Leitsatz (amtlich)
Ist die Arbeitnehmer-Eigenschaft (AVAVG § 75 Abs 1) vorhanden, so kann die Anspruchsvoraussetzung einer entlohnten Beschäftigung von mindestens zehn Wochen auch durch Leistung von entsprechender Fürsorgearbeit erfüllt werden, wenn ein derartiges Beschäftigungsverhältnis weder als geringfügig noch als gelegentlich anzusehen ist.
Normenkette
AVAVG § 145 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-04-03, § 75 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Januar 1959 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Die 1908 geborene Klägerin ist seit 1949 rechtskräftig geschieden. Sie bezog seit Juni 1950 laufend Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu), danach Arbeitslosenhilfe (Alhi). Früher war sie als gewerbliche Arbeiterin tätig gewesen; nach ihren eigenen Angaben in den Anträgen auf Alfu hatte sie jedoch seit 1931 oder 1933 Arbeitnehmertätigkeit nicht mehr verrichtet. Im September 1956 entzog die Beklagte der Klägerin die Alhi mit der Begründung, daß sie die Leistungsvoraussetzungen nach Maßgabe des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. April 1956 (AVAVG) nicht erfülle. Diese Maßnahme der Beklagten blieb unangefochten.
Laut Arbeitsbescheinigung des Magistrats der Stadt G... war die Klägerin vom 1. Oktober bis zum 8. Dezember 1956 als Fürsorgearbeiterin mit der Sauberhaltung der städtischen Park- und Grünanlagen beschäftigt. Die Arbeitszeit dabei betrug 48 Stunden in der Woche, die Entlohnung war ortsüblich. Diese Beschäftigung war gemäß Arbeitsvertrag von Anfang an auf die Dauer von zehn Wochen beschränkt. Anschließend meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos. Daraufhin wurde ihr vom 10. Dezember 1956 an neuerdings Alhi bewilligt. Die Beklagte stellte jedoch mit Bescheid vom 22. Juni 1957 die Zahlung der Alhi ab 27. Juni 1957 wieder ein; es könne nicht anerkannt werden, daß die Klägerin durch die Beschäftigung bei der Stadt G... die Arbeitnehmereigenschaft erworben habe, da es sich nicht um eine solche unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts gehandelt habe. Die Beklagte stützte ihre Entscheidung auf § 145 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 75 AVAVG nF. Mit der gleichen Begründung wies sie den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 1. August 1957 zurück.
II. Auf ihre Klage hin hob das Sozialgericht (SG), nachdem es über Art und Umfang der Beschäftigung der Klägerin Beweis erhoben sowie den Bezirksfürsorgeverband des Kreises S... in I... und die Stadtverwaltung G... zum Verfahren beigeladen hatte, den angefochtenen Widerspruchsbescheid auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin die Arbeitslosenhilfe zu gewähren (Urteil vom 29. April 1958). Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) - das anstelle der Stadtverwaltung G... die Stadt selbst, vertreten durch den Magistrat, beigeladen hatte - zurückgewiesen (Urteil vom 9. Januar 1959). Die Zulässigkeit der Klage sei mit dem SG zu bejahen. Durch die Entziehung der Alhi sei die Klägerin tatsächlich beschwert; alsdann spiele es keine Rolle, ob sie den Rechtsweg möglicherweise nur auf Betreiben der Fürsorgebehörde beschritten habe. Ausschlaggebend für die Zulassung einer Anfechtungsklage seien nicht die Motive des Klägers, sondern der objektive Sachverhalt. Materiellrechtlich ging das LSG, das für seine Feststellungen die Unterstützungsakten der Arbeitsverwaltung in Bezug genommen sowie zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hatte, davon aus, daß die Klägerin mit den von ihr verrichteten Arbeitsleistungen das Erfordernis einer entlohnten Beschäftigung im Sinne und im geforderten Umfange des § 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVAVG nF erfüllt habe. Daß es sich dabei um Fürsorgearbeit nach § 19 der Reichsfürsorgepflichtverordnung ( RFürsPflVO ) gehandelt habe, ändere daran nichts. Es habe ein vertraglich geordnetes Arbeitsverhältnis mit ortsüblicher Entlohnung und einer wöchentlichen Arbeitszeit von grundsätzlich 48 Stunden vorgelegen. Die Beweggründe, die zur Aufnahme jener Tätigkeit geführt hätten, spielten rechtlich ebensowenig eine Rolle wie die Frage, ob es sich hierbei um eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts gehandelt habe. Deshalb bleibe auch unbeachtlich, ob die Fürsorgebehörde die Arbeit ausschließlich mit dem Ziel vermittelte, den Fürsorgebetreuten wieder in den Genuß der Alhi zu bringen. Für die Begrenzung des Begriffs "entlohnte Beschäftigung" bleibe auch ohne Belang, ob die Klägerin die ausgeübte Tätigkeit freiwillig aufgenommen, ob sie gemeinnützig im Sinne fürsorgerechtlicher Bestimmungen gewesen oder gar eine solche sei, die nach ihren Anforderungen auch von einem Berufsunfähigen verrichtet werden könne.
Revision wurde zugelassen.
III. Die Beklagte legte gegen das ihr am 12. März 1959 zugestellte Urteil am 11. April Revision ein und begründete diese am 6. Mai 1959. Das LSG habe nicht allein die Anspruchsvoraussetzung einer zehnwöchentlichen Beschäftigung untersuchen, sondern zuvor ermitteln müssen, ob die Klägerin überhaupt arbeitslos gewesen sei. Die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit sei hier zu verneinen, weil der Klägerin die Eigenschaft als Arbeitnehmerin fehle. Seit Oktober 1931 habe sie, mit Ausnahme der Beschäftigung als Fürsorgearbeiterin, Arbeitnehmertätigkeit nicht mehr ausgeübt. Daraus ergebe sich, daß sie ihren Lebensunterhalt nicht auf Dauer aus einer Arbeitnehmertätigkeit zu bestreuen pflege. Die Verrichtung von Fürsorgearbeit, die sie zudem nicht aus eigenem Antrieb eingegangen sei, habe - wie sich aus den Umständen ergebe - nur dem Zweck gedient, der Klägerin eine höhere Unterstützung als die Wohlfahrtssätze zu verschaffen. Mit einer solchen Beschäftigung könne jedoch die berufsmäßige Arbeitnehmereigenschaft zumindest dann nicht erworben werden, wenn es an dem erforderlichen Willen, künftig als Arbeitnehmerin tätig zu sein, fehle. Infolgedessen sei die Unterstützung der Klägerin zu Recht gemäß § 185 AVAVG entzogen worden.
Die Beklagte beantragte,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts vom 29. April 1958 aufzuheben und die Klägerin mit der Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist durch einen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) nicht vertreten. Sie hat Erklärungen im Revisionsverfahren nicht abgegeben und Anträge nicht gestellt.
Der beigeladene Bezirksfürsorgeverband beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Seiner Auffassung nach hat das LSG für die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin ausreichende Feststellungen getroffen. § 75 AVAVG nF diene in erster Linie der Abgrenzung des Arbeitnehmers zu den selbständigen Erwerbstätigen. Auch wer jahrelang nicht berufstätig oder als selbständiger Gewerbetreibender tätig gewesen sei, könne die Arbeitnehmereigenschaft erwerben, wenn dies durch entsprechende Tatsachen erhärtet sei. Hierfür genüge aber die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als Fürsorgearbeiterin.
Die beigeladene Stadt G... hat im Revisionsverfahren weder Erklärungen abgegeben noch Anträge gestellt.
IV Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und deswegen zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Angefochten ist der Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 1957 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. August 1957; somit ist Gegenstand der Klage (Streitgegenstand) die Einstellung (Entziehung) der der Klägerin zunächst auf unbestimmte Zeit bewilligten Alhi mit Wirkung vom 27. Juni 1957 an (§ 95 SGG). Deswegen war schon das Rechtsmittel der Berufung zulässig (§ 143 SGG).
Im Ergebnis zutreffend hat das LSG vorliegend die Zulässigkeit der Anfechtungsklage (Aufhebungsklage) bejaht. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG zufolge ist eine solche Klage zulässig, wenn der Kläger - schlüssig - behauptet, durch den angefochtenen Verwaltungsakt beschwert zu sein. Die tatsächliche (objektive) Beschwer allein reicht für die Zulässigkeit allerdings nicht aus, wie offenbar das LSG mißverständlich annimmt. Diese gehört vielmehr zur Begründetheit der Klage (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl. Anm. 2 d zu § 54 SGG; BVerwG 1, 91; Haueisen in DOK 1955, 8). Die Beschwer unterliegt indessen in einem derartigen Fall keiner besonderen Substantiierungspflicht. Es genügt, wenn der Betroffene mit seiner Klage erkennbar die Beseitigung einer in seine Rechtssphäre eingreifende Verwaltungsmaßnahme anstrebt, indem er behauptet, daß sie nicht Rechtens sei (vgl. BSG 7, 169, 170). Dies hat die Klägerin durch das Vorbringen ihres Prozeßbevollmächtigten in den Vorinstanzen getan, das ihr infolge ordnungsmäßiger Vollmacht (§ 73 SGG) als eigener Vortrag zuzurechnen ist. Ohne Rechtsirrtum hat das LSG ferner festgestellt, daß die Motive einer Klage für deren Zulässigkeit regelmäßig keine Rolle spielen. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Rechtsweg gegen den Entzug der Alfu lediglich auf Betreiben der Fürsorgebehörde beschritten wurde oder nicht. Ausschlaggebend ist, daß die Klage tatsächlich von der betroffenen Klägerin erhoben wurde und daß sie zulässig ist.
V. Nach § 185 Abs. 1 AVAVG nF, der über § 144 Abs. 1 Satz 2 aaO auch für die Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe gilt, ist der Anspruch von Amts wegen zu entziehen, wenn seine Voraussetzungen nicht vorlagen oder weggefallen sind.
Anspruch auf Unterstützung hat nach § 145 AVAVG nF - neben anderen, hier nicht streitigen Voraussetzungen -, wer
a) arbeitslos ist (§ 145 Abs. 1 Nr. 1 aaO),
b) die sogenannte "kleine Anwartschaft" erfüllt hat, nämlich mindestens zehn Wochen in entlohnter Beschäftigung gestanden hat (§ 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b aaO).
Rechtliche Bedenken erwachsen nicht dagegen, daß das LSG hier eine entlohnte Beschäftigung von mindestens zehn Wochen zugrunde gelegt hat. Seinen einschlägigen Feststellungen nach (§ 163 SGG) erstreckte sich die von der Klägerin verrichtete Fürsorgearbeit auf die vom Gesetz geforderte Mindestdauer und hatte mehr als geringfügigen Umfang. Das Arbeitsentgelt stand zu der Arbeitsleistung in einem angemessenen Verhältnis. Ohne Belang ist alsdann, ob Ausgangspunkt der Fürsorgearbeit ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag war oder ob es sich um eine öffentlichrechtliche Unterstützung in Form der Gewährung von Arbeit (§ 19 RFürsPflVO ) handelte. § 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVAVG nF stellt nicht auf die Rechtsform der Tätigkeit ab, sondern auf ihre tatsächliche Leistung (Verrichtung). Der Anlaß zur Aufnahme einer solchen Beschäftigung ist bei der Beurteilung ihrer Tatbestandsmäßigkeit ebenso unwesentlich wie der Beweggrund, mit dem etwa ein Dritter einen Antragsteller - hier die Fürsorgebehörde die Klägerin - in Arbeit brachte (vgl. Jehle, Fürsorgerecht, Handkommentar 3. Aufl. Anm. 2 RFürsPflVO ). Entgegen der Auffassung der Beklagten fordert § 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b aaO weiterhin nicht, daß die als anwartschaftsbegründend vorgesehene Beschäftigung ihrer Art nach den "üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts" entsprechen müsse. Außer Betracht bleiben lediglich die von der Vorschrift selbst (Satz 4 aaO) angeführten Ausnahmen. Von Gesetzes wegen kann daher die Anspruchsvoraussetzung einer entlohnten Beschäftigung von mindestens zehn Wochen, sofern die Arbeitnehmereigenschaft vorhanden ist, durch Leistung von entsprechender Fürsorgearbeit erfüllt werden, wenn ein derartiges Beschäftigungsverhältnis weder als geringfügig noch als gelegentlich anzusehen ist. Abhängig bleibt jedoch der Unterstützungsanspruch auch hier davon, daß für eine in jener Weise beschäftigte Person zugleich die Voraussetzung der Arbeitslosigkeit (§ 145 Abs. 1 Nr. 1 aaO) nachgewiesen ist.
VI. Arbeitslos im Sinne von § 145 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG nF ist (ebenso wie im Sinne von § 74 Abs. 1 aaO), "wer berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt" (§ 75 Abs. 1 AVAVG nF). Die Beurteilung der "berufsmäßigen Arbeitnehmereigenschaft" hat, weil das Gesetz selbst als Merkmal das Tätigkeitswort "pflegt" verwendet, entscheidend darauf abzustellen, ob die Gesamtschau der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Antragstellers den Schluß zuläßt, daß seine Lebensgrundlage in dem Zeitpunkt der Antragstellung und für die Zukunft die unselbständige Beschäftigung gegen Entgelt bildet. Im vorliegenden Falle ist indessen die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin, die entsprechend der Systematik des AVAVG zweckmäßigerweise vorweg untersucht worden wäre, von den Vorderrichtern nicht ausreichend festgestellt worden. Der in dem Tatbestand des Berufungsurteils aufgenommene Vermerk, daß die Klägerin "Arbeiterin war", genügt dafür nicht. Diese hat nämlich, den vom LSG beigezogenen und zum Gegenstand der Verhandlung gemachten Unterstützungsakten zufolge, offenbar zwischen 1931 (oder 1933) und ihrer ersten Arbeitslosmeldung 1950 nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden und damals auch keine Heimarbeit verrichtet. Der Zeitraum ihres Unterstützungsbezugs von Juni 1950 bis September 1956 ist ebenfalls von entgeltlichen Beschäftigungen nicht unterbrochen. Daher könnte im Verlauf so vieler Jahre die Klägerin den Willen, künftig in abhängiger Beschäftigung ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aufgegeben und somit die Eigenschaft als Arbeitnehmerin verloren haben. Da sie bis 1949 verheiratet war, hat möglicherweise für sie auch die Notwendigkeit nicht bestanden, berufsmäßig einem Erwerb nachzugehen. Die Leistung von Fürsorgearbeit allein (vom 1. Oktober bis 8. Dezember 1956) kann aber die Arbeitnehmereigenschaft nicht begründen; diese muß zurzeit ihrer Verrichtung vielmehr bereits vorhanden sein, wenn damit die "kleine Anwartschaft" (§ 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b aaO) erworben werden soll (vgl. Jehle aaO Anm. 2 zu § 19 RFürsPflVO ; Draeger DÖV 1957, 65, 67).
VII. Die Revision der Beklagten ist mithin insoweit begründet, als die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin in Zweifel steht. Da ihr berufliches Schicksal bereits von 1933 an, insbesondere aber auch nach ihrer Scheidung 1949, unerörtert sowie ihre Bereitschaft zur Verwertung ihrer Arbeitskraft im Erwerbsleben ungeklärt geblieben sind, müssen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin entsprechende tatsächliche Feststellungen nachgeholt werden. Diese kann der erkennende Senat selbst nicht treffen. Das Urteil des LSG muß deshalb aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen