Leitsatz (amtlich)
Ein Kind, das vom Großvater in seinen Haushalt aufgenommen ist und laufend versorgt wird, gilt unbeschadet der familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen (BGB §§ 1601 ff) und unabhängig davon, ob es elternlos ist, als Pflegekind iS des KGG § 2 Abs 1 S 3 vom 1954-11-13 (BGBl 1, 1954 333) idF des KGEG vom 1955-12-23 (BGBl 1 1955, 841).
Normenkette
BGB § 1601 Fassung: 1896-08-18; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1955-12-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Oktober 1956 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der Kläger, ein gewerblicher Arbeitnehmer, hatte zu zwei eigenen ehelichen Kindern unter 18 Jahren mit Zustimmung des Jugendamts seinen Enkel R St, geboren am 10. Dezember 1951, in seinen Haushalt aufgenommen. Dieser ist das uneheliche Kind einer Tochter, die sich nach auswärts verheiratet hat und über persönliches Einkommen nicht verfügt. Der Enkel R wird laufend vom Kläger versorgt; diesem wird auch die monatliche Unterhaltsleistung von 40 DM seitens des Kindesvaters gezahlt.
Im Mai 1955 beantragte der Kläger bei der beklagten Familienausgleichskasse, ihm Kindergeld nach dem Kindergeldgesetz (KGG) zu gewähren. Mit Bescheid vom 11. August 1955 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab; der Kläger unterhalte den Enkel Rainer auf Grund des nahen Verwandtschaftsverhältnisses Großvater zu Enkel, nicht aber auf Grund eines Pflegekindschaftsverhältnisses. Auf Klage hiergegen hob das Sozialgericht Koblenz mit Urteil vom 3. Januar 1956 den Bescheid der Beklagten vom 11. August 1955 auf und verurteilte sie, dem Kläger für den am 10. Dezember 1951 geborenen R St Kindergeld zu gewähren. Der Enkel sei als Pflegekind des Klägers anzuerkennen; weder ihre Verwandtschaft noch die Tatsache, daß das Kind nicht elternlos sei, ständen dem entgegen.
Die Beklagte legte Berufung ein. Das Sozialgericht habe nicht beachtet, daß zwischen Großvater und Enkelkind ein familienrechtliches Band bestehe, das notwendigerweise die Knüpfung eines familienartigen Bandes, wie das Pflegekindschaftsverhältnis voraussetze, ausschließe. Mit Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Oktober 1956 wurde das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht ging zunächst davon aus, daß die im KGG enthaltene (steuerrechtliche) Begriffsbestimmung zwar auf engere persönliche Beziehungen zwischen "Pfleger und Pflegekind" von familienartigen Charakter abstelle. Von einem Pflegekindschaftsverhältnis könne aber nicht die Rede sein, wenn familienrechtlich bereits gesetzliche Bindungen zueinander beständen. Hier verwehre es das familienrechtliche Band der Verwandtschaft zwischen unterhaltspflichtigem Großvater und unterhaltsberechtigtem Enkel, von der nur freiwilligen Grundlage eines Pflegeverhältnisses auszugehen. Das Landessozialgericht verneinte die Pflegekindeigenschaft weiter deswegen, weil das Kind Rainer nicht elternlos sei, da sowohl dessen uneheliche Mutter wie der Kindesvater noch lebten.
Revision wurde zugelassen.
II Der Kläger legte gegen das Urteil, das ihm am 14. Januar 1957 zugestellt wurde, am 9. Februar 1957 Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 3. Januar 1956 zurückzuweisen.
Am 11. Februar 1957 begründete er die Revision. Für die Auslegung des Begriffs "Pflegekind" seien die Vorschriften des Einkommenssteuerrechts maßgebend, auf die das KGG ausdrücklich Bezug nehme. Nach deren Inhalt bestehe hier Pflegekindschaft, da der vom Kläger in seinen Haushalt aufgenommene Enkel dort familienartig betreut werde. Das Band der Verwandtschaft ändere nichts daran, biete vielmehr einen wichtigen Hinweis auf ein echtes Pflegekindschaftsverhältnis. Auch stehe nicht entgegen, daß der Gesetzgeber für elternlose Kinder einen zusätzlichen Tatbestand zur Auslösung des Kindergeldanspruchs geschaffen habe. Schließlich bestätige auch das Kindergeldänderungsgesetz den von Anfang an bestehenden Rechtszustand, daß Kinder, die in den Haushalt von Großeltern aufgenommen sind, als Pflegekinder gelten.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Landessozialgerichts für zutreffend. Zwischen Großvater und Enkel bestehe regelmäßig kein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne der Einkommenssteuergesetzgebung. Nur elternlose Kinder, die von Großeltern versorgt würden, hätten kraft besonderer gesetzlicher Bestimmung als Pflegekinder gegolten. Erst durch das Kindergeldänderungsgesetz sei die Pflegekindschaft auf alle Kinder erweitert worden, die von Großeltern in den Haushalt aufgenommen sind. Damit sei jedoch nicht die Klarstellung eines bestehenden Rechtszustandes, sondern eine gesetzliche Neuregelung bewirkt worden.
III Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und zulässig. Sie ist auch begründet.
Das Landessozialgericht hat bei dem Enkel des Klägers die Eigenschaft als Pflegekind zu Unrecht verneint.
Im Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils waren die Vorschriften des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze (KGÄndG) vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1061) noch nicht anzuwenden, da dieses erst mit Wirkung vom 1. Oktober 1957 in Kraft getreten und nicht mit Rückwirkung ausgestattet ist. Der Anspruch des Klägers war daher nach dem Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen (Kindergeldgesetz) vom 13. November 1954 (BGBl. I S. 333) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes (Kindergeldergänzungsgesetz - KGEG -) vom 23. Dezember 1955 (BGBl. 1 S. 841) zu beurteilen (vgl. auch BSG. in SozR. zu § 2 KGG, Bl. Aa 1 Nr. 1).
Personen, die auf Grund von § 1 des KGG in der Fassung des KGEG anspruchsberechtigt sind, erhalten bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen Kindergeld nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 a.a.O. für Pflegekinder. Der Begriff "Pflegekind" hat durch den Gesetzgeber in in § 2 Abs. 1 Satz 3 a.a.O. zwei verschiedene, selbständige Umschreibungen (Definitionen) erfahren. Als Pflegekinder gelten
a) dem 1. Halbsatz zufolge "alle Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommenssteuergesetzes in der Fassung vom 15. September 1953 (BGBl. I S. 1355)",
b) dem 2. Halbsatz zufolge "die elternlosen Kinder, die von Großeltern und Geschwistern versorgt werden".
Der Tatbestand eines Pflegekindschaftsverhältnisses nach dem 1. Halbsatz ist gemäß Nr. 146 Abs. 2 der zu § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes (EStG) erlassenen Einkommenssteuerrichtlinien für das Kalenderjahr 1953 (BStBl. 1954 I S. 77) in jedem Falle erfüllt ("... alle Pflegekinder"), wenn das Pflegekind im Haushalt der Pflegeeltern seine Heimat hat und wenn zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind ein familienartiges, auf die Dauer berechnetes Band besteht (BFH.-Urteil vom 17.12.1952-BStBl. 1953 III S. 74). Zusätzlich ist durch den 2. Halbsatz ein weiterer, an geringere Voraussetzungen gebundener Tatbestand geschaffen; er wird bereits dann erfüllt, wenn die elternlosen Kinder in den Großeltern (oder Geschwistern) ihre Versorger haben, ohne daß Aufnahme in den Haushalt und tatsächliche Gemeinschaft vorausgesetzt werden. Dem Wortlaut des Gesetzes entsprechend stehen diese zwei Tatbestände unabhängig nebeneinander; ein jeder hat eigene, jeweils an besondere Bedingungen geknüpfte Voraussetzungen. Der allgemeine Tatbestand (... "alle Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 EStG") wird nach Fassung dieser Vorschrift nicht etwa durch den folgenden privilegierten ("sowie die elternlosen Kinder ...") abgeändert oder beschränkt; für einen gegenteiligen Schluß (argumentum e contrario) gibt der gesetzliche Wortlaut keinen Anhalt. Infolgedessen bildet der Tatbestand des § 2 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbs. nicht den einzigen bei Großeltern in Betracht kommenden Fall eines Pflegekindschaftsverhältnisses. Großeltern können, wenn Eltern (oder ein Elternteil) leben, auch Pflegeeltern und somit ein Enkel Pflegekind nach dem 1. Halbs. a.a.O. sein.
IV Mithin hätte das Landessozialgericht, da nach den Feststellungen der Vorinstanz Zweifel darüber nicht bestehen, daß der Kläger den Enkel Rainer in seinen Haushalt aufgenommen hat und ihm in der Gemeinschaft seiner Familie auf nicht begrenzte Dauer laufend Unterhalt gewährt (familienartiges Band), das Pflegekindschaftsverhältnis bejahen müssen. Der Erfüllung dieses gesetzlichen Tatbestands steht weder die Tatsache der Verwandtschaft in gerader Linie (§ 1589 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) noch die familienrechtliche Regelung entgegen, daß anderweit Unterhaltsverpflichtungen aus §§ 1601 ff BGB erwachsen können. Nach diesen Vorschriften wird jedoch, was das Landessozialgericht offenbar nicht beachtete, eine Unterhaltspflicht der Großeltern sowie ein Unterhaltsanspruch des Enkels nur unter der Voraussetzung weiterer, besonderer Umstände (u.a. Bedürftigkeit, Leistungsfähigkeit, Reihenfolge) ausgelöst, die dem Familienrecht eigentümlich sind, für das Kindergeldrecht aber, das wirtschaftliche Fakten zum Ausgangspunkt nimmt, nicht gelten. Insoweit entziehen sich allein schon der verschiedenen Grundlagen und Voraussetzungen wegen, aber auch ihrem Ursprung und Wesen nach der privatrechtliche Anspruch (BGB) und der öffentlich-rechtliche Anspruch (KGG) einem Vergleich. Ebensowenig ist ein gegenteiliges Argument aus Nr. 147 der Einkommenssteuerrichtlinien (1953) abzuleiten, die zulassen, daß Enkelkinder bis zu 18 Jahren aus Billigkeitsgründen wie Kinder angesehen werden, wenn sie in den Haushalt der Großeltern aufgenommen sind und dafür ein wirtschaftliches Bedürfnis vorliegt. Wenn damit steuerrechtlich vorgesehen ist, daß ein Enkel sogar gleich einem Kinde behandelt wird, so ist für den Bereich der Kindergeldgesetzgebung nach deren Sinn und Zweck jedenfalls die Eigenschaft als Pflegekind nicht auszuschließen. Ziel des KGG ist es, denjenigen, die für drei oder mehr Kinder sorgen, durch Beihilfen, denen sowohl soziale wie wirtschaftliche Bedeutung zukommt, einen Ausgleich für die Mehrbelastung zu gewähren, die ihnen durch das Aufziehen und die Ausbildung im Vergleich zu Kinderlosen oder Kinderarmen erwächst (vgl. Goldschmidt-Andres, Die Kindergeldgesetze, 1956, Einführung, Abschn. I). Die Auffassung des Landessozialgerichts aber würde zu dem vom Gesetz nicht gedeckten Ergebnis führen, daß der Großvater eines unehelichen Kindes, der die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld erfüllt, schlechter gestellt wäre als ein Nichtverwandter beim gleichen Tatbestand. Diesbezüglich hat das Landessozialgericht den "objektivierten Willen des Gesetzgebers", wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang der gesetzlichen Vorschrift ergibt, verkannt. Dieser allein aber hat Gegenstand der richterlichen Auslegung zu sein (vgl. BSG. 6 S. 252 ff.).
Danach gilt ein Kind, das vom Großvater in seinen Haushalt aufgenommen ist und laufend versorgt wird, unbeschadet der familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen (§§ 1601 ff. BGB) und unabhängig davon, ob es elternlos ist, als Pflegekind im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG vom 13. November 1954 (BGBl. I S. 333) in der Fassung des KGEG vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S. 841). Der erkennende Senat befindet sich mit dieser Entscheidung im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG. in SozR. zu § 2 KGG Bl. Aa 1 Nr. 1 und Urteil vom 22. Juli 1960 - 3 RJ 40/58). Nach Sach- und Rechtslage brauchte nicht darauf eingegangen zu werden, welche Erwägungen und Motive etwa eine Neufassung des § 2 durch das KGÄndG vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1061), das am 1. Oktober 1957 in Kraft getreten ist, herbeigeführt haben, weil bereits in der ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift im KGG selbst die Pflegekindeigenschaft des Enkels des Klägers ihre Rechtsgrundlage hat.
V Das Urteil des Landessozialgerichts war nach alledem aufzuheben. Gleichzeitig war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Damit ist das Urteil des Sozialgerichts wiederhergestellt. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld, soweit und solange er die Voraussetzungen nach § 1 KGG erfüllt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen