Leitsatz (amtlich)
Hat der Versicherte einen pflichtversicherten Beruf ausgeübt, der als "bisheriger Beruf" iS des RVO § 1246 Abs 2 in Betracht kommt, so liegt eine versicherungsrechtlich zu beachtende Lösung von diesem "bisherigen Beruf" nicht darin, daß er danach nur nichtpflichtversichert beschäftigt oder tätig gewesen ist oder überhaupt keine Berufstätigkeit mehr ausgeübt hat.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 1962 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Streitig ist, welche Tätigkeit sein "bisheriger Beruf" im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.
Der im Jahre 1913 in Litauen geborene Kläger erlernte das Tischlerhandwerk, legte im April 1932 die Gesellenprüfung ab, war von 1941 an im Reichsgebiet als Tischler versicherungspflichtig beschäftigt und kehrte im Oktober 1943 nach Litauen zurück, wo er seinen Tischlerberuf weiter ausübte, bis er im Jahre 1944 zur deutschen Wehrmacht einberufen wurde. Er verlor infolge Verwundungen das linke Auge und den linken Daumen und bezieht eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v. H. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1947 war er zunächst vom Arbeitsamt bis Juni 1950 von der Arbeit befreit und bezog sodann bis zum 9. August 1960 Arbeitslosenhilfe sowie Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe mit Unterbrechungen durch längere Krankheitszeiten und drei versicherungspflichtige Beschäftigungen als Notstandsarbeiter von insgesamt 5 Monaten in den Jahren 1951, 1956 und 1957.
Im Juli 1960 beantragte er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 7. März 1961 ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid über die Gewährung einer Rente unter Annahme von Berufsunfähigkeit seit dem 1. Juli 1960 zu erteilen (Urteil vom 27. Oktober 1961). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 14. Dezember 1962).
Gegen das Urteil hat der Kläger Revision eingelegt, mit der er unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO sowie Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Schleswig vom 27. Oktober 1961 zurückzuweisen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.
Mit Recht rügt die Revision unrichtige Anwendung der Vorschrift des § 1246 Abs. 2 RVO. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist als "bisheriger Beruf" des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO nur dessen Tätigkeit als gelernter Tischler anzusehen. Deshalb kann der Kläger nicht auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden.
Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt gemäß § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger trotz seiner allgemein eingeschränkten Leistungsfähigkeit noch in der Lage ist, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung zu verrichten. Es hat angenommen, durch solche Tätigkeiten könne er die sog. gesetzliche Lohnhälfte verdienen; denn er müsse sich auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen. Zwar sei er, soweit er gearbeitet habe, als Tischler tätig gewesen, so daß als Berufstätigkeit in tatsächlicher Hinsicht nur die eines Tischlers in Betracht komme. Die in den Jahren 1951 bis 1957 insgesamt nur 5 Monate umfassende Tätigkeit als Notstandsarbeiter könne außer Betracht bleiben. Die Berufstätigkeit des Klägers als Tischler aber habe in den 28 Jahren vom Abschluß der Lehre im Jahre 1932 bis zum Rentenantrag im Jahre 1960 nur 12 Jahre gewährt, davon etwas mehr als 3 Jahre in versicherungspflichtiger Beschäftigung, während der Kläger 16 Jahre nicht berufstätig gewesen sei, und die Ausübung des Tischlerberufes habe bei Antragstellung bereits 16 Jahre zurückgelegen, deshalb sei sie nicht "bisheriger Beruf". Für die soziale Zumutbarkeit komme es entscheidend auf die Verhältnisse im Zeitraum unmittelbar vor der Antragstellung an, und zwar auch dann, wenn, wie hier, eine Berufstätigkeit in den letzten 16 Jahren überhaupt nicht mehr ausgeübt worden sei. Eine vor dem Rentenantrag länger zurückliegende Berufstätigkeit erfülle den Begriff des "bisherigen Berufs" im Sinne von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht. Ein Wechsel von erlerntem Handwerk zu ungelernter Arbeit hebe den Berufsschutz auf. Einen rechtlichen Unterschied zu machen zwischen den Folgen eines solchen Wechsels und einer Untätigkeit von längerer Dauer - Rentenbezugszeiten ausgenommen -, sei nicht gerechtfertigt; denn das würde auf eine sozial nicht vertretbare unterschiedliche Behandlung zuungunsten derjenigen Versicherten hinauslaufen, die ihr weiteres Arbeitsschicksal in die eigenen Hände nähmen, gegenüber denen, die die Hände in den Schoß legten. Auch wenn man der hier gegebenen Begriffsbestimmung des "bisherigen Berufs" nicht folge, lägen die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit gleichwohl nicht vor.
Der Kläger müsse sich jede ungelernte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsfeldes zumuten lassen, zu der er noch imstande sei. Gegenüber der Fachausbildung und der Facharbeit des Klägers gebe hier den Ausschlag, daß er insgesamt nur etwa drei Jahre als Tischler versicherungspflichtig tätig gewesen sei und den Beruf schon im Alter von knapp 34 Jahren endgültig aufgegeben habe. Es könne hierbei nicht unbeachtet bleiben, daß er in der Folgezeit bereits durch seine Untätigkeit und als Empfänger öffentlicher Unterstützungsleistungen von sich aus einen sozialen Abstieg vollzogen habe. Eine Minderung seines sozialen Ansehens sei unter diesen Umständen mit der Aufnahme irgendeiner, auch ungelernten Tätigkeit nicht verbunden. (Ebenso Schleswig-Holst. LSG in Breith. 1962, 510.)
Diesen Ausführungen ist der erkennende Senat nicht beigetreten. Das LSG hat selbst ausgeführt, der Kläger habe, soweit er gearbeitet habe, d. h. versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist, als Tischler gearbeitet, so daß in tatsächlicher Hinsicht nur die Berufstätigkeit eines Tischlers in Betracht komme. Diese Berufstätigkeit kommt aber für die Beurteilung, ob der Kläger berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist, auch in rechtlicher Hinsicht allein in Betracht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muß mit Ausnahme der ausschließlich Selbstversicherten, bei denen besondere Verhältnisse vorliegen (BSG 25, 129) der "bisherige Beruf" stets ein Beruf gewesen sein, auf Grund dessen der Berechtigte versichert gewesen ist, so daß nur die pflichtversicherte Beschäftigung oder Tätigkeit als bisheriger Beruf in Betracht kommt. Nur auf Grund einer solchen Beschäftigung oder Tätigkeit erwirbt der Versicherte den Schutz der Rentenversicherung, insbesondere gegen Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (BSG in SozR Nr. 33 und Nr. 65 zu § 1246 RVO sowie u. a. BSG 7, 66; 19, 57, 59; 19, 217; 24, 7, 10 ff). Das BSG hat auch bereits ausgesprochen, daß ein nicht versicherter - pflichtversicherter - Beruf den für die Rentenbewilligung maßgebenden "bisherigen Beruf" nicht ersetzen kann, weil es dann an einem pflichtversicherten Risiko fehlen würde (BSG 24, 7, 11). Hieraus ergibt sich, daß sich der in der Verrichtung einer pflichtversicherten Beschäftigung oder Tätigkeit bestehende bisherige Beruf nur durch die Ausübung einer anderen und andersgearteten pflichtversicherten Beschäftigung oder Tätigkeit ändern kann, scheiden aber nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen und Tätigkeiten für die Feststellung des bisherigen Berufes aus, so können in diesem Zusammenhang auch solche Zeiten nicht in Betracht gezogen werden, in denen der Versicherte keiner Art von Erwerbstätigkeit nachgegangen, also überhaupt nicht berufstätig gewesen ist. Wird die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit - der pflichtversicherte Beruf - nicht mehr ausgeübt und wird keine andere versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit - kein anderer pflichtversicherter Beruf - aufgenommen, so besteht das durch den pflichtversicherten Beruf begründete Versicherungsverhältnis fort, und zwar in der rechtlichen Gestalt, die es durch den pflichtversicherten Beruf erfahren hat. Das BSG hat denn auch schon dargelegt, daß aus der Tatsache, daß ein Versicherter arbeitslos wird, nicht auf eine endgültige Lösung von der bisherigen Tätigkeit geschlossen werden kann (BSG 2, 182, 183). Ob sich der Versicherte von einer früheren als "bisheriger Beruf" in Betracht kommenden Berufstätigkeit gelöst hat und ob die Lösung versicherungsrechtlich erheblich ist, kann immer nur dann geprüft werden, wenn er im Laufe seines Berufslebens mehrere versicherungspflichtige Berufe ausgeübt hat (BSG 2, 182; 16, 34; 19, 57; SozR Nr. 33 zu § 1246 RVO). Wenn in einem nicht veröffentlichten Urteil des BSG vom 26. Mai 1965 (Az.: 4 RJ 183/62) - dem ein nahezu gleichliegender, ebenfalls vom Schleswig-Holsteinischen LSG entschiedener Streitfall (veröffentlicht in Breithaupt 1962, 510 ff) zugrunde liegt - ausgeführt ist, in jahrelanger Untätigkeit eines Versicherten, von dem hätte erwartet werden können, daß er sich auf ihm aufgezwungene Verhältnisse eingestellt und sich einer seinem beeinträchtigten Gesundheitszustand und seinen Fähigkeiten entsprechenden neuen Betätigung zugewandt hätte, könne allerdings der Wille zur Lösung vom früheren Beruf zum Ausdruck kommen, so ist demgegenüber zu bedenken, daß das Recht der Rentenversicherung eine gesetzliche Pflicht oder irgendeinen Zwang zur weiteren Ausübung des pflichtversicherten Berufs, nur um die einmal begründete Pflichtversicherung in ihrer rechtlichen Bewertung zu erhalten, nicht kennt. Den "bisherigen Beruf" i. S. des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit zu bestimmen oder durch Unterlassen jeder Berufstätigkeit zu erhalten, steht jedem Versicherten frei. Die Ausführungen in dem genannten Urteil tragen indessen die Entscheidung nicht, so daß eine Anrufung des Großen Senats nicht erforderlich ist.
Selbst wenn der Kläger während der Zeit seiner Arbeitslosigkeit ohne zwingende Gründe die Verrichtung einer Tätigkeit als Tischler abgelehnt haben sollte, läge darin eine rechtserhebliche Lösung vom "bisherigen Beruf" nicht. Ebensowenig ist es von Bedeutung, ob er sich um die Rückkehr in den verlorenen Beruf fortgesetzt bemüht und über die Meldung beim Arbeitsamt hinaus entsprechende Versuche unternommen hat (a. A. Schleswig-Holst. LSG in Breith. 1962, 510); denn den versicherungsrechtlichen Gegenstand der Rentenversicherung kann nur die Ausübung eines pflichtversicherten Berufs begründen oder ändern.
Demgegenüber kann auch die Erwägung, daß diejenigen Versicherten, die ihr weiteres Arbeitsschicksal in die eigenen Hände nähmen, indem sie nach Verlust eines höher bewerteten pflichtversicherten Berufs (Facharbeitertätigkeit) einen niedriger bewerteten pflichtversicherten Beruf (ungelernte Tätigkeit) aufnähmen, gegenüber denjenigen, die untätig blieben, unberechtigt benachteiligt seien, nicht durchgreifen, zumal nicht solche Versicherten betroffen werden, die aus gesundheitlichen Gründen einen derartigen Berufswechsel vornehmen müssen (BSG 2, 182).
Der Kläger hat keinen anderen pflichtversicherten Beruf als den des gelernten Tischlers ausgeübt. Seine versicherungspflichtigen Beschäftigungen als Notstandsarbeiter während der Zeit seiner Arbeitslosigkeit müssen unbeachtet bleiben, weil sie schon in Anbetracht ihrer kurzen Dauer nicht den Schluß zulassen, er habe sich durch diese Tätigkeit von seinem Tischlerberuf gelöst. Deshalb kann der Prüfung, ob er im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO berufsunfähig ist, als sein "bisheriger Beruf" nur der des Tischlergesellen zugrunde gelegt werden. Auf die Revision des Klägers muß das auf einer gegenteiligen Rechtsauffassung beruhende Urteil des LSG aufgehoben werden.
Das Revisionsgericht kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil dafür nicht ausreichen. Unter Beachtung der inzwischen durch die Rechtsprechung des BSG zu § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO aufgestellten Grundsätze, auf welche Tätigkeiten ein gelernter Facharbeiter verwiesen werden darf, wird das LSG die Rechtslage erneut zu prüfen und die dafür erforderlichen Feststellungen noch zu treffen haben.
Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten im Revisionsverfahren bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen