Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzuständiger Versicherungsträger. Wirkung des Antrages
Orientierungssatz
Kann ein Lebenssachverhalt gleichzeitig mehrere Leistungsansprüche (hier: Wiedergewährung einer Waisenrente aus der Unfallversicherung und Rentenversicherung) auslösen, so genügt in der Regel die Antragstellung bei einem Leistungsträger. Nach dem Sinn des § 16 SGB 1 dürfen dem Leistungsberechtigten keine Nachteile daraus entstehen, daß er bei mehrfachem Leistungsanspruch seine Leistungsanträge nicht an alle in Betracht kommenden Leistungsträger richtet. Dies würde Kenntnisse des Leistungsberechtigten von den Zuständigkeitsbereichen der Sozialleistungsträger erfordern, die der Gesetzgeber gerade nicht voraussetzt.
Normenkette
RVO § 1290 Abs 3; SGB 1 § 16 Abs 2 S 2 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Halbwaisenrente aus der Versicherung seines am 13. Oktober 1969 infolge eines Arbeitsunfalles verstorbenen Vaters für die Zeit vom 1. November 1977 bis 31. Oktober 1978.
Der am 18. März 1955 geborene Kläger bezog bis März 1973 sowohl von der Beklagten als auch von der Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft (Berufsgenossenschaft -BG-) eine Halbwaisenrente. An diese richtete er mit Schreiben vom 20. November 1977 (SG 20) den "Antrag auf Zahlung meiner Halbwaisenrente zu den gegebenen gesetzlichen Grundlagen". Hierzu erklärte er, daß er seit dem 1. November 1977 eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker absolviere.
Durch Bescheid vom 22. Februar 1978 gewährte die Großhandels- und Lagerei-BG die Waisenrente ab 1. November 1977 wieder. Eine Durchschrift dieses Bescheides wurde der Beklagten zur Kenntnis übersandt. Diese ging davon aus, daß ein Antrag auf Wiedergewährung der Waisenrente nicht vorliege und daher nichts zu veranlassen sei. Hierbei verblieb es auch, als die Großhandels- und Lagerei-BG der Beklagten unter dem 28. August 1978 Benachrichtigungen über Änderungen im Rentenbezug anbot.
Im November 1978 stellte der Kläger bei der Beklagten einen schriftlichen Antrag auf Wiedergewährung seiner Waisenrente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 16. Februar 1979 ab. Mit seiner Klage gegen diesen Bescheid begehrte der Kläger die Wiedergewährung der Waisenrente ab 1. November 1978. Dementsprechend wurde die Beklagte durch rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 6. Dezember 1979 verurteilt. In den Entscheidungsgründen führte das SG aus, es sehe sich daran gehindert, über die Frage zu entscheiden, ob der Kläger auch für die streitige Zeit einen Waisenrentenanspruch habe.
Durch Bescheid vom 7. Juli 1980 führte die Beklagte das Urteil des SG Berlin aus, lehnte jedoch eine Gewährung der Waisenrente für die streitige Zeit ab mit der Begründung, ein entsprechender Antrag habe nicht vorgelegen. Die hiergegen erhobene Klage wurde durch Urteil des SG Berlin vom 11. März 1982 abgewiesen mit der Begründung, der Kläger habe keinen Antrag auf Wiedergewährung der Waisenrente bei der Beklagten gestellt; sein Anspruch könne auch nach den Grundsätzen des Folgenbeseitigungs- bzw Herstellungsanspruches keinen Erfolg haben.
Mit seiner vom SG zugelassenen Sprungrevision trägt der Kläger vor, die Beklagte sei aufgrund der Übersendung des Bescheides der Großhandels- und Lagerei-BG im Februar 1978 verpflichtet gewesen, ihn auf die Möglichkeit hinzuweisen, auch bei ihr seine Leistungsberechtigung überprüfen zu lassen. Insoweit bestehe eine sozialrechtliche Fürsorgepflicht.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. März 1982 aufzuheben; die beklagte Landesversicherungsanstalt B unter Teilaufhebung ihres Bescheides vom 7. Juli 1980 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1977 bis 31. Oktober 1978 Halbwaisenrente aus der Versicherung des am 26. Februar 1921 geborenen und am 13. Oktober 1979 verstorbenen Heinz K zu gewähren und die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, sie habe sich insofern nicht rechtswidrig verhalten, als sich der Kläger während der streitigen Zeit nicht ratsuchend an sie gewandt habe. Sie verneint im vorliegenden Fall eine Hinweispflicht von Amts wegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die ihm zustehende Waisenrente auch für die Zeit von November 1977 bis Oktober 1978 zu gewähren. Der nach § 1290 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) erforderliche Antrag auf Wiedergewährung der Waisenrente wurde bereits im November 1977 bei der Großhandels- und Lagerei-BG gestellt. Diese Antragstellung gilt nach § 16 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) auch für den Rentenanspruch gegenüber der Beklagten, ohne daß es in diesem Zusammenhang auf einen Folgenbeseitigungs- bzw. Herstellungsanspruch des Klägers ankommt.
Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 16. Februar 1979 den Rentenanspruch des Klägers dem Grunde nach verneint und daher seinen Antrag unbeschränkt abgelehnt. Das sich daran anschliessende sozialgerichtliche Verfahren betraf jedoch nur die Halbwaisenrente des Klägers ab November 1978; das Urteil des SG vom 6. Dezember 1979 entscheidet auch lediglich über diesen Anspruch. Demgemäß war zunächst einmal der Bescheid vom 16. Februar 1979, soweit er den Anspruch für die Zeit vor dem November 1978 betraf, in Bindungswirkung erwachsen. Auf den erneuten Antrag des Klägers vom Juni 1980, ihm die Waisenrente auch für die Zeit vom 1. November 1977 bis 31. Oktober 1978 zu gewähren, ist die Beklagte in eine erneute Prüfung eingetreten und hat in dem Bescheid vom 7. Juli 1980 ausdrücklich sachlich über den Anspruch - zudem mit anderer Begründung als in ihren früheren Bescheiden - entschieden. Mit diesem Zweitbescheid ist dem Kläger der Rechtsweg zu den Sozialgerichten erneut eröffnet worden.
Nach § 1290 Abs 3 RVO bedarf die Wiedergewährung einer Rente - hier die Wiedergewährung der Waisenrente des Klägers - eines Antrages. Dieser Antrag kann nach § 16 Abs 1 Satz 2 SGB I bei jedem Leistungsträger, also auch bei der Großhandels- und Lagerei-BG (§ 12 iVm § 22 SGB I) gestellt werden. Im vorliegenden Fall war die Großhandels- und Lagerei-BG für die Wiedergewährung der Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung der zuständige Leistungsträger; nicht zuständig war sie dagegen für die Wiedergewährung der Waisenrente durch die Beklagte.
Indessen wird die Wirksamkeit eines Antrages nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Antrag beim unzuständigen Leistungsträger gestellt wird. Nach § 16 Abs 2 Satz 2 SGB I gilt ein Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einem Sozialleistungsträger eingegangen ist. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz, daß der einzelne mit seinem Begehren nach Sozialleistungen nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern darf (so Verbandskommentar zum SGB I, Stand 1. Januar 1982, § 16, Randnote 2). Hätte die Großhandels- und Lagerei-BG keine Waisenrente zu gewähren gehabt, so wäre sie unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unzuständiger Leistungsträger gewesen mit der Folge, daß sich die rechtlichen Wirkungen des Antrages allein gegen die Beklagte gerichtet hätten. Hier hätte sich die Beklagte nicht darauf berufen können, daß der Kläger bei ihr keinen Antrag gestellt hat.
Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt nun darin, daß die Großhandels- und Lagerei-BG für die Leistungen aus der Unfallversicherung zuständig war. Insoweit ist der Antrag des Klägers beim zuständigen Leistungsträger gestellt worden. Indessen ist dem Antrag des Klägers nicht zu entnehmen, daß er sein Begehren auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung beschränken wollte. Sein Antrag zielte vielmehr auf Wiedergewährung der Waisenrente "zu den gegebenen gesetzlichen Grundlagen". Erkennbar wollte damit der Kläger aufgrund der begonnenen Berufsausbildung die Wiedergewährung der Waisenrente von den jeweils zuständigen Sozialleistungsträgern. Damit galt dieser Antrag auch für die Beklagte. Wenn ein Lebenssachverhalt gleichzeitig mehrere Leistungsansprüche auslösen kann, so genügt in der Regel die Antragstellung bei einem Leistungsträger. Nach dem Sinn des § 16 SGB I dürfen dem Leistungsberechtigten keine Nachteile daraus entstehen, daß er bei mehrfachem Leistungsanspruch seine Leistungsanträge nicht an alle in Betracht kommenden Leistungsträger richtet. Dies würde Kenntnisse des Leistungsberechtigten von den Zuständigkeitsbereichen der Sozialleistungsträger erfordern, die der Gesetzgeber gerade nicht voraussetzt.
Sofern bei den beteiligten Sozialleistungsträgern - der Großhandels- und Lagerei-BG und der Beklagten - Unklarheiten über Inhalt und Umfang des vom Kläger gestellten Antrages bestanden haben, hätte sich die Herbeiführung eines klaren und sachdienlichen Antrages iS des § 16 Abs 3 SGB I angeboten. Hierdurch wäre jedoch im vorliegenden Falle die Wirksamkeit des vom Kläger gestellten Antrages nicht berührt worden, weil der erhobene Anspruch auf Wiedergewährung der Waisenrente inhaltlich klar formuliert war. Offenbar ist die Großhandels- und Lagerei-BG davon ausgegangen, daß auch die Beklagte leistungspflichtig war, denn sie hat diese über die Tatsache der Rentengewährung und die Rentenhöhe unterrichtet. Diese Unterrichtung hätte der Beklagten im Zweifelsfalle hinreichende Veranlassung geben müssen, bei der BG wegen des Vorliegens eines Rentenantrages Rückfrage zu halten und den Inhalt des Rentenantrages zu ermitteln. Sofern dann noch weitere Zweifel bestanden hätten, hätte es der Beklagten obgelegen, beim Kläger Erkundigungen über das von ihm Gewollte einzuholen.
Im Hinblick auf die erfolgte Antragstellung war die Beklagte zur Wiedergewährung der Waisenrente bereits ab 1. November 1977 zu verurteilen. Unter diesen Umständen bedarf die Frage eines Herstellungsanspruchs keiner Erörterung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen