Leitsatz (amtlich)
Auf Versicherte, die noch vollschichtig tätig sein können, ist die Rechtsprechung des GrS des BSG im Beschluß vom 1976-12-10 GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 (SozR 2200 § 1246 Nr 13) zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitkräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht anzuwenden (Anschluß an BSG vom 1977-05-27 5 RJ 28/76).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 28.05.1976; Aktenzeichen L 6 J 14/76) |
SG Trier (Entscheidung vom 12.12.1975; Aktenzeichen S 2 J 278/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Mai 1976 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 12. Dezember 1975 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1919 geborene Kläger war als Arbeiter, Kraftfahrer und Verwaltungsarbeiter beschäftigt; von 1940 bis 1947 war er Polizeibeamter, ab 1957 war er Beamter bei der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Rheinland-Pfalz, zuletzt Justizhauptwachtmeister bei dem Sozialgericht in T. Im Jahr 1973 wurde er wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist er wegen gesundheitlicher Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit nur noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten, überwiegend in geschlossenen, temperierten Räumen, in wechselnder Körperhaltung und wechselnder Arbeitsweise (Stehen, Gehen, Sitzen), überwiegend jedoch im Sitzen ohne Fließband- oder Akkordarbeiten, vollschichtig zu verrichten.
Der Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit blieb erfolglos (Bescheid der Beklagten vom 3. September 1973). Das Sozialgericht (SG) Trier hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Dezember 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil abgeändert, den die Rente ablehnenden Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Juli 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 28. Mai 1976). In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger könne zwar auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden; dort seien aber keine geeigneten Arbeitsplätze vorhanden. Leichte Hilfsarbeiten in der industriellen Fertigung (Vor-, Aus- oder Nachleser, Etikettierer, Stanzer, mechanische Tätigkeiten an der Maschine) kämen praktisch nur in Akkordarbeit vor, schieden also als Möglichkeiten für den Kläger aus. Stellen als Pförtner oder Telefonist blieben für leistungsgeminderte ältere Betriebsangehörige reserviert. Kenntnisse als Kontroll-Listen- oder Karteiführer wie auch als Aktenregistrator hätte der Kläger im einfachen (Wachtmeister-) Dienst nicht erwerben können; außerdem könnten diese Arbeiten nicht überwiegend im Sitzen ausgeübt werden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie führt aus: Für vollschichtig einsetzbare Versicherte müsse der Arbeitsmarkt als offen angesehen werden. Eine starke Einschränkung der Leistungsfähigkeit liege bei dem Kläger nicht vor. Das Berufungsgericht habe es als gerichtskundig angesehen, daß Stellen als Pförtner oder Telefonist leistungsgeminderten älteren Betriebsangehörigen vorbehalten seien; diese Gerichtskunde habe es aber nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 12. Dezember 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf den Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 18. Januar 1977 wird Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte zur Rentenzahlung verurteilt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente, da er weder berufsunfähig (§ 1246 RVO) noch gar erwerbsunfähig (§ 1247 RVO) ist.
Berufsunfähig wäre der Kläger nur dann, wenn seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson herabgesunken wäre. Bei der Prüfung dieser Frage ist es nicht erheblich, daß für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann. Die von dem Großen Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Beschluß vom 10. Dezember 1976 (SGb 77, 122) aufgestellten Regeln gelten nur für Versicherte, die lediglich Teilzeitarbeit verrichten können. Das war vor diesem Beschluß ständige Rechtsprechung des BSG (BSGE 31, 233 = SozR Nr 86 zu § 1246 RVO; SozR Nr 108 zu § 1246 RVO). Der erkennende Senat hat zwar einmal (SozR Nr 89 zu § 1246 RVO) angedeutet, die Regeln des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167) könnten auch auf Vollzeitarbeitskräfte übertragbar sein; er gibt jedoch diese Ansicht auf, zumal es seinerzeit auf die Rechtsfrage für die Entscheidung nicht ankam.
Nunmehr hat der 5. Senat des BSG in dem - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Urteil vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - entschieden, daß auf Vollzeittätigkeit die Rechtsprechung des Großen Senats zur Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden kann. Er geht davon aus, daß es grundsätzlich für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl Arbeitsplätze - seien sie offen oder besetzt - jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind. Nach seiner Ansicht können Ausnahmen allenfalls in Betracht kommen, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar an sich noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den im Betrieb in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze dieser Art von seiner Wohnung aus aufzusuchen (vgl. SozR Nr 101 zu § 1246 RVO). Der erkennende Senat ist ebenfalls dieser Auffassung (vgl den Beschluß vom 12. Juli 1977 - 4 BJ 251/76 - und das Urteil vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 27/76 -).
Der Kläger kann auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Arbeitsplätze als Pförtner oder Telefonist kommen, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, für ihn in Frage. Sie werden auch von Tarifverträgen erfaßt, z. B. enthält das Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes in der Lohngruppe VII Fallgruppe 1.3 die Pförtner und in der Lohngruppe VI Fallgruppe 5.13 die Pförtner mit Fernsprechvermittlungsdienst (s. auch Verg. Gr. X und IX b BAT). Nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Gesundheitszustand kann der Kläger solche Tätigkeiten auch unter den im Betrieb in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichten. Er kann deshalb auf diese Tätigkeiten verwiesen werden und ist nicht berufsunfähig.
Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war das Urteil des SG wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen