Leitsatz (redaktionell)
In einem alten Versicherungsfall, der am 1957-01-01 vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebte, ist nach ArVNG Art 2 § 44 S 1 für die Feststellung des Waisenrentenanspruchs noch das bisherige Recht maßgebend.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 44 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. September 1959 insoweit aufgehoben, als die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und über die Kosten entschieden worden ist.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. September 1957 auch insoweit aufgehoben, als es den Anspruch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 betrifft. Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in allen drei Rechtszügen nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin ist am 7. April 1945 von der damaligen Witwe M G geb. S außerehelich geboren worden.
1952 beantragte sie die Gewährung von Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres angeblichen Erzeugers, des Arbeiters J G der seit dem 5. März 1945, nachdem er zuletzt als Soldat im Osten eingesetzt war, vermißt wird. Ihre Mutter versicherte an Eides Statt, daß sie innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit, d. h. in der Zeit vom 10. Juni 1944 bis 9. Oktober 1944, nur mit J G geschlechtlich verkehrt habe.
Durch Bescheid vom 10. Juni 1954 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil der Nachweis der Erzeugerschaft des Versicherten nicht erbracht sei. Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Hamburg. Dieses vernahm als Zeugin die Postfacharbeiterin H B ferner die Großmutter der Klägerin, die damals 68 jährige A A S schließlich die Kindesmutter, die nach ihrer Wiederverheiratung jetzt K heißt.
Durch Urteil vom 6. September 1957 wurde die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 10. Juni 1954 verurteilt, an die Klägerin Waisenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ab Antragstellung zu zahlen. Die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hatte teilweise Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg holte noch ein anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten ein, ferner vernahm es nochmals als Zeugen die Kindesmutter sowie die Großeltern der Klägerin, schließlich als Schriftsachverständige die Graphologin M B, die sich dahin äußerte, daß eine von der Kindesmutter zu den Akten überreichte Postkarte vom 6. Dezember 1944 nach dem Schriftbild von J G stamme.
Durch Urteil vom 17. September 1959 wies das LSG. unter Abweisung der Klage in übrigen die Berufung mit der Maßgabe zurück, daß die Beklagte an die Klägerin Waisenrente vom 1. Januar 1957 an zu zahlen habe. Das Berufungsgericht war der Auffassung, daß die Klägerin nach altem Recht noch nicht waisenrentenberechtigt gewesen sei. Damals hätte ihr die Waisenrente nach § 1258 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. nur zugestanden, wenn die Vaterschaft des Versicherten G festgestellt sei. Hierzu reiche angesichts des nicht eindeutigen Ergebnisses des Abstammungsgutachtens die Aussage der Kindesmutter, sie habe innerhalb der Empfängniszeit nur mit G geschlechtlich verkehrt, nicht aus, weil sie insgesamt vier uneheliche Kinder geboren habe und am Ausgang des Rechtsstreits interessiert sei. Anders liege es jedoch hinsichtlich der Zeit seit dem 1. Januar 1957. Nach den §§ 1267, 1262 Abs. 2 Nr. 5 RVO i. d. F. des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 seien uneheliche Kinder eines Versicherten nunmehr bereits dann rentenberechtigt, "wenn seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt ist". Die Unterhaltspflicht eines unehelichen Erzeugers nach § 1717 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) könne auch im sozialgerichtlichen Verfahren festgestellt werden. Die Angabe der Kindesmutter, innerhalb der Empfängniszeit nur mit G geschlechtlich verkehrt zu haben, sei glaubhaft. Für einen Mehrverkehr biete sich kein Anhalt. Damit gelte der Versicherte als der Vater der Klägerin.
Hiergegen hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung sachlichen Rechts sowie eine Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Zunächst hätte das LSG. die Unterhaltspflicht nicht selbst feststellen dürfen. Im Gegensatz zur Vaterschaft könne die Unterhaltspflicht nur durch ein Urteil eines Zivilgerichts oder ein Anerkenntnis des Erzeugers festgestellt werden. Vor allem aber sei die Beweiswürdigung des LSG. zu bemängeln. Für die Feststellung der blutsmäßigen Abstammung habe es ausgeführt, daß die Aussage der Kindesmutter nicht von überzeugendem Wert sei, weil sie am Rechtsstreit interessiert und in ihrem außerehelichen sexuellen Verhalten nicht gerade zurückhaltend gewesen sei. Deshalb sei das Berufungsgericht hier der Aussage der Zeugin nicht gefolgt. Diese Beweiswürdigung hätte dann aber bei der Feststellung der Zahlvaterschaft nach § 1717 BGB ebenfalls zugrunde gelegt werden müssen. Darüber hinaus hätte die Aussage auch nicht als ausreichender Nachweis dafür angesehen werden dürfen, daß die Kindesmutter überhaupt innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit mit dem Versicherten geschlechtlich verkehrt habe.
Die Beklagte und Revisionsklägerin beantragt,
das Urteil des LSG. Hamburg vom 17. September 1959 insoweit aufzuheben, als es die Beklagte zur Rentenzahlung vom 1. Januar 1957 an verurteilt, und die Klage unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 6. September 1957 abzuweisen.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die rechtzeitig eingelegte und fristgerecht begründete Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft und auch begründet.
Das LSG. hat den Waisenrentenanspruch der am 7. April 1945 unehelich geborenen Klägerin für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 abgewiesen, Hierbei ist es davon ausgegangen, daß die Vaterschaft des von ihrer Mutter als Erzeuger benannten und seit Anfang 1945 vermißten Wehrmachtsangehörigen J G nicht feststehe (§ 1258 Abs. 2 Nr. 5 RVO a. F.). Nach dem anthropologisch-erbbiologischen Abstammungsgutachte des Prof. Dr. K in H vom 29. April 1959 hätten die geprüften zwölf Merkmalsgruppen keinen hinreichenden Anhalt für die Annahme der Vaterschaft von G geboten. Allerdings standen für die Begutachtung nur die Klägerin und ihre Mutter sowie eine Schwester des verstorbenen angeblichen Erzeugers und drei Lichtbilder von diesem zur Verfügung.
Die eidliche Aussage der Kindesmutter, sie habe innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit nur mit J. G geschlechtlich verkehrt, genüge nicht zur Feststellung der Vaterschaft, insoweit könne "der eidlichen Aussage der Zeugin K nicht gefolgt werden".
Hiergegen sind keine Rügen erhoben worden. Für die Zeit ab 1. Januar 1957 hat dagegen das LSG. der Berufung der Klägerin auf Grund der Vorschriften der §§ 1267 Abs. 1, 1262 Abs. 2 Nr. 5 RVO i. d. F. des ArVNG stattgegeben. Danach sind waisenrentenberechtigte Kinder eines verstorbenen Versicherten u. a. seine unehelichen Kinder, "wenn seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt ist". Das LSG. sieht als erwiesen an, daß die Kindesmutter innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit einmal mit G, als er auf der Durchreise durch Hamburg mit einem etwa 3 1/2-stündigen Aufenthalt war, im Freien an der Elbe geschlechtlich verkehrt habe. Danach gelte er nach § 1717 des BGB, weil sich für einen Mehrverkehr kein hinreichender Anhalt biete, als sogenannter Zahlvater, womit seine Unterhaltspflicht festgestellt sei.
Hiergegen wendet sich die Beklagte im Ergebnis zu Recht. Denn das LSG. hat bei seinen Ausführungen hinsichtlich des Waisenrentenanspruchs nach neuem Recht nicht beachtet, daß die Vorschriften der §§ 1267 Abs. 1, 1262 Abs. 2 Nr. 5 RVO i. d. F. des ArVNG für die Zeit vom 1. Januar 1957 hier überhaupt nicht angewendet werden können.
Zwar bestimmt Art. 2 § 20 ArVNG, daß § 1267 Abs. 1 RVO n. F., wonach Waisenrente nach dem Tode des Versicherten seine Kinder (§ 1262 Abs. 2) bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres erhalten, auch für Versicherungsfälle gilt, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind. Dasselbe ordnet Art. 2 § 16 ArVNG für § 1262 RVO n. F. an, der unter anderem die Begriffsbestimmung enthält, wer als uneheliches Kind eines Versicherten zu gelten hat, daß nämlich hierunter u. a. diejenigen unehelichen Kinder eines männlichen Versicherten zu verstehen sind, von denen "seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt ist". Diese Vorschriften gelten jedoch nicht im schwebenden Verfahren, das heißt in solchen, die bei Inkrafttreten des ArVNG bereits vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängig waren. Denn Art. 2 § 44 Satz 1 ArVNG bestimmt lediglich, daß die §§ 8 und 17 bis 19 dieses Artikels bei Versicherungsfällen, für die sie gelten, auch in schwebenden Verfahren anzuwenden sind. Hieraus ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. SozR. § 1293 a RVO a. F. Bl. Aa 2 Nr. 4 und Aa 4 Nr. 5) im Wege des Umkehrschlusses zu folgern, daß die nicht aufgezählten Übergangsvorschriften in den bei den Sozialgerichten schwebenden Verfahren nach dem Willen des Gesetzgebers nicht anwendbar sind. Diese Auffassung findet u. a. ihre Stütze darin, daß aus der Überschrift "D. Nachprüfung ergangener Bescheide" zu Art. 2 § 44 ArVNG zu entnehmen ist, daß damit die Nachprüfung ergangener Bescheide erschöpfend geregelt werden sollte. Dazu kommt, daß - während Satz 1 die Fälle regelt, in welchen eine rechtskräftige oder bindende Entscheidung noch nicht vorliegt - die Sätze 2 bis 4 die Fälle erfassen, in denen eine bindende oder rechtskräftige Entscheidung bereits vorliegt. Da aber bei dieser letzten Gruppe von Fällen eine Nachprüfung ausdrücklich nur dann vorgesehen ist, wenn einer der in Satz 1 genannten Versicherungsfälle vorliegt, muß auch aus diesem Grunde angenommen werden, daß bei der ersten Gruppe von Fällen das Übergangsrecht nur bei diesen in Satz 1 angeführten Versicherungsfällen anzuwenden ist, denn der Gesetzgeber wollte offensichtlich beide Gruppen von Fällen gleich behandeln; eine unterschiedliche Regelung wäre auch nicht recht verständlich gewesen.
Da der vorliegende Rechtsstreit am 1. Januar 1957 vor dem Sozialgericht anhängig war, hätte mithin auch für die Zeit nach diesem Zeitpunkt noch von §§ 1258 Abs. 2 Nr. 5 RVO a. F. ausgegangen werden müssen, d. h. also, daß die Klägerin nur waisenrentenberechtigt sein konnte, wenn die Vaterschaft des Versicherten festgestellt war. Das aber hat das LSG. bereits mit rechtlich einwandfreier und unangefochtener Begründung verneint. Damit ist der Rechtsstreit entscheidungsreif, weil der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht geklärt ist.
Da nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts die Vaterschaft des Versicherten nicht nachgewiesen ist, mußte die Klage auf Zahlung von Waisenrente aus den genannten Gründen unter entsprechender Abänderung des Berufungsurteils und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts, wie im einzelnen aus der Urteilsformel ersichtlich ist in vollem Umfange abgewiesen werden. Auf die Frage, ob die Unterhaltspflicht im Sinne des § 1262 Abs. 2 Nr. 5 RVO n. F. auch durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit getroffen werden kann, kam es unter diesen Umständen nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen