Leitsatz (redaktionell)
Versicherungsschutz gegen Arbeitsunfälle besteht bei Tätigkeiten, die mit dem landwirtschaftlichen Unternehmen im Zusammenhang stehen.
Orientierungssatz
Die Hühnerhaltung ist Teil des Landwirtschaftlichen Betriebes, wenn bereits etwa 1/5 des Futterbedarfs aus den Erzeugnissen des eigenen Betriebes gedeckt wird. Es ist nicht erforderlich, daß das Futter überwiegend in dem eigenen Landwirtschaftlichen Unternehmen erzeugt wird, vielmehr besteht ein Zusammenhang mit diesem Unternehmen auch dann, wenn ein für die natürliche Betrachtungsweise ins Gewicht fallender Teil des Futters unmittelbar dem Bodenertrag entstammt.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1963-04-30, § 776 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, § 777 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Mai 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die 1894 geborene Klägerin ist die Ehefrau des Landwirts A R. Letzterer bewirtschaftete im April 1969 1,46 ar Gartenland; weitere 28,54 ar Reutfeld wurden nicht bewirtschaftet. An Vieh wurden lediglich zehn Hühner gehalten; diese wurden zu 20% mit selbsterzeugten Kartoffeln als Weichfutter, im übrigen mit angekauftem Körnerfutter und Legemehl gefüttert. Am Abend des 22. April 1969 bereitete die Klägerin das Hühnerfutter für den nächsten Tag vor. Beim Versuch, die auf dem Küchenherd gekochten Kartoffeln zum Abkühlen auf den Hof zu bringen, kam sie zu Fall; sie erlitt am linken Fuß einen Knöchelbruch und stand deswegen, wie es im Urteil des Berufungsgerichts heißt, im Krankenhaus B bis zum 5. Juli 1969 in stationärer und bis zum 1. Oktober 1969 in ambulanter Behandlung.
Mit Bescheid vom 18. November 1969 lehnte die Beklagte die Gewährung von Unfallentschädigung mit der Begründung ab, daß ein Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes nicht vorgelegen habe. Die Hühnerhaltung könne nicht als ein Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens angesehen werden, weil das Hühnerfutter nicht überwiegend aus eigenen Erzeugnissen gestammt habe.
Das Sozialgericht Karlsruhe hat die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage mit Urteil vom 26. Januar 1971 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Beklagte unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 22. April 1969 die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu bewilligen (Urteil vom 29. Mai 1972). Es hat ausgeführt: Die Hühnerhaltung sei dem landwirtschaftlichen Unternehmen ohne Rücksicht auf dessen Größe zuzurechnen, wenn nicht klar erwiesen sei, daß die Hühnerhaltung außer jedem Zusammenhang mit der Landwirtschaft stehe. Für die Annahme dieses Zusammenhangs genüge es, wenn das Futter in nicht ganz unbedeutendem Umfange aus den Erträgnissen der selbst bewirtschafteten Grundstücke stamme. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt:
Die Klägerin habe den Unfall nicht bei einer typisch landwirtschaftlichen Arbeit erlitten. Die Hühnerhaltung habe auch für sich allein keinen Unfallversicherungsschutz begründet. Ferner könne die unfallbringende Arbeit nicht einem versicherten "Haushalt" zugerechnet werden, weil dieser nicht wesentlich der Landwirtschaft gedient habe. Schließlich sei die Hühnerhaltung hier auch nicht, wie es das LSG getan habe, dem landwirtschaftlichen Unternehmen als Bestandteil zuzuordnen. Letzteres sei nur möglich, wenn die Tierhaltung von der Bodenbewirtschaftung abhängig sei; das sei nur dann der Fall, wenn die Futtergrundlage überwiegend auf der Bodenbewirtschaftung beruhe. Auf dieses Merkmal könne nicht verzichtet werden, da es sonst an einem Unterschied zu einer Tierhaltung, wie sie vielerorts außerhalb der Landwirtschaft anzutreffen sei, fehlen würde. Es komme hinzu, daß Kern der Hühnerhaltung das Körnerfutter sei, während hier nur das Weichfutter eigener Bodenbewirtschaftung entstamme. Das LSG habe zudem übersehen, daß schon nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) das Halten von Geflügel unversichert sei, wenn daneben eine nur ganz unbedeutende Bodenbewirtschaftung erfolge.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist der Unfall bei der Ausübung einer versicherten Tätigkeit eingetreten. Die das angefochtene Urteil tragende Ansicht, daß die Hühnerhaltung dem landwirtschaftlichen Betrieb des Ehemannes der Klägerin zuzuordnen ist, läßt einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Schon das frühere RVA ist in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, daß das Halten von Kleinvieh, insbesondere von Hühnern, einen Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens darstellt, sofern nicht klar erwiesen ist, daß es außer jedem Zusammenhang mit der Landwirtschaft steht (vgl. RVA EuM 26, 357 (358); 37, 449; vgl. ferner Bayer. LVA, Breithaupt 40, 790 (791)). An einem solchen Zusammenhang hat es hier nicht gefehlt; er ist, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, darin zu finden, daß etwa ein Fünftel des Futterbedarfs durch die Erzeugung des Betriebes gedeckt wurde. Die demgegenüber von der Revision vertretene Ansicht, der erforderliche Zusammenhang sei nur gegeben, wenn das Futter überwiegend in dem landwirtschaftlichen Unternehmen erzeugt werde, läßt eine überzeugende Begründung vermissen; auch der Rechtsprechung des früheren RVA, von der die Revision ausgeht, sind dahingehende Anhaltspunkte nicht zu entnehmen. Sicherlich vermag eine Kleinviehhaltung geringen Umfangs, die in keinem Zusammenhang mit der Landwirtschaft steht, Unfallversicherungsschutz nicht zu begründen. Ein versicherungsrechtlich wesentlicher Zusammenhang im oben genannten Sinne ist jedoch nicht nur anzunehmen, wenn sich die Viehhaltung förderlich auf die Bodenbewirtschaftung auswirkt oder letztere die Viehfütterung im wesentlichen sicherstellt; er ist vielmehr auch gegeben, wenn ein für die natürliche Betrachtungsweise ins Gewicht fallender Teil des Futters - hier ein Fünftel - unmittelbar dem Bodenertrag entstammt.
Eine Abstellung darauf, ob der Zusammenhang zwischen Viehhaltung und Bodenbewirtschaftung besonders eng ist, insbesondere, ob - wie die Revision meint - das Futter überwiegend dem Bodenertrag entnommen wird, würde eine durch nichts gerechtfertigte Abkehr von einer seit Jahrzehnten bewährten, der allgemeinen Rechtsauffassung wie auch den sozialen Bedürfnissen gerade kleinerer landwirtschaftlicher Unternehmer Rechnung tragenden Rechtsprechung insbesondere des früheren RVA, das - soweit ersichtlich - den Gedanken einer Einschränkung im Sinne der Revision nirgendwo zum Ausdruck gebracht hat, zum Nachteil der Betroffenen darstellen. Dabei kann dahinstehen, ob ein Erfahrungssatz - wie das LSG andeutet - dahin besteht, daß der Landwirt in zunehmendem Maße heute einen erheblichen Teil des Viehfutters nicht mehr selbst erzeugt, sondern ihn von anderen Stellen bezieht und ob darin ein wesentliches Element der Strukturverbesserung im Bereich der Landwirtschaft zu erblicken ist. Denn unabhängig hiervon können heute zumindest keine strengeren Anforderungen an den Versicherungsschutz als früher gestellt werden. Es genügt also, daß das Viehfutter " zum mindesten teilweise " aus der Landwirtschaft stammt (vgl. RVA EuM 26, 358 (359)), und es ist nicht zu fordern, daß Viehfutter in jedem Falle "überwiegend" in dem landwirtschaftlichen Unternehmen erzeugt wird. Zu einer Erörterung der Frage, ob und ggf. in welchem Sinne allgemein eine Auflockerung der von der früheren Rechtsprechung entwickelten Grundsätze angebracht erscheint, bietet die gegenwärtige Streitsache keinen Anlaß. Hier genügt die Erwägung, daß jedenfalls für Einschränkungen gegenüber der überkommenen Rechtsübung, wie sie die Revision vorgenommen sehen möchte, kein Raum ist.
Zu Unrecht beruft sich die Revision schließlich auf die Rechtsprechung des früheren RVA, wonach das Halten von Geflügel unversichert sei, wenn daneben keine oder eine nur ganz unbedeutende Bodenbewirtschaftung erfolgt. Zwar ist die hier bewirtschaftete Fläche (1,46 ar von insgesamt 30 ar) sehr klein; diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch allein auf Fälle, in denen die Bodenbewirtschaftung wegen ihres geringen Umfanges für die Annahme eines landwirtschaftlichen Unternehmens nicht ausreichte (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juni 1973 - SozR Nr. 40 zu § 539 RVO), während hier vom Vorliegen eines solchen Unternehmens - unabhängig von der Tierhaltung - ausgegangen werden muß. Durch eine Viehhaltung, die über den durch die "Entscheidung" des früheren RVA vom 2. Juni 1889 (AN 1889, 321 Nr. 712) gezogenen untersten Rahmen (Halten eines oder weniger Tiere) nicht hinausgeht, wird der Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nicht begründet (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. März 1973 - SozR Nr. 7 zu § 776 RVO); sie ist diesem Schutz nur dann unterstellt, wenn sie im Zusammenhang mit einem auf Bodenbewirtschaftung gerichteten Unternehmen der Landwirtschaft betrieben wird. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn die Bodenbewirtschaftung nur ganz unbedeutend und deswegen ein landwirtschaftliches Unternehmen nicht gegeben ist. Nur dies hat das frühere RVA in Fällen, bei denen der Tierhalter Landbriefträger, Gastwirt bzw. Inhaber eines Spezereigeschäftes, Lehrer, Pfarrer oder Bahnhofsvorsteher war, zum Ausdruck gebracht (vgl. RVA in EuM 21, 210 (211); EuM 26, 358/359). Dafür, daß damit eine im Zusammenhang mit einem landwirtschaftlichen Unternehmen betriebene Viehhaltung von dem dieses Unternehmen erfassenden Unfallversicherungsschutz ausgenommen werden sollte, fehlt es an jedem Anhalt; es ist auch kein Grund ersichtlich, der eine solche Einschränkung rechtfertigen könnte.
Nach den Feststellungen des LSG ist die Klägerin als Ehefrau des Landwirts und Unternehmers A R bei Tätigkeiten, die mit dem landwirtschaftlichen Unternehmen im Zusammenhang stehen, gegen Arbeitsunfall versichert gewesen (§§ 539 Abs. 1 Nr. 5, 776, 777 RVO). Die darin liegende Feststellung des LSG, daß der Ehemann der Klägerin zZt. des Unfalls ein Unternehmen der Landwirtschaft im Sinne von § 776 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) betrieben hat, ist weder durch Verfahrensrügen angegriffen noch im übrigen rechtlich zu beanstanden. Auch die Beklagte ist hiervon ausgegangen (vgl. auch noch Revisionsbegründung S. 3), insbesondere hat sie, worauf die Klägerin hingewiesen und was das LSG im Urteilstatbestand erwähnt hat, offenbar jedenfalls bis zum Unfall widerspruchslos Beiträge entgegengenommen (vgl. Klageschrift vom 16. Dezember 1969) und unstreitig den Ehemann der Klägerin als Mitglied (Mitgl.-Nr. 0138/-/361) geführt. Demnach lag zumindest ein formalrechtliches Versicherungsverhältnis vor (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juni 1973 - SozR Nr. 40 zu § 539 RVO). Daß die Klägerin bzw. ihr Ehemann "schon viele Jahre, ohne jemals Leistungen beansprucht zu haben, Beiträge zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung" gezahlt haben, hat die Beklagte zudem in ihrem Schriftsatz vom 7. April 1970 eingeräumt. Damit konnte dahinstehen, ob für die Annahme eines landwirtschaftlichen Betriebes nicht ohnedies schon die Größe der Gesamt-Bodenfläche von 3000 qm (also über der Grenze von 2500 qm - vgl. SozR Nr. 40 zu § 539 RVO) mit Rücksicht auf die hier gegebenen Umstände ausgereicht hätte. Nach alledem erstreckte sich der Unfallversicherungsschutz gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 5 RVO grundsätzlich auch auf die mit dem Ehemann in häuslicher Gemeinschaft lebende Ehefrau (die Klägerin). Da sich der Unfall der Klägerin bei der Zubereitung des Hühnerfutters ereignete und die Hühnerhaltung dem Unternehmen des Ehemannes zuzurechnen war, stand die Klägerin im Unfallzeitpunkt somit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen