Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit bei Gehfähigkeit von 500 m

 

Orientierungssatz

Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO kann angenommen werden, wenn 1. nur noch eine Gehfähigkeit vorhanden ist, die maximal 500 m Wegstrecke zuläßt, 2. der Versicherte einen Arbeitsplatz nicht innehat und einen solchen auch nicht mit Hilfe eines Kfz erreichen kann und 3. der Versicherungsträger diesbezüglich keine Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation anbietet (vgl BSG vom 13.7.1988 5/4a RJ 57/87; Abgrenzung zu BSG vom 26.5.1987 4a RJ 21/86 = SozR 2200 § 1247 Nr 50).

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs 2, § 1246 Abs 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 26.06.1986; Aktenzeichen L 16 Ar 458/84)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 17.05.1984; Aktenzeichen S 03 Ar 0152/83)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit zu gewähren ist.

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, war in der Bundesrepublik Deutschland ab 1971 insgesamt 108 Monate lang als Bauhilfsarbeiter sowie als angelernter Arbeiter in der Kraftfahrzeugindustrie versicherungspflichtig beschäftigt. Den Rentenantrag des Klägers vom 6. März 1981 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Juli 1982 ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1982).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 17. Mai 1984 und 26. Juni 1986). Das LSG hat festgestellt, der Kläger könne in geschlossenen Räumen leichte Arbeiten im Sitzen in vollen Schichten verrichten, wenn folgende Einschränkungen berücksichtigt würden: keine besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit, das Durchhaltevermögen, die Verantwortung sowie die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit; keine Akkord- oder Schichtarbeit, keine Gefährdung durch Kälte, Zugluft oder Nässe; keine Tätigkeit auf Leitern oder Gerüsten, an gefährdenden Maschinen oder am Fließband; keine zu Fuß zurückzulegenden Wegstrecken über 500 m. In Betracht kämen für den Kläger Tätigkeiten als Entgrater von Kunststoffpreßteilen, Bohrer von Zylindermänteln aus Profilmessing, Sicht- und Lehrenkontrolleur an einfachen Teilen oder als Kontrolleur von Drehteilen.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie der §§ 1247, 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Kläger beantragt,

die Urteile des SG und des LSG sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. April 1981 eine Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe zu gewähren; hilfsweise beantragt er, den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das zuständige Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Umstand, daß der Kläger keine Wegstrecken von mehr als 500 m zurücklegen solle, stehe einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nicht entgegen. Zumindest in der Bundesrepublik Deutschland seien Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel in der Regel nicht weiter als 500 m von der Wohnung oder dem Arbeitsplatz entfernt, wenn es sich um groß- oder mittelstädtische Verhältnisse handele. Diese Begründung reicht zur Ablehnung der vom Kläger beanspruchten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht aus.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl dazu Urteil vom 6. Juni 1986 in SozR 2200 § 1247 Nr 47 und das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 13. Juli 1988 - 5/4a RJ 57/87 - jeweils mwN) gehört die ausreichende Fähigkeit, Arbeitsplätze aufzusuchen, zur Erwerbsfähigkeit. Einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, die nur noch Fußwege von 500 m Länge zuläßt, reicht in der Regel nicht aus, um einen Arbeitsplatz zu erreichen. Das gilt auch bei Wohnorten in industriellen Ballungsgebieten. Angesichts der Zumutbarkeit eines Umzuges kommt es nicht auf den konkreten Weg zu einer Arbeitsstelle oder zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, sondern darauf an, welche Wege üblich sind. Etwas anderes gilt dann, wenn der oder die Versicherte einen Arbeitsplatz innehat oder unabhängig von seiner Gehfähigkeit erreichen kann. Im übrigen bildet die Gehfähigkeit für eine Wegstrecke bis zu 500 m den Maßstab dafür, wann bei einer solchen Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben der Versicherungsträger in der Rentenversicherung Maßnahmen zur Rehabilitation zu prüfen hat. Mit dieser Grenzziehung hat der Senat Regeln für die Anforderungen aufgestellt, die an die Aufklärung des Sachverhalts zu stellen sind. Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO kann demnach angenommen werden, wenn 1. nur noch eine Gehfähigkeit vorhanden ist, die maximal 500 m Wegstrecke zuläßt, 2. der Versicherte einen Arbeitsplatz nicht innehat und einen solchen auch nicht mit Hilfe eines Kraftfahrzeugs erreichen kann und 3. der Versicherungsträger diesbezüglich auch keine Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation anbietet. Ob die unter 2. und 3. genannten Voraussetzungen im Falle des Klägers erfüllt sind, muß noch festgestellt werden.

Von dieser Rechtsprechung des erkennenden Senats ist der 4a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 26. Mai 1987 (SozR 2200 § 1247 Nr 50) teilweise abgewichen. Der 4a Senat hat zwar die Auffassung des erkennenden Senats im Urteil vom 6. Juni 1986 aaO geteilt, ein Versicherter könne selbst in einem industriellen Ballungsgebiet in einem Umkreis seiner Wohnung von nicht mehr als 500 m nicht damit rechnen, einen Arbeitsplätze bietenden Betrieb aufzufinden, den er durch Fußweg erreichen könne. Gleichwohl hat der 4a Senat aber zur Ermittlung der in einem Ballungsraum üblichen Fußwege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz Feststellungen darüber für erforderlich gehalten, "welche durchschnittlichen Wegstrecken ein Versicherter von einem nicht ungewöhnlich liegenden Wohngebiet aus zu einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und sodann von der Ziel-Haltestelle aus zu einem nach Lage, Art und Größe nicht untypischen Betrieb des Ballungsraums üblicherweise zurücklegen muß". Darüber hinaus soll bei Betrieben mit weiten Betriebswegen geklärt werden, ob Werksverkehr mit Personenbeförderung auf dem Betriebsgelände insbesondere üblich oder möglich ist. Sollten derartige Ermittlungen erforderlich sein, dann müßten sie nicht nur von den Tatsachengerichten, sondern auch von den Versicherungsträgern der gesetzlichen Rentenversicherung gefordert werden. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob das für eine Massenverwaltung, wie sie die Rentenversicherung darstellt, handhabbar ist. Der erkennende Senat sieht in derartigen Fällen die Anforderungen des 4a Senats an die Aufklärung des Sachverhalts als zu weitgehend an und folgt insoweit dem 4a Senat nicht. Mit seiner Grenzziehung bei einer Gehfähigkeit, die höchstens Fußwege von 500 m Länge zuläßt, hat der Senat klargestellt, wie weit die Ermittlungspflicht der Rentenversicherungsträger und der Tatsachengerichte zu gehen hat. Der gefundene generalisierende Maßstab trägt den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung und bietet für typische Fallgruppen ein gemeinsames Konzept (vgl BSG aaO § 1246 Nr 45). Gibt der Sachverhalt im konkreten Fall Veranlassung, weitere Ermittlungen durchzuführen, etwa wegen einer atypischen Konstellation, so bleiben diese dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen.

Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen zwischen dem 4a Senat und dem erkennenden Senat bedarf es einer Anfrage beim 4. Senat und gegebenenfalls einer Anrufung des Großen Senats des BSG zur Klärung streitiger Einzelfragen nicht. Nach der seit dem 1. Januar 1988 geltenden Geschäftsverteilung beim BSG ist der 4. Senat nicht mehr für Rechtsstreitigkeiten aus der Rentenversicherung der Arbeiter zuständig. Innerhalb der ihm vom genannten Zeitpunkt an übertragenen Zuständigkeit für die Rentenversicherung der Angestellten ist die hier erhebliche Frage, welche Anforderungen an die Aufklärungspflicht bei einer auf Wegstrecken von 500 m begrenzten Gehfähigkeit zu stellen sind, nicht entschieden worden. Sie ist - soweit ersichtlich - für den Bereich der Angestelltenversicherung bisher auch nicht entscheidungserheblich gewesen.

Das LSG wird somit die noch erforderlichen Feststellungen unter Beachtung der Rechtsprechung des erkennenden Senats, wie sie im Urteil vom 13. Juli 1988 aaO zusammengefaßt ist, nachzuholen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666001

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