Leitsatz (amtlich)
Die Nachprüfung von Rechtsfragen durch das Revisionsgericht (SGG § 162 Abs 1 Nr 1) setzt voraus, daß das angefochtene Urteil eindeutige Feststellungen tatsächlicher Art enthält (SGG § 163 Hals 1). Gibt das Urteil den Sachverhalt nur undeutlich an, fehlt es insbesondere an Tatsachen, die unter das Gesetz subsumiert werden können, so muß - auch wenn insoweit keine Rüge erhoben worden ist (SGG § 163 Halbs 2) - bei einer zugelassenen Revision das Urteil aufgehoben werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Um zu prüfen, ob mit den verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch die maßgebliche Verdiensthälfte erzielt werden kann, ist es notwendig, den Wert zu bestimmen, den die Arbeit eines nicht mehr Vollerwerbsfähigen im Verhältnis zum Wert derjenigen eines vergleichbaren, nicht behinderten Versicherten hat.
2. Zur Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Berufsunfähigkeit eines wieder beschäftigten Kriegsblinden zu beurteilen ist.
3. Bei einem Diplom-Volkswirt kommt im Hinblick auf seine berufliche Ausbildung und auf sein bisheriges Berufsleben nur eine Tätigkeit in Betracht, die dieser Vorbildung entspricht und die im öffentlichen Dienst mindestens nach Gruppe III der Tarifordnung für Angestellte vergütet wird.
4. In einem Falle, in dem über den Rentenanspruch des Versicherten erst nach dem Wiedereintritt der Berufsfähigkeit entschieden wird, können die Vorschriften über die Entziehung der Rente nicht angewandt werden.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 163 Hs. 1 Fassung: 1953-09-03; AVG § 27 Fassung: 1934-05-17; SGG § 163 Hs. 2 Fassung: 1953-09-03; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; TO A
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. September 1958 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger (geboren 1908) beansprucht eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten wegen Berufsunfähigkeit. Er ist Diplomvolkswirt. Seit 1943 ist er infolge einer im Kriege erlittenen Verwundung blind. Vor dem Kriege war er Geschäftsführer der Gauwirtschaftskammer Thüringen. Diese Tätigkeit nahm er im Anschluß an eine blindentechnische Umschulung im August 1944 wieder auf. Nach dem Zusammenbruch war er in der Wirtschaftsverwaltung der sowjetischen Besatzungszone in leitenden Stellungen (Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Referent) tätig. Im Juni 1955 flüchtete er nach Westberlin. Er bezog dort zunächst Arbeitslosenunterstützung; zeitweilig arbeitete er als Aushilfsangestellter bei einer Behörde oder erledigte für einen Bundesfachverband Honoraraufträge. Seit dem 1. Januar 1957 ist er beim Bundesministerium der Finanzen mit einer Vergütung nach Gruppe III der TO. A. angestellt. Er bearbeitet dort finanz- und wirtschaftspolitische Fragen. Dabei steht ihm eine besondere Hilfskraft für Vorlese- und Schreibarbeiten zur Verfügung.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers ab: Nach dem Ergebnis fachärztlicher Untersuchungen bestünden bei ihm eine beiderseitige Erblindung, ein leichter Verschleißrheumatismus, ein Kaskadenmagen, ein nervöser Reizbarkeitszustand mit situationsbedingten depressiven Symptomen; mit diesen Leiden sei der Kläger als Abteilungsleiter noch nicht berufsunfähig (Bescheid vom 26.11.1955).
Das Sozialgericht (SG.) Berlin bestätigte die Entscheidung der Beklagten (Urteil vom 10.10.1956).
Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hob das Urteil des SG. und den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte diese, dem Kläger einen neuen Bescheid über die Gewährung des Ruhegeldes seit dem 1. Juli 1955 zu erteilen: Der Kläger sei wegen seiner Blindheit berufsunfähig im Sinne von § 27 AVG a. F.; die Berufsunfähigkeit habe schon seit der Erblindung bestanden und sei auch während der Beschäftigung in der sowjetischen Besatzungszone stets vorhanden gewesen; anläßlich der Flucht und der damit verbundenen Arbeitsaufgabe sei sie voll in die Erscheinung getreten; dem Kläger stehe das Ruhegeld daher vom 1. Juli 1955 an zu; die Beschäftigung des Klägers seit dem 1. Januar 1957 habe an den Verhältnissen nichts geändert, er habe den Arbeitsplatz nur auf Grund des Schwerbeschädigten-Gesetzes erhalten und sei nicht annähernd eine volle Arbeitskraft; er sei ständig auf die Hilfe seiner Vorleserin angewiesen; deren Tätigkeit stehe im Vordergrund und überwiege zeitlich seine eigene Arbeit; er habe offensichtlich keine Stellung, die die volle Arbeitskraft eines Dipl. Volkswirts erfordere; die Voraussetzungen, ihm das Ruhegeld wieder zu entziehen, seien deshalb nicht gegeben (Urteil vom 5.9.1958).
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 23. September 1958 zugestellte Urteil am 18. Oktober 1958 Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung des Urteils des LSG. die Berufung gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen.
Sie begründete die Revision gleichzeitig: Das LSG. habe den Begriff der Berufsunfähigkeit verkannt und die Vorschriften in § 27 AVG a. F. und § 23 AVG n. F. fehlerhaft ausgelegt. Der Entscheidung hätte nicht der Begriff der Berufsunfähigkeit des alten Rechts, sondern der des neuen Rechts zugrunde gelegt werden müssen; der Kläger sei nicht infolge seiner Blindheit berufsunfähig; seine Arbeitsleistung habe dem ihm gezahlten Entgelt stets entsprochen und entspreche ihm auch heute; durch das ständige Angewiesensein auf fremde Hilfe sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht bis zur Berufsunfähigkeit gemindert, die Tätigkeit der Vorleserin trete gegenüber dem Kern seiner Tätigkeit - der geistigen Verarbeitung des Stoffes - weit zurück; das Schwerbeschädigten-Gesetz habe zwar die Einstellung des Klägers beim Ministerium ermöglicht, es sei aber nicht weiterhin ursächlich für sein Verbleiben in diesem Arbeitsverhältnis.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Das LSG. habe ihn mit Recht als berufsunfähig angesehen: die Tätigkeit seiner Hilfskraft könne nicht mit derjenigen einer bloßen Vorlese- und Schreibkraft verglichen werden, ohne ihre Hilfe und besondere Qualifikation sei seine Arbeit von vornherein zum Scheitern verurteilt; die Bedeutung des Schwerbeschädigten-Gesetzes dürfe nicht abgewertet werden; die Unterbringung von Kriegsblinden sei sehr schwer, wofür sein Fall der sichtbare Beweis sei; trotz besonderer Qualifikation und trotz Tätigkeit in leitender Stellung während eines Jahrzehnts habe es 1 1/2 Jahre gedauert, bis er seine jetzige Stellung gefunden habe.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Mit Recht ist das LSG. zwar davon ausgegangen, die Frage nach der Berufsunfähigkeit des Klägers sei für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 noch nach § 27 AVG a. F. zu beurteilen, nachdem der Kläger den Rentenantrag im Jahre 1955 gestellt hat und der Rechtsstreit hierüber beim Inkrafttreten des AnVNG (1.1.1957) in der Berufungsinstanz anhängig war. Die Auffassung des LSG. entspricht insoweit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG. - (vgl. BSG. 8 S. 31; 9 S. 208). Zutreffend hat das LSG. auch entschieden, für den Kläger komme im Hinblick auf seine berufliche Ausbildung als Dipl. Volkswirt und auf sein bisheriges Berufsleben nur eine Tätigkeit in Betracht, die dieser Vorbildung entspricht und die im öffentlichen Dienst mindestens nach Gruppe III der TO. A. vergütet wird. Dem LSG. ist auch darin beizustimmen, daß es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf ankomme, ob die Arbeitsfähigkeit des Klägers in einem solchen Beruf auf weniger als die Hälfte eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (§ 27 AVG a. F.). Gegen die weitere Annahme des LSG., daß dies beim Kläger der Fall sei und er als berufsunfähig angesehen werden müsse, bestehen aber Bedenken. Sie betreffen die prozessuale und die materiell-rechtliche Seite des Streitfalles.
Bei der Nachprüfung der mit der Revision angefochtenen Urteile ist das BSG. grundsätzlich an die hierin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG). Letzteres ist hier nicht der Fall; die Beklagte hat in ihrer Revisionsbegründung keine Rüge erhoben, die das ordnungsmäßige Zustandekommen der tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG. betrifft. Die bindende Wirkung des § 163 SGG setzt aber voraus, daß deutlich und erkennbar Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht vorliegen. Dabei ist es unerheblich, ob die Feststellungen im Tatbestand oder in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils enthalten sind; jedoch muß - wenn z. B. ein Umstand nur in den Entscheidungsgründen erwähnt wird - klar zu erkennen sein, ob es sich dabei um eine tatsächliche Feststellung, um ein Vorbringen der Beteiligten oder um eine richterliche Erwägung handelt (vgl. RGZ. 102 S. 328). Gibt das angefochtene Urteil den Sachverhalt nur undeutlich an - fehlt es insbesondere an Tatsachen, die unter ein Gesetz subsumiert werden können - und kann deshalb die Richtigkeit des Ergebnisses, zu dem der Vorderrichter gelangt ist, vom Revisionsgericht nicht nachgeprüft werden, so muß bei einer zugelassenen Revision das angefochtene Urteil aufgehoben werden, auch wenn in bezug auf die tatsächlichen Feststellungen keine Rüge erhoben worden ist.
Um zu prüfen, ob der Kläger mit den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch die maßgebliche Verdiensthälfte erzielen kann, ist es notwendig, den Wert zu bestimmen, den seine Arbeit im Verhältnis zum Wert derjenigen eines vergleichbaren, nicht behinderten Versicherten hat. Insoweit führt das angefochtene Urteil an sich zutreffend aus, ein regelmäßiges Einkommen, wie es der Kläger früher bezogen hat und heute wieder erhält, begründe zwar die Vermutung, daß die Arbeitsfähigkeit dem Einkommen entspreche, diese Vermutung werde aber widerlegt, wenn das Arbeitsentgelt ganz oder teilweise aus sozialem Entgegenkommen gezahlt oder wenn es nur unter besonders günstigen Umständen erzielt werde oder der Versicherte das Entgelt nur unter Hilfeleistung anderer Personen erreichen könne. Das angefochtene Urteil müßte nun - im Sinne der getroffenen Entscheidung - mit Ausführungen darüber fortfahren, welche Tatsachen es sind, die die vorgenannte Vermutung im Falle des Klägers widerlegen und bei ihm eine unter der maßgeblichen Leistungsgrenze liegende Arbeitsfähigkeit bedingen. Das LSG. führt auch eine Reihe von Gründen an, die es für das von ihm gefundene Ergebnis verwertet. Wie aber schon die Ausdrucksweise in den Urteilsgründen erkennen läßt (es werden wiederholt die Worte "wahrscheinlich" und "offensichtlich" gebraucht), handelt es sich dabei nicht um Erwägungen, denen Tatsachen und Unterlagen zugrunde liegen, sondern entweder um die Wiedergabe des klägerischen Vorbringens oder um Mutmaßungen und Annahmen des Gerichts. Dies trifft schon für den Teil des Urteils zu, in dem das LSG. geprüft hat, ob der Kläger während seiner Beschäftigung in der sowjetischen Besatzungszone berufsunfähig gewesen ist. Ob dies der Fall war oder nicht, kann indessen für die Entscheidung des Rechtsstreits dahinstehen, weil hier nur darüber zu befinden ist, ob der Kläger das Ruhegeld vom 1. Juli 1955 an beanspruchen kann. Aber auch soweit sich das angefochtene Urteil mit der Arbeitsfähigkeit des Klägers seit dieser Zeit befaßt, fehlt es an sicheren und ausreichenden Feststellungen darüber, welcher Wert seiner Arbeitsleistung zukommt und ob er damit über oder unter der Leistungsgrenze des § 27 AVG a. F. bleibt. Wenn das angefochtene Urteil hier u. a. ausführt, der Kläger habe "offensichtlich" keine Stellung, die die volle Arbeitskraft eines Dipl. Volkswirts erfordere, er sei "nicht annähernd" eine volle Arbeitskraft in dem ihm zugewiesenen Arbeitsgebiet, ein gesunder Dipl. Volkswirt könne die Arbeit des Klägers neben einer anderen Hauptaufgabe bewältigen, so handelt es sich nur um Erwägungen, denen keine Tatsachenfeststellungen zugrunde liegen, weshalb das Revisionsgericht auch die Schlußfolgerungen nicht nachprüfen kann. Auf die entscheidende Frage, in welchem Ausmaß die Arbeitsleistung des Klägers in seiner derzeitigen Stellung hinter der Leistung eines nicht behinderten Dipl. Volkswirts zurückbleibt, geben diese Erwägungen keine Antwort. Es ist nirgends gesagt, wie weit die persönliche Leistungsfähigkeit des Klägers reicht. Feststellungen hierüber können jedoch getroffen werden, weil es sich bei der gesetzlichen Verdiensthälfte, auf die es bei der Prüfung der Arbeitsfähigkeit ankommt, im allgemeinen um einen meßbaren Begriff handelt. Sie müssen auch getroffen werden, weil sich nur auf ihrer Grundlage die hier gestellte Frage nach der Berufsfähigkeit des Klägers zuverlässig beantworten läßt. Gerade wenn es um einen blinden Versicherten geht, sind klare und eindeutige Feststellungen erforderlich, weil in solchen, regelmäßig an der Grenze liegenden Fällen die Umstände besonders sorgfältig geprüft und abgewogen werden müssen. Weil das angefochtene Urteil diesem Erfordernis nicht hinreichend Rechnung trägt und den Sachverhalt nicht eindeutig erkennen läßt, muß es aufgehoben werden.
Aber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht bestehen Bedenken gegen die Rechtsauffassung des LSG., weil es den Klageanspruch unter dem Gesichtspunkt einer Entziehung der Rente geprüft hat, obwohl es sich in Wirklichkeit um einen Fall der Bewilligung einer solchen handelt. Zwar hat der Kläger ein Ruhegeld bereits 1944 von der früheren Reichsversicherungsanstalt für Angestellte erhalten. Diese Rente ist aber mit der Stillegung dieses Versicherungsträgers im Jahre 1945 weggefallen. Der Betrachtung des LSG. kann schon insoweit nicht gefolgt werden, als es annimmt, dem Kläger wäre das Ruhegeld nach dem Zusammenbruch laufend weiter gezahlt worden, wenn er sich damals nicht in der sowjetischen Besatzungszone aufgehalten hätte. Das LSG. übersieht dabei, daß die von der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte bewilligten Ruhegelder nach 1945 auch in den westlichen Besatzungszonen von den Landesversicherungsanstalten, die hier für die Aufgaben der Angestelltenversicherung einsprangen, nicht ungeprüft weiter gezahlt wurden, daß dies vielmehr regelmäßig nur nach einer Prüfung der Leistungsvoraussetzungen (insbesondere der Berufsunfähigkeit) im Einzelfall geschah. Aber auch soweit das LSG. annimmt, die tatsächliche Beschäftigung des Klägers seit dem 1. Januar 1957 könne nur Anlaß zu der Prüfung der Frage geben, ob dem Kläger ein ihm seit 1955 zustehendes Ruhegeld zu entziehen ist, trifft seine Auffassung nicht zu. Die Entziehung der Rente ist begrifflich nur gegenüber einem Rentenempfänger, also erst dann möglich, wenn ein Rentenanspruch bereits durch einen bindend gewordenen Bescheid des Versicherungsträgers oder eine rechtskräftige Entscheidung des Gerichts festgestellt worden ist; der Berechtigte muß also bereits im Genuß der Rente sein. Dies ist aber der nicht, dem die Rente erst bewilligt werden soll. In einem Falle, in dem über den Rentenanspruch des Versicherten erst nach dem (hier noch streitigen) Wiedereintritt der Berufsfähigkeit entschieden wird, können, wie schon das Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, die Vorschriften über die Entziehung der Rente nicht angewandt werden (vgl. E. 1053 AN. 1903 S. 389, EuM. Bd. 29 S. 298). Das LSG. stand vielmehr vor der Frage, ob es - von seinem Standpunkt aus gesehen - dem Kläger die Rente unbefristet wegen dauernder Berufsunfähigkeit oder nur für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum wegen einer inzwischen behobenen vorübergehenden Berufsunfähigkeit gewähren sollte. Im letzteren Fall kam es aber nicht auf eine Feststellung an, ob zwischenzeitlich in den Verhältnissen des Berechtigten eine (wesentliche) Änderung eingetreten ist, wie dies im Falle der Entziehung einer Rente verlangt wird (§ 1293 RVO a. F., § 42 AVG a. F., § 63 AVG n. F., Art. 2 § 23 AnVNG). Weil es nicht ausgeschlossen ist, daß die rechtsirrige Betrachtungsweise des LSG. das Ergebnis seiner Prüfung beeinflußt hat, muß auch aus diesem Grunde das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Gleichzeitig muß - weil der Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif ist - die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.
Bei der erneuten Erörterung des Streitfalles wird das LSG. zunächst genauere tatsächliche Feststellungen treffen müssen. Dabei wird es insbesondere klarstellen müssen, welchen Sachverhalt es hinsichtlich der derzeitigen Beschäftigung des Klägers als festgestellt ansieht und in welchem Ausmaß der Kläger dort in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Dabei wird es der Frage, welcher zeitliche Mehraufwand dem Kläger für die Aufnahme des Stoffes gegenüber seiner eigentlichen Arbeitsleistung entsteht, keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen dürfen. Käme es hierauf entscheidend an, so müßten schon aus diesem Grunde alle blinden Geistesarbeiter (Richter, Staatsanwälte, Geistliche), auch wenn sie noch im Berufsleben stehen, von vornherein als berufsunfähig angesehen werden. Diese Folgerung allgemein zu ziehen, wäre jedoch nicht gerechtfertigt. Auch wird der Wert einer auf geistigem Gebiet liegenden Arbeit regelmäßig nicht nach dem Zeitaufwand gemessen, den sie tatsächlich verursacht hat. Dagegen muß der Umstand, daß der Kläger bei seiner Arbeitsleistung auf die Mithilfe einer besonderen Vorlese- und Schreibkraft angewiesen ist, berücksichtigt werden. Er bedeutet für den Arbeitgeber eine zusätzliche finanzielle Belastung, deren Notwendigkeit den Wert der Arbeit des blinden Angestellten mindert. Die Frage, inwieweit dies der Fall ist und welchen Wert demnach die eigentliche Arbeitsleistung des Klägers besitzt, kann überschlägig in der Weise ermittelt werden, daß von dem Gehalt, das der Arbeitgeber dem Kläger nach den Merkmalen seiner Tätigkeit im öffentlichen Dienst zu zahlen hat und das dem Wert der Leistung auch eines nicht behinderten Versicherten in der betreffenden Stelle darstellt, der Betrag der Vergütung abgezogen wird, die der Arbeitgeber für eine besondere Vorlese- und Schreibkraft, wie sie für einen Blinden an dieser Stelle benötigt wird, aufwenden muß. Der sich hiernach ergebende Differenzbetrag verkörpert sodann in etwa den wirtschaftlichen Wert der eigenen Leistung des Klägers; je nachdem, ob die Differenz über oder unter der Hälfte seines Gehalts liegt, ist ein Anhalt dafür gegeben, ob er die gesetzliche Verdienstgrenze erreicht oder nicht. Das Ergebnis einer solchen oder ähnlichen Prüfung - evtl. in Verbindung mit einer nochmaligen Anhörung des Arbeitgebers - kann auch darüber Aufschluß geben, ob der Kläger in seiner Arbeitsstelle überwiegend aus fürsorgerischen Gründen und mit Rücksicht auf die Vorschriften des Schwerbeschädigten-Gesetzes weiterbeschäftigt wird und ob es dem Kläger möglich ist, auch in anderen für ihn geeigneten und seiner Vorbildung entsprechenden Stellen tätig zu sein. Sollte das LSG. bei der erneuten Erörterung des Streitfalles zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger in seiner Tätigkeit als Angestellter des Ministeriums nicht als berufsunfähig anzusehen ist, so wäre schließlich noch zu prüfen, ob er in der Zeit seit der Antragstellung bis zu seiner Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß etwa vorübergehend berufsunfähig gewesen ist. Dafür könnte der bei ihm im Jahre 1955 festgestellte nervöse Reizbarkeitszustand sprechen, der als Folge von Flucht und Stellungsverlust seine Arbeitsfähigkeit vorübergehend soweit eingeschränkt haben kann, daß eine ausreichende Arbeitsfähigkeit nicht bestand.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2391768 |
NJW 1960, 264 |