Beteiligte
…, Klägerin und Revisionsbeklagte |
Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz,Düsseldorf, Königsallee 71, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Die im Jahre 1935 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war mit Unterbrechungen von Juli 1964 bis September 1982 als Gebäudereinigerin, Packerin, Stationshilfe, Altenpflegerin sowie als Büroreinigerin versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend war sie arbeitslos. Den im Juni 1984 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. August 1984 ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1986).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. August 1984 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 24. März 1988). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 22. Juli 1988). Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin sei noch in der Lage, in vollen Schichten körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Umhergehen, ohne überwiegendes Stehen, überwiegend in geschlossenen Räumen zu verrichten. Dabei müßten Arbeiten mit häufigen einseitigen körperlichen Belastungen, mit Zwangshaltungen, Tätigkeiten im Knien, Hocken und Bücken, Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht, unter besonderem Zeitdruck und mit häufigem Publikumsverkehr ausscheiden. An Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit könnten nur noch geringe Anforderungen gestellt werden. Die für die Klägerin zumutbare Gehstrecke sei auf 500 m begrenzt. Mit dieser Gehfähigkeit könne die Klägerin einen Arbeitsplatz nicht aufsuchen, so daß ihr der Arbeitsmarkt verschlossen und sie erwerbsunfähig sei.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beklagte beantragt,die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Klägerin steht die ihr zugesprochene Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl dazu Urteil vom 6. Juni 1986 in SozR 2200 § 1247 Nr 47 und das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 13. Juli 1988 - 5/4a RJ 57/87 - jeweils mwN) gehört die ausreichende Fähigkeit, Arbeitsplätze aufzusuchen, zur Erwerbsfähigkeit. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die nur noch Fußwege von 500 m Länge zuläßt, reicht in der Regel nicht aus, um einen Arbeitsplatz zu erreichen. Das gilt auch bei Wohnorten in industriellen Ballungsgebieten. Angesichts der Zumutbarkeit eines Umzuges kommt es nicht auf den konkreten Weg zu einer Arbeitsstelle oder zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, sondern darauf an, welche Wege üblich sind. Etwas anderes gilt dann, wenn der oder die Versicherte einen Arbeitsplatz innehat oder unabhängig von seiner eingeschränkten Gehfähigkeit erreichen kann. Im übrigen bildet die Gehfähigkeit für eine Wegstrecke bis zu 500 m den Maßstab dafür, wann bei einer solchen Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben der Versicherungsträger in der Rentenversicherung Maßnahmen zur Rehabilitation zu prüfen hat. Mit dieser Grenzziehung hat der Senat Regeln für die Anforderungen aufgestellt, die an die Aufklärung des Sachverhalts zu stellen sind. Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO kann demnach angenommen werden, wenn 1. nur noch eine Gehfähigkeit vorhanden ist, die maximal 500 m Wegstrecke zuläßt, 2. der Versicherte einen Arbeitsplatz nicht innehat und einen solchen auch nicht mit Hilfe eines Kraftfahrzeugs erreichen kann und 3. der Versicherungsträger diesbezüglich auch keine Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation anbietet. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin erfüllt.
Von dieser Rechtsprechung des erkennenden Senats ist der 4a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 26. Mai 1987 (SozR 2200 § 1247 Nr 50) teilweise abgewichen. Der 4a Senat hat zwar die Auffassung des erkennenden Senats im Urteil vom 6. Juni 1986 aaO geteilt, ein Versicherter könne selbst in einem industriellen Ballungsgebiet in einem Umkreis seiner Wohnung von nicht mehr als 500 m nicht damit rechnen, einen Arbeitsplätze bietenden Betrieb aufzufinden, den er durch Fußweg erreichen könne. Gleichwohl hat der 4a Senat aber zur Ermittlung der in einem Ballungsraum üblichen Fußwege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz Feststellungen darüber für erforderlich gehalten, "welche durchschnittliche Wegstrecke ein Versicherter von einem nicht ungewöhnlich liegenden Wohngebiet aus zu einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und sodann von der Ziel-Haltestelle aus zu einem nach Lage, Art und Größe nicht untypischen Betrieb des Ballungsraums üblicherweise zurücklegen muß". Darüber hinaus soll bei Betrieben mit weiten Betriebswegen geklärt werden, ob Werksverkehr mit Personenbeförderung auf dem Betriebsgelände insbesondere üblich oder möglich ist. Sollten derartige Ermittlungen erforderlich sein, dann müßten sie nicht nur von den Tatsachengerichten, sondern auch von den Versicherungsträgern der gesetzlichen Rentenversicherung gefordert werden. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob das für eine Massenverwaltung, wie sie die Rentenversicherung darstellt, handhabbar ist. Der erkennende Senat sieht in derartigen Fällen die Anforderungen des 4a Senats an die Aufklärung des Sachverhalts als zu weitgehend an und folgt insoweit dem 4a Senat nicht. Mit seiner Grenzziehung bei einer Gehfähigkeit, die höchstens Fußwege von 500 m Länge zuläßt, hat der Senat klargestellt, wie weit die Ermittlungspflicht der Rentenversicherungsträger und der Tatsachengerichte zu gehen hat. Der gefundene generalisierende Maßstab trägt den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung und bietet für typische Fallgruppen ein gemeinsames Konzept (vgl BSG aaO § 1246 Nr 45). Gibt der Sachverhalt im konkreten Fall Veranlassung, weitere Ermittlungen durchzuführen, etwa wegen einer atypischen Konstellation, so bleiben diese dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen.
Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen zwischen dem 4a Senat und dem erkennenden Senat bedarf es einer Anfrage beim 4. Senat und gegebenenfalls einer Anrufung des Großen Senats des BSG zur Klärung streitiger Einzelfragen nicht. Nach der seit dem 1. Januar 1988 geltenden Geschäftsverteilung beim BSG ist der 4. Senat nicht mehr für Rechtsstreitigkeiten aus der Rentenversicherung der Arbeiter zuständig. Innerhalb der ihm vom genannten Zeitpunkt an übertragenen Zuständigkeit für die Rentenversicherung der Angestellten ist die hier erhebliche Frage, welche Anforderungen an die Aufklärungspflicht bei einer auf Wegstrecken von 500 m begrenzten Gehfähigkeit zu stellen sind, nicht entschieden worden. Sie ist - soweit ersichtlich - für den Bereich der Angestelltenversicherung bisher auch nicht entscheidungserheblich gewesen.
Entgegen dem Vorbringen der Beklagten in der Revisionsbegründung brauchte sich das LSG somit im Falle der Klägerin nicht gedrängt zu fühlen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Die oben genannten Voraussetzungen für die Annahme einer Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO sind bereits aufgrund der von der Revision nicht angegriffenen und für den erkennenden Senat gem § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG erfüllt. Die daher unbegründete Revision der Beklagten mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen