Leitsatz (amtlich)

Die in Anwendung des Abk Österreich SV vom 1951-04-21 durch bindend gewordenen Bescheid festgestellte deutsche Teilrente kann zuungunsten des Versicherten geändert werden, wenn nachträglich weitere österreichische Versicherungszeiten angerechnet worden sind und sich dadurch eine Änderung im Verhältnis der deutschen zu den österreichischen Versicherungszeiten ergeben hat (vergleiche BSG 1971-05-26 5/12 RJ 270/68= SozR Nr 2 zu Art 18 Abk Österreich).

Zur Berichtigung eines solchen Rentenbescheides wegen offenbarer Unrichtigkeit, wenn bei der Berechnung der deutschen Versicherungslast österreichische Versicherungszeiten (hier: 431 Monate) und deutsche Versicherungszeiten (hier: 63 Monate) vom deutschen Rentenversicherungsträger versehentlich vertauscht wurden und die deutsche Teilrente hierdurch erkennbar zu hoch festgestellt worden ist.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 138 Fassung: 1953-09-03; SVAbk AUT Art. 18 Fassung: 1951-04-21

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. Juni 1968 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt zur Änderung eines bindend gewordenen Rentenbescheides zuungunsten des Klägers berechtigt war. Die Beklagte hat die Rente gekürzt; Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - vom 8. März 1965, des Landessozialgerichts - LSG - vom 5. Juni 1968). In dem Urteil des Berufungsgerichts sind die folgenden, nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen getroffen: Der Kläger ist österreichischer Staatsangehöriger, er war zeitweilig auch in Deutschland versicherungspflichtig tätig. Mit Bescheid vom 18. Juni 1954 bewilligte ihm die Beklagte vom 1. Oktober 1953 an eine Invalidenrente nach § 1253 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF i. V. m. Abschnitt IV des Abkommens über Sozialversicherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vom 21. April 1951 (BGBl II 317). In dem Bescheid sind die Zeiten der deutschen - 63 Monate - und der österreichischen Versicherungslast - 431 Monate - versehentlich vertauscht. Der Berechnung der deutschen Teilrente wurde hiernach irrtümlich eine deutsche Versicherungszeit von 431 Monaten zugrunde gelegt und die Rente deshalb zu hoch festgestellt. Vom österreichischen Versicherungsträger erhielt der Kläger dagegen eine richtig berechnete Rente (431 österreichische, 63 deutsche Beitragsmonate). Aufgrund der 8. Novelle zum Allgemeinen Österreichischen Sozialversicherungsgesetz wurde die österreichische Rente für die Zeit vom 1. Januar 1961 an neu berechnet. Durch zusätzliche Anrechnung weiterer österreichischer Zeiten ergab sich eine Erhöhung des österreichischen Leistungsanteils von bisher 87 auf 89 %. Anläßlich dieser Änderung stellte auch die Beklagte (Bescheid vom 1. Juni 1962) die deutsche Teilrente für die Zeit vom 1. Januar 1961 an neu fest. Es wurden die neu hinzugetretenen österreichischen Versicherungszeiten berücksichtigt, zudem korrigierte man den im Erstbescheid enthaltenen Berechnungsfehler. Der bisherige deutsche Rentenzahlbetrag verminderte sich dadurch von Januar 1962 an von 80,50 DM auf 31,60 DM monatlich. Auf die Rückforderung der Überzahlung für die Jahre 1953 bis Ende 1960 wurde verzichtet (Bescheid vom 2. November 1965). Für die Folgezeit wurde von einer Rückzahlung weiterer 960,- DM insoweit abgesehen, als Nachzahlungen für diesen Zeitraum nicht anfielen (Bescheid vom 1. Juni 1962 idF des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1964).

In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist ausgeführt, daß die Beklagte an der Neufeststellung der Rente durch den bindend gewordenen Erstbescheid nicht gehindert gewesen sei. Dieser sei durch das Hinzutreten weiterer österreichischer Versicherungszeiten unrichtig geworden. Eine Berichtigungsmöglichkeit ergebe sich zwar weder aus § 1744 RVO noch aus Art. 39 Abs. 2 des ersten deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens. Die insoweit bestehende Gesetzeslücke müsse aber nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts geschlossen werden. Hiernach sei ein Widerruf zulässig, wenn - wie hier - keine schutzwürdigen Interessen des Betroffenen entgegenständen. Die Neufeststellung im übrigen stelle sich als Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit dar. Die Rente sei zu hoch festgesetzt worden, weil die österreichischen und die deutschen Versicherungszeiten irrtümlich vertauscht worden seien. Diesen - im Rentenbescheid unmittelbar enthaltenen - Fehler habe der Kläger erkennen müssen, weil er den weitaus größten Teil seines Versicherungslebens in Österreich und nicht in Deutschland verbracht habe. Das richtige Zahlenverhältnis habe er überdies dem österreichischen Bescheid entnehmen können. Für die Vergangenheit habe die Beklagte inzwischen erklärt, daß sie ohne Einschränkung von jeder Rückforderung - auch für die Zeit vom 1. Januar 1961 an - absehe.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Revision. Die Anwendung des allgemeinen Verwaltungsrechts will er nicht gelten lassen. Auch die Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit komme nicht in Betracht. Die Beklagte sei daher an ihren Erstbescheid gebunden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG vom 5. Juni 1968, sowie des SG vom 8. März 1965 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1962 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1964 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, daß die Zulässigkeit der Berichtigung eines Rentenbescheides wegen einer offensichtlichen Unrichtigkeit der Rentenberechnung vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung anerkannt sei. Im übrigen sei sie berechtigt gewesen, den durch die Neufeststellung der österreichischen Versicherungslast unrichtig gewordenen Bescheid der veränderten Rechtslage anzupassen.

Die Revision hat keinen Erfolg. Die Beklagte hat die deutsche Teilrente des Klägers zu Recht neu festgesetzt. Sie war daran durch die inzwischen eingetretene Bindungswirkung (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ihres Erstbescheides nicht gehindert. - Die Berechtigung des deutschen Versicherungsträgers, die bindend festgesetzte Rente zuungunsten des Versicherten zu ändern, wenn sich in Fällen der vorliegenden Art durch nachträgliche Anrechnung weiterer österreichischer Versicherungszeiten das Verhältnis der deutschen Versicherungszeiten zur Gesamtversicherungszeit verschiebt, hat das BSG bereits ausgesprochen (vgl. Urteil vom 26. Mai 1971 - 5/12 RJ 270/68). Von dem dort gewonnenen Ergebnis abzuweichen, sieht der erkennende Senat nach eigener Prüfung der Rechtslage keinen Anlaß. Zwar fehlt es insoweit an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Dies deutet jedoch nicht auf ein Verbot der Berichtigung zuungunsten des Versicherten hin, vielmehr liegt insoweit eine Lücke im Gesetz vor, die der Ausfüllung durch Richterrecht bedarf (vgl. hierzu BSG aaO mit ausführlicher Begründung, der sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung anschließt). Die sinnentsprechende Auslegung des Gesetzes führt zu dem hier - und auch vom BSG aaO - gewonnenen Ergebnis. In diesem Zusammenhang ist von dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers auszugehen, wie er sich nach den Rechtsgrundsätzen, die für vergleichbare Tatbestände geschaffen worden sind, darstellt (vgl. hierzu insbesondere BSG 20, 293; SozR Nr. 40 zu § 1246 RVO). Das erste deutsch-österreichische Sozialversicherungsabkommen sieht eine uneingeschränkte Anrechnung der in beiden Staaten zu berücksichtigenden Versicherungszeiten vor in dem Sinne, daß jeder Staat für seine Versicherungslast aufzukommen hat. Die nachträgliche Anrechnung weiterer Versicherungszeiten in dem einen Land unter Ausschluß der Möglichkeit des anderen Landes, eine Anpassung vorzunehmen, würde anstelle der erstrebten angemessenen Versorgung zu einer Begünstigung des Versicherten führen, die - jedenfalls teilweise - einer Doppelversorgung gleichkäme. Im deutschen Sozialversicherungsrecht werden derartige Doppelversorgungen im allgemeinen nicht gebilligt. Sie werden in der Regel dadurch vermieden, daß - trotz bindenden Verwaltungsaktes - kraft Gesetzes die eine Leistung ganz oder zum Teil entfällt oder zum Ruhen kommt (vgl. hierzu insbesondere §§ 183, 1239, 1241, 1278 ff RVO, §§ 55 ff AVG). Auch das Fehlen einer ausdrücklichen Vorschrift hat die bisherige Rechtsprechung an der Verhütung einer - vom Gesetzgeber nicht gewollten - Doppelversorgung nicht gehindert (vgl. BSG 20, 293). Der Versichertengemeinschaft soll in solchen Fällen keine Leistung aufgebürdet werden, die mit der materiellen Rechtslage in Widerspruch steht. Dieser Gedanke mag bei der Normierung einer weiteren Durchbrechung der Bindungswirkung des § 77 SGG - der Vorschrift des § 1268 Abs. 4 Satz 2 RVO - eine Rolle gespielt haben. Er hat seinen Niederschlag auch in der Entscheidung des BSG vom 12. November 1969 - vgl. SozR Nr. 2 zu § 1270 RVO = Nr. 36 zu § 75 SGG - gefunden. Dort ist ua ausgeführt, daß - trotz Fehlens einer ausdrücklichen Vorschrift - zur Vermeidung einer überhöhten Gesamtleistung durch den Versicherungsträger beim Hinzutreten eines weiteren Berechtigten eine Abänderung bereits bindend gewordener Bescheide zum Nachteil der übrigen Hinterbliebenen möglich sein muß. - Das erste deutsch-österreichische Sozialversicherungsabkommen geht ebenfalls - wie bereits dargelegt - in seiner Grundkonzeption davon aus, daß eine mehrfache Anrechnung von Versicherungszeiten zu unterbleiben habe. Dies wird weiter deutlich dadurch, daß Art. 20 i. V. m. Art. 18 des Abkommens - ebenso übrigens wie Art. 28 Abs. 1 g EWG-Verordnung Nr. 3 - eine Neufeststellung der nach den Rechtsvorschriften des einen Staates festgestellten Leistung vorsieht, wenn später erst die Voraussetzungen für die Leistungspflicht des anderen Staates erfüllt sind. Damit wird dem Grundsatz Ausdruck verliehen, daß die gesetzmäßige Verteilung der Versicherungslast zwischen den Staaten der Bindungswirkung innerstaatlicher Leistungsbescheide vorzugehen hat und in Verwirklichung dieses Grundsatzes auch bereits bindend festgestellte Leistungen zuungunsten des Berechtigten geändert werden können. Dem trägt für Fälle der vorliegenden Art die Neufassung des deutsch-österreichischen Abkommens vom 22. Dezember 1966 Rechnung, die ausdrücklich eine Neufeststellung auch bei Änderungen in der Verteilung der Versicherungslast ermöglicht (Art. 30 Abs. 3 dieses Abkommens). Zwar ist dem revidierten Abkommen insoweit keine ausdrückliche Rückwirkung beigelegt worden. Dem kommt jedoch keine entscheidende Bedeutung zu. Diese Regelung beruht nicht auf einem neuen, erst für die Zukunft geltenden Gedanken, der sich etwa aufgrund einer Änderung der Sachlage ergeben hätte und damit auch nur für diese Bedeutung haben könnte. Sie stellt vielmehr die weitere Ausfüllung des in seinen Grundzügen bereits vorhandenen und in dem früheren Abkommen niedergelegten gesetzgeberischen Willens dar. Damit ist ausdrücklich gesagt, wie der Gesetzgeber eine derartige Sachlage geregelt sehen will und wie er sie - wäre sie beim Abschluß des ersten Abkommens bereits bedacht worden - auch geregelt hätte. Dem hat die Beklagte Rechnung getragen, die von ihr vorgenommene Anpassung der deutschen Teilrente ist nicht rechtswidrig. Hiernach bedarf es keiner weiteren Erörterung darüber, ob - wie in der Entscheidung des BSG vom 26. Mai 1971 (Az.: 5/12 RJ 270/68) dargelegt ist - hier die Anwendung des allgemeinen Verwaltungsrechts in Betracht kommen und zu demselben Ergebnis führen könnte. - Auch die weitere Frage, ob der Erstbescheid der Beklagten mit einem Änderungsvorbehalt oder gar einer Bedingung versehen war - immerhin war die Höhe der deutschen Teilleistung in dem Bescheid deutlich erkennbar von dem Verhältnis der deutschen Versicherungszeit zur Gesamtversicherungszeit abhängig gemacht -, kann offen bleiben.

Die Neufeststellung der Rente im übrigen ist als - zulässige - Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit zu werten. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. ua BSG 15, 96; 24, 203; SozR Nrn 36, 43, 48 zu § 77 SGG) - für die höchstrichterliche Rechtsprechung auf den übrigen Rechtsgebieten gilt entsprechendes - können Schreib- oder Rechenfehler sowie ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in Verwaltungsakten in entsprechender Anwendung der für Urteile geltenden Regelung (vgl. § 138 SGG) trotz eingetretener Bindungswirkung berichtigt werden. Eine solche Unrichtigkeit liegt hier vor. In dem Rentenbescheid sind die österreichischen und die deutschen Versicherungszeiten versehentlich vertauscht worden. Dabei handelt es sich nicht um einen Fehler in der Willensbildung, es sind nicht etwa falsche Überlegungen hinsichtlich der Aufteilung der Versicherungslast angestellt worden. Es liegt vielmehr ein Fehler im Ausdruck des Willens vor, der weder auf einer unrichtigen Tatsachenwertung noch einem Rechtsirrtum beruht, sondern eher als ein Verschreiben zu werten ist. Diese einem mechanischen Fehler gleichzuachtende Unrichtigkeit war von Anfang an offenbar im Sinne des § 138 SGG. Sie ergibt sich für jeden verständigen Leser unmittelbar aus dem Bescheid in Verbindung mit dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt. Insbesondere der Kläger, der nur wenige Jahre in Deutschland, überwiegend aber in Österreich beschäftigt war, mußte ohne weiteres erkennen, daß die deutschen Zeiten nicht 87 % seines Gesamtversicherungslebens ausmachen konnten und daß damit auch die errechnete deutsche Versicherungslast unrichtig war. Es ist nicht erforderlich, daß der Grund des Fehlers eindeutig zu erkennen ist (vgl. SozR Nr. 36 zu § 77 SGG). Hiernach kann offen bleiben, ob der späteren Verdeutlichung des Fehlers - hier durch den Bescheid des österreichischen Versicherungsträgers - in Fällen dieser Art eine Bedeutung zukommen kann. Das Recht der Beklagten auf Berichtigung entfällt nicht deshalb, weil der Kläger etwa auf die Richtigkeit seines Bescheides und dessen Fortbestand vertrauen durfte. Im Falle einer offenbaren Unrichtigkeit ist für einen solchen Vertrauensschutz in der Regel kein Raum. Einer Entscheidung darüber, ob das Berichtigungsrecht verwirkt werden kann - vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 48 zu § 77 SGG - bedarf es nicht. Insoweit reicht bloßer Zeitablauf nicht aus, es hätte vielmehr eines Verhaltens der Beklagten bedurft, das geeignet sein könnte, die spätere Berichtigung als "venire contra factum proprium" zu werten. Insoweit geben die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen jedoch keinen Anhalt.

Der Kläger wendet sich auch gegen den im Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 9. März 1964 enthaltenen Vorbehalt, die vom 1. Januar 1961 an zu Unrecht gezahlten Leistungen zurückzufordern, falls der Kläger für diese Zeit eine Nachzahlung erhalte. Ob insoweit überhaupt ein Rechtsschutzinteresse bestanden hat, kann offen bleiben. Aus den vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen ergibt sich, daß die Beklagte zwischenzeitlich auf jede Rückforderung verzichtet hat. Die Auffassung des LSG, damit sei dieser Vorbehalt entfallen, ist nicht zu beanstanden, so daß auch insoweit die Klage zu Recht abgewiesen worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669840

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