Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge

 

Leitsatz (redaktionell)

Hat ein 15 1/2 Jahre alter Beschädigter einen am Rande eines Feldweges liegenden Sprengkörper nur aufgehoben und mitgenommen, um ihn in ein nahegelegenes Fuchsloch zu werfen, so war die wesentliche Bedingung für die Explosion des Sprengkörpers und seine Verletzung nicht dieses Verhalten, sondern das Herumliegen eines gefährlichen Sprengkörpers.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 1956 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger wurde am 1. Dezember 1929 in Oestringen bei Bruchsal geboren und wuchs dort auf. Nach Beendigung seiner Schulzeit im Jahre 1944 wurde er Schlosserlehrling. Am 17. Juni 1945 fand er während eines Spaziergangs an einem Feldwege in der Nähe seines Heimatortes einen Sprengkörper von etwa 5 bis 6 cm Länge und 3 cm Dicke; er nahm den Sprengkörper auf, um ihn in ein nahegelegenes Fuchsloch zu werfen und damit unschädlich zu machen; zu diesem Zweck mußte er unter Zuhilfenahme seiner Hände einen Hang erklettern, dabei explodierte der Sprengkörper. Der Kläger wurde verletzt, Daumen und Endglied des Zeigefingers der linken Hand mußten amputiert werden.

Den Antrag des Klägers auf Versorgung lehnte das Versorgungsamt K... durch Bescheid vom 10. Oktober 1952 sowohl nach den Vorschriften des Württ.-Bad. Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) als auch nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ab, weil der Kläger um die Gefährlichkeit seines Handelns gewußt habe. Der Kläger legte Berufung beim Oberversicherungsamt Karlsruhe ein; die Berufung ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Karlsruhe über. Durch Urteil vom 19. Oktober 1954 hob das SG. den Bescheid vom 10. Oktober 1952 auf und verurteilte den Beklagten, die Körperschäden als Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger ab 1. November 1949 Rente nach einer MdE. um 30 v.H. zu gewähren. Die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg durch Urteil vom 30 Oktober 1956 zurück: Die Verletzung des Klägers sei die Folge der nachträglichen Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, von ihnen sei ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich hinterlassen worden; wesentliche Bedingung und damit Ursache für den Körperschaden sei der kriegerische Vorgang gewesen; demgegenüber trete das eigene Verhalten des Klägers an Bedeutung zurück; der Kläger habe zwar um die Gefährlichkeit des Sprengkörpers gewußt, er habe es jedoch nicht für gefährlich gehalten, ihn nur aufzuheben und wegzutragen; er habe nicht mit dem Sprengkörper "hantiert", sondern ihn beseitigen wollen; dabei habe er allenfalls leicht fahrlässig gehandelt; hierbei müsse auch das Alter des Klägers und die Tatsache berücksichtigt werden, daß er noch unter dem Eindruck eines Unfalls gestanden habe, bei dem einige Tage vorher zwei Jungen im Alter von 8 und 12 Jahren durch "Hantieren" mit Sprengkörpern tödlich verunglückt seien; jedenfalls habe für den Kläger ein verständlicher Anlaß zum Handeln bestanden; in der Zeit bis zum Eingreifen einer zuständigen Stelle seien Personen gefährdet gewesen, umso mehr, als sich zu jener Zeit außer dem Kläger auch die beiden jugendlichen Brüder D... in der Nähe der Fundstelle aufhielten und das Erscheinen anderer Personen an diesem Platz nicht auszuschließen gewesen sei; nach der Anschauung des täglichen Lebens sei die Handlungsweise des Klägers verständlich und nicht völlig unvernünftig. Die Revision ließ das LSG. zu.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 27. November 1956 zugestellt. Am 20. Dezember 1956 legte er Revision ein und beantragte:

die Urteile des LSG. Baden-Württemberg vom 30. Oktober 1956 und des SG. Karlsruhe vom 19. Oktober 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Am 26. Januar 1957 begründete er die Revision: Das LSG. habe § 1 Abs. 1 KBLG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Buchst. e der Dritten Durchführungsverordnung zum KBLG sowie § 1 Abs. 1 und 2 BVG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG verletzt; es habe zu Unrecht angenommen, der Körperschaden des Klägers beruhe auf einer nachträglichen Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben; die wesentliche Bedingung und damit die Ursache des Körperschadens sei vielmehr in dem eigenen Handeln des Klägers zu erblicken; der Kläger habe die nötige Einsicht besessen, um das Gefährliche seines Tuns zu erkennen; einen berechtigten Anlaß, den Sprengkörper aufzuheben und beiseite zu schaffen, habe er nicht gehabt; es hätte genügt, wenn er die in der Nähe weilenden Brüder D... auf die Gefahr aufmerksam gemacht und sodann die Polizei verständigt hätte; keinesfalls hätte er mit dem Sprengkörper auf Händen und Füßen den Hang hinaufklettern dürfen; nur hierdurch sei es zu der Explosion gekommen; dies hätte der Kläger voraussehen müssen.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig; sie ist jedoch unbegründet.

Die Versorgungsansprüche des Klägers sind für die Zeit bis zum 30. September 1950 nach dem Württ.-Bad. KBLG und für die Zeit ab 1. Oktober 1950 nach dem BVG zu beurteilen. Nach § 1 Abs. 1 KBLG erhalten Personen, die durch unmittelbare Kriegseinwirkungen Gesundheitsschädigungen erlitten haben, Versorgung. Nach § 2 der Dritten Durchführungsverordnung (DurchfVO) zum KBLG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Nach § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne von § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Die Rechtslage ist also nach dem KBLG und nach dem BVG die gleiche. Die Vorschriften des Württ.-Bad. KBLG und des § 2 der Dritten DurchfVO sind auch revisibel im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG (vgl. hierzu BSG. 1 S. 56 [59] und Urteil des BSG. v. 7.11.1957, 11/8 RV 1159/55).

Eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, liegt vor, wenn der schädigende Vorgang einer Gefahrenquelle entspringt, der eine Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen eigen ist; dies ist im allgemeinen der Fall, wenn Kriegsgerät, das aus den Kampfhandlungen des letzten Krieges zurückgeblieben ist, an einem für jedermann zugänglichen Ort herumliegt (BSG. 1 S. 72 [75]; 6 S. 102 [103]; 6 S. 188 [190]). Um einen solchen Gefahrenbereich hat es sich auch hier gehandelt; der Sprengkörper hat - einige Monate nach Beendigung der Kampfhandlungen - am Rande eines Feldweges gelegen. Er hat damit eine Gefahrenquelle für die Benutzer des Feldweges gebildet; das LSG. hat auch festgestellt, daß der Sprengkörper aus Beständen hergerührt hat, die im letzten Krieg verwendet und nach Beendigung der Kampfhandlungen zurückgelassen worden sind.

Dieser versorgungsrechtlich geschützte Tatbestand ist für die Gesundheitsschädigung des Klägers ursächlich gewesen. Ursächlich im Sinne des Versorgungsrechts ist nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, sondern nur diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (BSG. 1 S. 150, 1 S. 268). Im vorliegenden Fall haben zwei Bedingungen zu der Verletzung des Klägers geführt, nämlich einerseits das Herumliegen des gefährlichen Sprengkörpers, andererseits das Verhalten des Klägers. Bei der Beurteilung, welche von mehreren Bedingungen für den Eintritt des Erfolges wesentlich gewesen ist, sind alle Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Mit Recht ist das LSG. zu dem Ergebnis gekommen, daß die wesentliche Bedingung und damit die Ursache für die Verletzung des Klägers in dem Herumliegen des Sprengkörpers zu erblicken ist, während das Handeln des Klägers demgegenüber an Bedeutung zurücktritt. Das LSG. hat festgestellt, der damals 15 ½ Jahre alte Kläger habe den Sprengkörper nur aufgehoben, um ihn in ein Fuchsloch zu werfen; er habe damit andere Personen vor der Gefahr, die von dem Sprengkörper ausging, schützen wollen, zumal einige Tage vorher zwei Kinder durch Hantieren mit einem Sprengkörper tödlich verunglückt seien und zumal auch zu der Zeit, als der Kläger den Sprengkörper gefunden hat, zwei weitere Jungen, die Brüder D... in der Nähe gewesen seien und somit durch den Sprengkörper hätten gefährdet werden können; dem Kläger sei bekannt gewesen, daß das Hantieren mit dem Sprengkörper gefährlich sei, er habe aber nicht gewußt, daß der Sprengkörper auch explodieren könne, wenn er ihn lediglich in die Hand nähme und damit den Hang hinaufklettere. Da gegen die Feststellungen des LSG. keine Revisionsrügen vorgebracht sind, ist das BSG. an die Feststellungen gebunden (§ 163 SGG). Dieser Sachverhalt unterscheidet sich wesentlich von dem Fall, der dem Urteil des 10. Senats vom 10. Juni 1955 (BSG. 1 S. 72) zugrunde gelegen hat; dort hat der - ebenfalls 15 ½ Jahre alte - Kläger mutwillig an dem Fundgegenstand - einem Gewehr - hantiert und dabei eine Explosion ausgelöst; dieses Hantieren ist als wesentliche Bedingung für die Verletzung anzusehen gewesen, während das Herumliegen des aus den Kampfhandlungen des letzten Krieges zurückgebliebenen Gewehres an einem allgemein zugänglichen Ort demgegenüber an Bedeutung hat zurücktreten müssen. Im vorliegenden Falle hat jedoch der Kläger an dem gefundenen Sprengkörper nicht "hantiert", er hat ihn vielmehr nur aufgehoben; hierzu haben ihn Motive bestimmt, die billigenswert, jedenfalls aber verständlich sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob es bei nachträglicher Betrachtung vernünftiger gewesen wäre, die Gefahr auf andere Weise, etwa durch Kennzeichnung der Fundstelle und durch Mitteilung an die Polizei, zu beseitigen. Selbst wenn man dem Kläger vorwerfen wollte, er habe in seinem Alter und bei seiner geistigen Entwicklung erkennen müssen, daß der Sprengkörper auch explodieren könne, wenn er ihn wegtrage und insbesondere damit einen Hang hinaufklettere, weil dabei naturgemäß Erschütterungen auftreten, so ändert auch dies nichts an der Beurteilung. Dem Verhalten des Klägers kommt unter den hier gegebenen Umständen eine wesentliche Bedeutung für den Eintritt der Explosion und damit für die Verletzung nicht zu.

Die Revision ist hiernach unbegründet; sie ist deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324041

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