Orientierungssatz
Verfolgungsbedingte Arbeitslosigkeit (RVO § 1251 Abs 1 Nr 4):
Zur Frage, ob ein Selbständiger, der seine bisherige selbständige Tätigkeit aus Verfolgungsgründen hat aufgeben müssen, gleichwohl arbeitslos sein kann, wenn er alsdann nicht mehr selbständig sein will, sondern ernstlich bereit ist, in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein.
Normenkette
RVO § 1249 S. 2 Buchst. b Fassung: 1965-06-09, § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.04.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1970 aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Wartezeit für die von der Klägerin begehrte Witwenrente erfüllt ist, insbesondere ob die Voraussetzungen des § 1249 Satz 2 Buchst. b der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorliegen.
Der ... 1886 in W (Ostpreußen) geborene und am 21. Februar 1963 in M (Uruguay) verstorbene Ehemann der Klägerin, der nach 1933 aus rassischen und religiösen Gründen verfolgt und 1939 aus Deutschland nach M geflohen war, war nach den Angaben, die er früher zu seinem Rentenantrag gemacht hatte, von 1903 bis 1913 mit Unterbrechungen bei mehreren Firmen beschäftigt und danach mit Unterbrechung von 1930 bis 1932 selbständiger Kaufmann gewesen.
Das zuständige Landesamt für Wiedergutmachung hat folgende Ersatzzeiten des Ehemannes der Klägerin bescheinigt: Arbeitslosigkeit vom 1. Juli 1938 bis April 1939 und Auslandsaufenthalte von April 1939 bis 31. Dezember 1949. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) hat für ihn kein Beitragskonto. Durch Bescheid vom 22. Oktober 1957 hat die BfA den Antrag des Versicherten, ihm Altersruhegeld zu gewähren, bindend abgelehnt.
Den Antrag der Klägerin, ihr Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes zu gewähren, lehnte die Beklagte ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei; die vor 1924 zurückgelegten, lediglich glaubhaft gemachten und deshalb um 1/6 zu kürzenden Beitragszeiten und die Verfolgungszeiten des Versicherten ergäben nicht die nach § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO notwendigen 180 Monate Versicherungszeit (Bescheid vom 18. Dezember 1967).
Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteile vom 29. Januar 1969 und 22. April 1970); das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1970 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat es von seinem Standpunkt aus nicht für notwendig erachtet, die vom Ehemann der Klägerin zurückgelegten Beitragszeiten genau und abschließend festzustellen, weil selbst die günstigste Anrechnung dieser Zeiten zusammen mit den Zeiten des Auslandsaufenthaltes des Versicherten als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nur eine Gesamtversicherungszeit von höchstens 179 Monaten statt der nach der 2. Alternative des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO notwendigen 180 Monate ergebe. Die Gesamtversicherungszeit von 180 Monaten möchte die Revision dadurch erreichen, daß die Zeiten vom 1. Juli 1938 bis 31. März 1939 zusätzlich als Zeiten einer verfolgungsbedingten Arbeitslosigkeit und damit als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO gutgebracht werden.
Mit Recht hat das LSG bei seinen Erwägungen ua. den Gedanken verfolgt, ob ein Selbständiger, der seine bisherige selbständige Tätigkeit aus Verfolgungsgründen hat aufgeben müssen, gleichwohl arbeitslos sein kann, wenn er alsdann nicht mehr selbständig sein will, sondern ernstlich bereit ist, in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein. Im Zeitpunkt seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht den Nachweis der Tatsachen vermißt, daß der Ehemann der Klägerin nach dem verfolgungsbedingten Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit ernstlich bereit gewesen war, einer Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu Erwerbszwecken nachzugehen. Da aber - mit Rückwirkung auf frühere Versicherungsfälle - die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO inzwischen durch Art. 2 § 1 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) neu gefaßt und erweitert worden ist - ein Ersatzzeitgeschehnis ist nunmehr nicht nur eine Zeit der Freiheitsentziehung und der Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 43 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), sondern auch eine solche im Sinne des § 47 BEG -, dem § 1251 RVO durch Art. 2 § 1 Nr. 2 Buchst. b WGSVG ein neuer Absatz 3 angefügt worden ist, wonach Arbeitslosigkeit im Sinne des Absatzes 1 Nr. 4 für die Zeit vor dem 1. Januar 1947 nicht dadurch ausgeschlossen ist, daß der Versicherte sich der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestellt hat, schließlich für die Feststellung der nach dem WGSVG erheblichen Tatsachen nach Art. 1 § 3 Abs. 1 Satz 1 WGSVG es genügt, wenn sie glaubhaft gemacht sind, was insgesamt möglicherweise zu der begehrten Witwenrente vom 1. Februar 1971 an führen kann (vgl. Art. 4 § 2 Abs. 2, 2.Halbsatz WGSVG), ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Klägerin ist nunmehr die Möglichkeit eröffnet, alle zu § 1251 RVO nF erforderlichen Tatsachen im einzelnen vorzutragen und glaubhaft zu machen. Dabei wird es freilich nicht ausreichen, allein auf die Tatsachen der Aufgabe und späteren Wiedererlangung der Selbständigkeit und des Verfolgtenschicksals abzuheben.
Im übrigen wird das LSG prüfen müssen, ob es in dem von ihm angenommenen günstigsten Fall, falls sich dieser bei einer Nachprüfung bestätigt, überhaupt auf die Anrechnung weiterer Ersatzzeiten ankommt; möglicherweise kann die Gesamtversicherungszeit von 180 Monaten schon bei Anwendung des § 1250 Abs. 2 Satz 3 RVO unter Berücksichtigung des Urteils des erkennenden Senats vom 26. Mai 1970 - 12 RJ 454/69 - (SozR Nr. 16 zu § 1250 RVO) erreicht werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen