentenbescheid vom 1. November 1957 überhaupt habe berichtigen dürfen, brauche nicht entschieden zu werden, da der Bescheid tatsächlich nicht rechtswidrig gewesen sei. Zwar enthielten die §§ 1259 Abs. 3 und 1260 RVO keine Vorschriften darüber, daß für die danach erforderliche Berechnung der Halbdeckung die Zeiten des Wehrdienstes außer acht zu lassen seien. Der Gesetzeswortlaut könne jedoch nicht entscheidend sein, weil sich sonst widersinnige Ergebnisse einstellen würden. Eine sinngemäße Auslegung ergebe, daß der wahre Wille des Gesetzgebers dahingegangen sei, die Halbdeckung nur für Zeiten zu verlangen, die nicht Wehrdienstzeiten seien oder nach § 24 des Heimkehrergesetzes (HkG) als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit gelten. Unstreitig habe der Kläger vom Oktober 1920 (Eintritt in die Versicherung) bis zum August 1957 (Eintritt des Versicherungsfalles), also für 443 Monate, nur 189 Pflichtbeiträge statt der erforderlichen 221 geleistet. Rechne man jedoch 72 Monate für Wehrdienst ab, so blieben nur noch 371 Monate übrig, die zur Hälfte mit Beiträgen gedeckt sein müßten. Die danach erforderlichen 185 Beitragsmonate aber seien erreicht. Im Urteil ist die Revision zugelassen worden.
Gegen das ihr am 16. Juli 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10. August 1959 Revision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 4. Februar 1959 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Schleswig vom 19. August 1958 zurückzuweisen.
In der am 12. September 1959 eingegangenen Revisionsbegründung rügt die Beklagte Verletzung des § 1259 Abs. 3 und des § 1260 RVO. In diesen Vorschriften habe der Gesetzgeber seinen Willen, daß für die Berechnung der Halbdeckung der gesamte Zeitraum vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles ohne Rücksicht auf Wehrdienst oder andere Zeiten zugrunde zu legen sei, so eindeutig und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß für eine erweiternde, ergänzende oder berichtigende Auslegung kein Raum mehr sei. Beide Vorschriften über die Anrechnung von Ausfall- und Zurechnungszeiten seien Ausnahmebestimmungen, die ihrer Natur nach eng ausgelegt werden müßten. Bei der Rentenberechnung mit Elektronenrechnern seien infolge eines technischen Übertragungsfehlers die Ausfall- und Zurechnungszeiten irrtümlich angerechnet worden. Die damit unrichtige ursprüngliche Rentenberechnung hätte berichtigt werden dürfen. Selbst wenn diese Ansicht unrichtig sein sollte, so wäre doch die Rücknahme des fehlerhaften Bescheides zulässig gewesen, da er noch nicht bindend geworden sei und der Kläger daraufhin noch keine Leistungen erhalten habe, so daß das öffentliche Interesse an der gleichmäßigen Gewährleistung eines dem Gesetz entsprechenden Zustandes das Interesse des Begünstigten an dem Schutz seines Vertrauens auf den Bestand behördlicher Verfügungen überwiege.
Der Kläger und Revisionsbeklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, die Beklagte könne ihren ersten Bescheid nicht mehr zurücknehmen oder berichtigen, da sie bereits mit der Zustellung an ihn gebunden gewesen sei. Abgesehen hiervon seien ihm die Ausfall- und Zurechnungszeiten sowie die weitere Beitragszeit vom LSG auch zu Recht angerechnet worden.
Im Laufe des Revisionsverfahrens hat die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 5. Februar 1960 erneut Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach den §§ 1247, 1276 Abs. 1 RVO für die Zeit vom 1. März 1959 bis 28. Februar 1961 bewilligt. Hierbei hat sie die Rente wiederum entsprechend dem Urteil des LSG berechnet.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - statthafte Revision ist nur zum Teil begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ausschließlich der Streit über die Höhe der dem Kläger für die Zeit vom 5. August 1957 bis 28. Februar 1959 zustehenden Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit. Der spätere Bescheid vom 5. Februar 1960 über die Weitergewährung dieser Rente bis zum 28. Februar 1961 kann vom Senat nicht nachgeprüft werden. Er hat den früheren Bescheid nicht etwa geändert oder ersetzt (§ 96 SGG), sondern nach Wegfall der ersten Rente gemäß § 1276 Abs. 2 Satz 1 RVO eine neue Leistung bewilligt. Ein bloßer Sachzusammenhang mit dem anfänglich erhobenen Anspruch genügt nach § 96 SGG nicht, um einen neuen Verwaltungsakt Gegenstand eines anhängigen Verfahrens werden zu lassen (BSG 10, 103, 107).
Zu Unrecht hat das LSG die Beklagte verurteilt, bei der Rentenberechnung weitere neun Monate Krankheit nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO als Ausfallzeiten zu berücksichtigen. Nach § 1259 Abs. 3 RVO werden Ausfallzeiten nur dann angerechnet, wenn die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles mindestens zur Hälfte, jedoch nicht unter 60 Monaten mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist. Von diesem Zeitraum können entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts weder Ersatzzeiten abgesetzt werden, noch kann die Halbdeckung etwa nur nach vollen Kalenderjahren berechnet werden. Eine dem § 1265 Satz 2 RVO aF entsprechende Vorschrift, wonach für die Berechnung der sog. Halbdeckung das erste und das letzte Kalenderjahr der Versicherung und die Zeiten nicht mitgezählt werden, in denen der Versicherte während des Weltkrieges dem Deutschen Reich oder einem verbündeten Staate Kriegs-, Sanitätsoder ähnliche Dienste geleistet hat, wohl aber die hierfür entrichteten Beiträge, ist vom ArVNG nicht übernommen worden. Über diese eindeutige gesetzliche Regelung kann nicht hinweggegangen werden; in ihr kommt, wie auch in anderen Vorschriften - § 1248 Abs. 3, § 1260 RVO - der Gedanke zum Ausdruck, daß die Rentenversicherung in erster Linie dem Sicherungsbedürfnis der in versicherungspflichtiger Beschäftigung stehenden Personen dient (vgl. Jantz/Zweng, Anm. 1 zu § 1259). Hiermit ist es nicht zu vereinbaren, für die Berechnung der Halbdeckung nach § 1259 Abs. 3 RVO nF weiterhin § 1265 Satz 2 RVO aF anzuwenden, zumal das neue Recht jetzt grundsätzlich auf das Erfordernis der Erhaltung der Anwartschaft verzichtet hat. Die Ansicht des LSG, anderenfalls würde sich für den Kläger ein derart unbilliges Ergebnis einstellen, daß dieses vom Gesetzgeber nicht gewollt sein könne, vermag nicht zu überzeugen. Zunächst einmal werden Kriegsteilnehmern und Heimkehrern i.S. des HkG Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RVO angerechnet, und zwar einschließlich der Zeiten einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit. Hierdurch wird bereits ein wesentlicher Ausgleich erzielt. Sodann erhalten diese Personen, wenn sie eine Gesundheitsschädigung davon getragen haben, die sich als ein Versorgungsleiden i.S. des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) darstellt, grundsätzlich eine Rente nach dem BVG. Das traf auch für den Kläger zu, der für die hier streitigen Krankheitszeiten eine Versorgungsrente bezogen hat. Es ist nicht zu erkennen, warum Krankheitszeiten, für die ein Versicherter eine Versorgungsrente erhält, unter allen Umständen zugleich Ausfallzeiten nach § 1259 RVO sein müssen. Die vom LSG angeführten Beispiele eines Versicherten, der 1940 infolge eines Arbeitsunfalles arbeitsunfähig geworden ist, und eines 1952 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Kriegsteilnehmers, der 1953 infolge der Kriegseinwirkungen erwerbsunfähig wird, können schon deshalb nicht zum Vergleich herangezogen werden, weil es sich hierbei noch um alte Versicherungsfälle handeln würde, bei denen die Renten nach altem Recht zu berechnen und nach Art. 2 §§ 31 f ArVNG umzustellen wären. Die Vorschriften der §§ 1259, 1260 RVO nF kommen nur für Versicherungsfälle in Betracht, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (vgl. BSG 7, 282, 285).
Ähnliches gilt auch für die Anerkennung von Zurechnungszeiten. Nach § 1260 RVO ist bei Versicherten, die vor Vollendung des 55. Lebensjahres berufsunfähig oder erwerbsunfähig geworden sind, bei Erfüllung bestimmter beitragsmäßiger Voraussetzungen bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die Zeit zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalles und der Vollendung des 55. Lebensjahres den zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten als Zurechnungszeit hinzuzurechnen. Diese Vorschrift ist eingefügt worden, weil nach der Einführung des Grundsatzes der individuellen Arbeitswertrente und dem Wegfall der Grundbeträge sich für den Versicherten eine sehr niedrige Rente ergeben konnte, wenn er vorzeitig berufs- oder erwerbsunfähig wird. Es stand dem Gesetzgeber frei, eine solche Vergünstigung nur unter bestimmten Voraussetzungen zu gewähren. Versicherte, die Kriegsteilnehmer waren und infolge eines Versorgungsleidens berufs- oder erwerbsunfähig geworden sind, erhalten hierfür in erster Linie eine Versorgungsrente. Es ist auch hier nicht zu erkennen, warum sie zu dieser Versorgungsrente in jedem Falle - auch ohne entsprechende Beitragsleistung - noch eine höhere Rente der Rentenversicherung bekommen müßten.
Nach den in der Revisionsinstanz nicht angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG war die Halbdeckung nicht erreicht. Einem Beitragssoll von 221 Beiträgen standen nur 189 Beiträge gegenüber. Desgleichen erfüllte der Kläger nicht die alternative Voraussetzung des § 1260 RVO, daß er von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens 36 Monate mit Beiträgen belegt hatte. Damit konnten weder Ausfall- noch Zurechnungszeiten berücksichtigt werden. Das angefochtene Urteil kann daher nicht bestehen bleiben, soweit es zur Berücksichtigung weiterer Ausfallzeiten verurteilt hat. Dem steht auch nicht, wie noch darzulegen ist, die relative Rechtskraft des Bewilligungsbescheides vom 1. November 1957 entgegen. Das noch zu erörternde Verbot der Reformatio in peius bezieht sich nur auf das Ergebnis, zu dem der angefochtene Bescheid gekommen ist, nicht aber auf die Gründe, die zur Anerkennung oder Anrechnung bestimmter Versicherungszeiten geführt haben.
Wenn demgemäß der Bescheid vom 1. November 1957 hinsichtlich der Rentenhöhe auch fehlerhaft war, da dem Kläger Ausfallund Zurechnungszeiten nicht hätten gutgebracht werden dürfen, so berechtigte dies die Beklagte indes noch nicht dazu, den Abänderungsbescheid vom 28. November 1957 zu erlassen.
Zunächst scheidet eine Berichtigung in entsprechender Anwendung des § 319 der Zivilprozeßordnung (ZPO) des § 138 SGG und des § 25 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) vom 2. November 1955 (BGBl I 202) aus, da weder ein Rechenfehler vorliegt noch eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit, die sich ohne weiteres aus dem Inhalt des Rentenbescheides ergibt. Vielmehr sind dem Kläger zu Unrecht Ausfall- und Zurechnungszeiten angerechnet worden, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen. Es handelt sich dabei um einen Berechnungsfehler und nicht um einen aus dem Inhalt des Bescheides für jedermann erkennbaren einfachen Rechenfehler.
Es fehlt jedoch auch an einer anderen Möglichkeit, den unterlaufenen Fehler wieder zu berichtigen. Wie der 3. Senat (Urteil vom 31. Januar 1961 - 3 RLw 7/60 -) und auch der erkennende Senat schon entschieden hat, ist u.a. für die Rentenversicherung der Arbeiter die Möglichkeit der Rücknahme von Anfang an fehlerhafter Bescheide zugunsten des Versicherten durch § 1300 RVO und im übrigen durch § 1744 RVO idF des SGG vom 3. September 1953 (§ 220 Nr. 18) abschließend geregelt. Danach kann gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt des Versicherungsträgers zuungunsten des Versicherten eine neue Prüfung nur unter den in § 1744 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 und Abs. 2 vorgesehenen besonderen Umständen vorgenommen werden. Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, daß diese Beschränkung der Überprüfungsmöglichkeit zuungunsten des Versicherten nur für Bescheide gilt, die nach § 77 SGG für die Beteiligten bindend sind, weil die gegen sie gegebenen Rechtsbehelfe nicht oder erfolglos eingelegt sind. Der Umkehrschluß, daß in der Sozialversicherung bei noch nicht für alle Beteiligten bindend gewordenen Verwaltungsakten die Versicherungsträger stets ihren Bescheid frei zurücknehmen dürften, ist nicht gerechtfertigt.
Nach § 1631 RVO ist in der Rentenversicherung ein schriftlicher Bescheid zu erteilen, wenn der angemeldete Anspruch anerkannt oder abgelehnt wird. Hierzu ist früher stets anerkannt gewesen, daß der Versicherungsträger an seinen formellen Bewilligungsbescheid bereits dann gebunden war, wenn er dem Anspruchsberechtigten zugegangen war (vgl. u.a. die RevE Nr. 186, AN 1892, 133; Nr. 264, AN 1893, 111 und Nr. 673, AN 1898, 393; EuM 20, 170; GE Nr. 3346, AN 1929, 44; Hanow/Lehmann, Komm. zur RVO, 4. Aufl. § 1631 Anm. 3; RVO-Mitgl. - Komm. 2. Aufl. § 1583 Anm. 3 h und insbesondere für den heutigen Rechtszustand Koch/Hartmann, Vorbem. 5 zu § 40 AVG aF 461). Schon mit der Bescheiderteilung erlangte der Antragsteller, sofern ihm eine Leistung zugesprochen wurde, ein Recht gegenüber dem Versicherungsträger, das dieser nicht mehr einseitig ändern konnte, da er an seine Entscheidung bereits mit der Zustellung gebunden war. Wenn auch den Bescheiden in der Renten- und Unfallversicherung heute keine erstinstanzliche Wirkung mehr zukommt, so daß sie formeller und materieller Rechtskraft fähig wären (vgl. BSG 5, 98; 7, 276), kann aus § 77 SGG jedoch nicht gefolgert werden, daß in der Unfall- und in der Rentenversicherung die Grundsätze über die Bindung des Versicherungsträgers an seinen anerkennenden Bescheid bereits mit Wirkung von der Zustellung an aufgegeben worden wären. Dagegen spricht schon, daß die Versicherungsträger ihren eigenen Bescheid nicht anfechten können. Es wurde ferner früher allgemein angenommen, daß die Einlegung eines Rechtsmittels für die Partei, die sich dessen bediente, nicht zu einer im Ergebnis ungünstigeren Entscheidung führen durfte. Nur unvermeidbare Verschlechterungen seiner Rechtsstellung mußte sich der Beschwerdeführer gefallen lassen. Wer z.B. einen früheren Beginn seiner Rente erstritt, mußte die damit möglicherweise verbundene Herabsetzung seiner Rente, infolge zeitlicher Verschiebung des Versicherungsfalles in Kauf nehmen. Damit war für das Streitverfahren in der Unfall- und in der Rentenversicherung grundsätzlich ein dem § 331 Strafprozeßordnung (StPO) entsprechendes Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot) anerkannt. Dieses sollte durch das SGG ersichtlich nicht beseitigt werden. Dementsprechend bestimmt § 24 VerwVG, nachdem er in seinem ersten Absatz die gleiche Regelung wie § 77 sgg getroffen hat, in Abs. 2, daß die Bindung der Verwaltungsbehörden mit der Zustellung oder dem Zugang des Bescheides eintritt. Er muß damit als Ausdruck eines auch im Recht der Sozialversicherung geltenden allgemeinen Grundsatzes anerkannt werden (ebenso Haueisen, DVBl 1960, 914, 917; Peters/Sautter/Wolff § 77 SGG Anm. 3 und 5).
Allerdings kann die Anfechtung eines Rentenbescheides nicht jede Verschlechterung zu Ungunsten des Anfechtenden überhaupt ausschließen. So, wie beim Vorliegen von Gründen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit eine Partei ihre Prozeßhandlungen widerrufen kann, worüber im anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden ist (Baumbach/Lauterbach, Grdz 1 C vor § 578 ZPO, 2 RU 204/56 vom 29. März 1961), und entsprechendes neues Vorbringen sogar in der Revisionsinstanz noch zu berücksichtigen ist (Baumbach/Lauterbach, § 561 ZPO Anm. 3 C, BVerwG NJW 1960, 20207), muß auch der Versicherungsträger u.U. zu einer Neuprüfung bereits vor dem Eintritt der formellen Unanfechtbarkeit seines Bescheides befugt sein. Unter welchen Voraussetzungen dies zulässig ist, kann hier dahingestellt bleiben. Weder bei Anlegung des strengen Maßstabes des § 1744 RVO für eine neue Prüfung bindender Verwaltungsakte noch bei entsprechender Anwendung des § 41 VerwVG könnte der Bescheid vom 1. November 1957 zuungunsten des Klägers geändert werden. Der Kläger hat den Bescheid nicht durch falsche Angaben erschlichen, und selbst wenn § 41 VerwVG entsprechend anzuwenden wäre, würde dessen Voraussetzung nicht gegeben sein, da die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt der Bescheiderteilung nicht außer Zweifel steht.
Nach alledem mußte die Klage auf Aufhebung des Berichtigungsbescheides vom 28. November 1957 Erfolg haben. Die Beklagte durfte die Rente für die Zeit vom 5. August 1957 bis 28. Februar 1959 nicht mehr herabsetzen, nachdem diese einmal in Höhe von monatlich 144,80 DM bewilligt worden war, da ihr Bescheid für sie bindend geworden war.
Dagegen ist das Begehren des Klägers auf Berücksichtigung weiterer Ausfall- und Zurechnungszeiten, wie bereits ausgeführt, nicht begründet, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind.
Darüber hinaus kann der Kläger auch nicht verlangen, daß ihm die Beklagte noch die Beitragszeit vom 21. Oktober bis 28. November 1948 rentensteigernd anrechnet. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, hatte die Beklagte ihm ohnehin eine zu hohe Rente bewilligt. Die dafür maßgebend gewesenen Gründe nehmen jedoch in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht an der bindenden Wirkung des Bescheides teil (vgl. Hanow/Lehmann, Komm. zur RVO § 1631 Anm. 15 B, § 1583 Anm. 6b; RVO-Mitgl. Komm. § 1631 Anm. 7, Peters/Sautter/Wolff, § 141 SGG Anm. 3b; BSG 9, 196). In der Rentenversicherung erstreckt sich die Bindungswirkung jedenfalls nicht auf die maßgebend gewesenen rechtlichen Erwägungen für die bei der Rentenberechnung berücksichtigten einzelnen Versicherungszeiten, die in dem dem Rentenbescheid beigefügten Berechnungsbogen angeführt sind. Die zu Unrecht angerechneten Ausfall- und Zurechnungszeiten haben zu einer höheren Rente geführt, als es bei einer richtigen Berechnung ohne diese Zeiten, aber unter Berücksichtigung der kurzen weiteren Beitragszeit von etwas mehr als einem Monat der Fall gewesen wäre. Mit Rücksicht hierauf kann der Kläger für die hier streitige Rente für die Zeit vom 5. August 1957 bis 28. Februar 1959 die Anrechnung dieser Beitragszeit neben den ihm zu Unrecht gutgebrachten Ausfall- und Zurechnungszeiten nicht mehr verlangen.
Nach alledem hätte von den Vorinstanzen der Klage stattgegeben werden müssen, soweit sie sich gegen den Berichtigungsbescheid vom 28. November 1957 richtete; dagegen hätte sie erfolglos bleiben müssen, soweit der Kläger die rentensteigernde Anrechnung weiterer Ausfalls- und Beitragszeiten begehrte. Auf die Revision der Beklagten war daher wie geschehen zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen