Entscheidungsstichwort (Thema)

Beurteilung der Berufsunfähigkeit von Teilzeitarbeitskräften

 

Orientierungssatz

Ein Versicherter, dem im wesentlichen nach alle leichten bis mittelschweren Erwerbstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes halbtags zugemutet werden können, ist nicht berufsunfähig (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167). Es bedarf daher keiner besonderen Ermittlung über einen konkreten Arbeitsplatz.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 06.08.1970)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. August 1970 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob der Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit beanspruchen kann.

Der 1920 geborene Kläger erlernte keinen Beruf. Er war zuletzt - seit 1961 - als Versicherungsvertreter im Außendienst beschäftigt.

Seinen im April 1968 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte aufgrund der Beurteilung des Internisten Dr. S ab (Bescheid vom 9. Juli 1968). Nachdem die Beklagte im Oktober/November 1968 eine Heilbehandlung des Klägers veranlaßt hatte, beantragte der Kläger im Dezember 1968 erneut die Rente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag unter Berufung auf die §§ 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 1635 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab (Bescheid vom 14. Februar 1969). Während des Klageverfahrens beauftragte die Beklagte den Facharzt für innere Krankheiten Dr. U mit einer nochmaligen Untersuchung und Begutachtung des Klägers. Sie erteilte sodann einen weiteren Bescheid, in welchem der Rentenantrag vom Dezember 1968 mit der Begründung abgelehnt wurde, der Kläger sei auch jetzt nicht berufsunfähig (Bescheid vom 17. Juli 1969).

Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) war der Auffassung, der Kläger müsse sich nach seinem Berufsbild auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen. Ihm sei daher eine Halbtagsbeschäftigung im Büro mit leichten Verwaltungs- und Schreibarbeiten zuzumuten. Es könne allerdings nicht festgestellt werden, ob es dem Kläger möglich sei, die ihm gesundheitlich verbliebene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verwerten. Die in einer vergleichbaren anderen Streitsache durchgeführten und den Beteiligten zur Kenntnis gebrachten Ermittlungen des Gerichts hätten zu keiner Klärung der Frage geführt, ob für den Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Damit fehle es an einer Voraussetzung für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast habe der Kläger die Folgen dieser Nichtfeststellbarkeit zu tragen (Urteil vom 6. August 1970).

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 23, 24 AVG durch das Berufungsgericht.

Die Rechtsausführungen des LSG zur Frage der objektiven Beweislast seien rechtsirrtümlich und mit der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zu vereinbaren. Der Große Senat habe in dem vom LSG angeführten Beschluß vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167) ausgeführt, daß die "Unaufklärbarkeit" der Zahl der auf einen Teilzeitarbeitsmarkt angewiesenen Personen und der Zahl der entsprechenden Arbeitsplätze zu einer Umkehrung der sonst üblichen Beweislastverteilung führe. Dementsprechend habe der 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. September 1970 (5 RKn 26/69) entschieden, daß der Arbeitsmarkt dann praktisch verschlossen sei, wenn die Bundesanstalt für Arbeit nicht die für die Aufklärung notwendigen Zahlen nennen könne. Unter Beachtung dieser Rechtsprechung und der vom LSG getroffenen Feststellung über die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Klägers müsse daher das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit, zumindest aber von Berufsunfähigkeit bejaht werden.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG und des Sozialgerichts vom 6. August 1970 und 15. Oktober 1969 sowie die Bescheide der Beklagten vom 14. Februar und 17. Juli 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, mindestens aber Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1969 an zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie stimmt dem angefochtenen Urteil nur im Ergebnis zu. Das LSG habe verkannt, daß der Große Senat des BSG in seinem Beschluß GS 4/69 nach den von der Bundesanstalt für Arbeit aufgrund des Mikrozensus ermittelten Zahlen bereits festgestellt habe, daß für Teilzeitarbeitskräfte, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten können, der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen sei. Diese Versicherten seien somit nur berufsunfähig, wenn über die zeitliche Einschränkung hinaus noch weitere Einschränkungen bestünden. Da letzteres beim Kläger nicht zutreffe, sei er nicht berufsunfähig. Der Feststellung des LSG bezüglich der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze habe es daher nicht bedurft, so daß auch die Frage der objektiven Beweislast unerheblich sei.

Demgegenüber verweist die Revision noch darauf, daß die von der Bundesanstalt für Arbeit ermittelten einschlägigen Zahlen auf Feststellungen aus dem Jahre 1967 und früher beruhen. Veränderungen, die seither auf dem Teilzeitarbeitsmarkt eingetreten seien, habe somit der Große Senat in seinem Beschluß aus dem Jahre 1969 nicht berücksichtigen können.

II

Die Revision ist nicht begründet. Der Entscheidung des LSG ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen.

Das LSG hat zutreffend angenommen, daß sich der Kläger auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen muß, weil für ihn damit nach seinem beruflichen Werdegang kein sozialer Abstieg i.S. des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG verbunden ist. Nach den Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Dr. S, Dr. K und Dr. U auf die das LSG seine Entscheidung gestützt hat, kann der Kläger solche Arbeiten noch halbtags ohne Gefährdung seiner Gesundheit verrichten.

Des weiteren ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß die für die Frage der Berufsunfähigkeit i.S. des § 23 Abs. 2 AVG sonach entscheidende Frage, ob dem Leistungsvermögen des Klägers entsprechende Arbeitsplätze in ausreichender Zahl im Verweisungsgebiet der Bundesrepublik vorhanden sind, anhand des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSG 30, 167) zu prüfen ist. Nach den Feststellungen des LSG fällt der Kläger unter die Gruppe derjenigen Versicherten, die im Sinne des Abschn. C V Ziff. 2 a des Beschlusses noch halbschichtig arbeiten können und die im wesentlichen auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar sind. Gesundheitliche Beschränkungen, die über die zeitliche Einschränkung hinausgehen und den Einsatz des Klägers nur noch auf einen stark eingeschränkten Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes i.S. des Abschn. C V Ziff. 2 b des Beschlusses zulassen würden, liegen nach den Feststellungen des LSG nicht vor. Der Kläger kann hiernach lediglich seine letzte Tätigkeit als Versicherungsvertreter im Außendienst nicht weiter ausüben. Zwar ist im angefochtenen Urteil nicht ausdrücklich gesagt, daß der Kläger außer den vom LSG genannten halbtägigen leichten Büroarbeiten auch sonstige leichte bis mittelschwere Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verrichten könne. In den Gutachten der genannten ärztlichen Sachverständigen, auf welche sich das LSG bezogen hat, werden indes dem Kläger im wesentlichen alle leichten bis mittelschweren Erwerbstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch halbtags zugemutet.

Teilzeitarbeitskräfte mit einem derartigen Leistungsvermögen sind aber nach der Entscheidung des Großen Senats aaO (vgl. Teil C V 2 a = BSG 30, 189) nicht berufsunfähig. Dies hat das LSG ebenso wie die Revision verkannt. Da somit der Kläger zu der Gruppe derjenigen beschränkt einsatzfähigen Versicherten gehört, bei denen eine Typisierung erlaubt ist, bedurfte es keiner besonderen Ermittlung über den konkreten Arbeitsplatz. Im übrigen kommt es entgegen der Auffassung der Revision auf das Ergebnis der vom LSG angestellten Nachforschungen auch deswegen nicht an, weil sich diese lediglich auf die Arbeitsmarktlage für halbtägige Büroarbeiten und somit gerade nicht auf das allgemeine Arbeitsfeld für Halbtagsbeschäftigungen beziehen. Deshalb steht dem Ergebnis des angefochtenen Urteils auch nicht die von der Revision genannte Entscheidung des 5. Senats vom 29. September 1970 (SozR Nr. 28 zu § 1247 RVO) entgegen. Dort wird im Einklang mit den Ausführungen im Beschluß des Großen Senats aaO nur gesagt, daß für Teilzeitarbeitskräfte, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig im Verweisungsgebiet der Bundesrepublik arbeiten können, der Arbeitsmarkt auch dann praktisch verschlossen ist, wenn die Bundesanstalt für Arbeit nicht in der Lage ist, die im Einzelfall für diese Entscheidung erforderlichen Zahlen zu nennen. Hier waren aber nicht die Zahlen der offenen und besetzen Büroteilzeitarbeitsplätze mit den Zahlen der Interessenten für solche Teilzeitarbeitsplätze zu vergleichen, sondern die entsprechenden Zahlen für sämtliche Teilzeitarbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsfeldes. Insoweit erübrigte sich indes eine Anfrage bei der für diese Auskunft allein in Betracht kommenden Bundesanstalt für Arbeit, weil der Große Senat im Beschluß vom 11. Dezember 1969 aaO allein für die auf halb- bis vollschichtige Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verweisbaren Versicherten das Ergebnis einer solchen Anfrage bereits zugrunde gelegt hat.

Der Revision kann auch darin nicht gefolgt werden, daß die Feststellung eines offenen Arbeitsmarktes im Beschluß des Großen Senats aaO für Versicherte, die noch halbschichtig die wesentlichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verrichten können, im Falle des Klägers bereits zeitlich überholt sei. Der Revision ist zwar zuzugeben, daß dieses vom Großen Senat im Dezember 1969 gewonnene Ergebnis, das im wesentlichen auf den von der Bundesanstalt für Arbeit hochgerechneten Zahlen des Mikrozensus 1967 beruht, nicht für alle Zeiten ohne entsprechende Überprüfungen maßgebend sein kann (vgl. hierzu auch die Bedenken in Raschert in SGb 1971, 126). Im vorliegenden Fall ist der vom LSG zu prüfende Zeitraum aufgrund der im Dezember 1968 erfolgten Antragstellung jedoch ohnehin überwiegend von der Entscheidung des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 aaO erfaßt. Für die seitdem bis zum Erlaß des angefochtenen Urteils (6.8.1970) verstrichene - relativ kurze - Zeit kann das für die genannte Entscheidung des Großen Senats maßgebliche Informationsmaterial noch zugrunde gelegt werden, zumal der Kläger bei Erlaß des LSG-Urteils erst 49 Jahre alt war. In diesem Alter ist es aber nach den Ausführungen des Großen Senats aaO für männliche Teilzeitarbeitskräfte noch verhältnismäßig günstig, einen offenen Arbeitsplatz zu finden (vgl. BSG 30, 189). Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits zur Feststellung, ob die Entscheidung des Großen Senats zum offenen Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte des allgemeinen Arbeitsfeldes auch weiterhin den tatsächlichen Verhältnissen entspricht, ist somit hier nicht erforderlich.

Da im Hinblick auf das dem Kläger verbliebene Leistungsvermögen für Tätigkeiten des ihm zumutbaren allgemeinen Arbeitsfeldes die Berufsunfähigkeit ohne bestimmte Arbeitsplatzvermittlungen zu verneinen ist, kann dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen des LSG zur Frage, welchen Beteiligten gegebenenfalls hinsichtlich der Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt die objektive Beweislast trifft, zutreffend sind.

Der Revision mußte somit der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648257

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