Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 01.06.1994) |
SG Bayreuth (Urteil vom 09.12.1992) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juni 1994 und des Sozialgerichts Bayreuth vom 9. Dezember 1992 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 23. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 1992 verurteilt, dem Kläger Regelaltersrente nach Maßgabe der Berechnungsvorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Höhe des als Regelaltersrente zu zahlenden Altersruhegeldes.
Auf Anfrage teilte die Beklagte dem am 29. Dezember 1926 geborenen und seit 1954 von der Versicherungspflicht befreiten Kläger in einer Rentenauskunft vom 30. Juli 1991 mit, seine monatliche Rentenanwartschaft belaufe sich auf 599,10 DM; ab 1. Januar 1992 trete eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft; mögliche Auswirkungen der Neuregelungen auf die Rentenhöhe seien derzeit noch nicht absehbar; bei einem Rentenbeginn vor 1992 wirke sich die Reform allerdings nicht aus. In einer weiteren Auskunft vom 15. Oktober 1991 bezifferte die Beklagte die monatliche Rentenanwartschaft nunmehr auf 452,49 DM; sie führte aus: Die Entgeltpunkte für die Pflichtbeiträge der ersten Berufsjahre erreichten nach neuem Recht nicht die bisher zugrunde zu legenden Werteinheiten; das gleiche gelte für die Ersatz- und Ausfallzeiten. Mit Schreiben vom 11. November 1991 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, daß er einen Anspruch auf die Regelaltersrente nach § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) habe; er werde am 28. Dezember 1991 das 65. Lebensjahr vollendet haben; als frühest möglicher Rentenbeginn komme daher für ihn der 1. Januar 1992 in Betracht, so daß sich sein Anspruch nach dem SGB VI richte.
Unter Bezugnahme auf dieses Schreiben beantragte der Kläger am 19. November 1991 „Rentenzahlung ab 1. Januar 1992”.
Mit Bescheid vom 23. Dezember 1991 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 2. April 1992 bewilligte ihm die Beklagte daraufhin Regelaltersrente unter Anwendung der Berechnungsvorschriften des SGB VI ab Januar 1992 „Rentenbeginn”) in Höhe von monatlich 452,49 DM.
Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Dezember 1992); das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung durch Urteil vom 1. Juni 1994 mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Vorschriften des SGB VI seien bei der Berechnung der Regelaltersrente heranzuziehen. Für die Anwendung neuen Rechts sei nicht mehr der Eintritt des „Versicherungsfalles”, sondern der Beginn der Rentenleistung maßgebend. Die Rente „beginne” jedoch sowohl nach § 67 Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) als auch nach § 99 Abs 1 SGB VI nicht im Dezember 1991, sondern erst am 1. Januar 1992, also nach Inkrafttreten des SGB VI. Der Umstand, daß die Voraussetzungen für die Bewilligung der Rente bereits im Dezember 1991 erfüllt gewesen seien, rechtfertige keinen früheren Rentenbeginn. Trotz der erheblichen Rentenminderung seien die Vorschriften des SGB VI (§§ 70 Abs 3, 72 SGB VI), auf denen die Berechnung beruhe, verfassungsgemäß.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §§ 25 und 67 AVG sowie von §§ 99, 300, 306 SGB VI und § 40 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) und trägt vor:
Mit Vollendung des 65. Lebensjahres am 28. Dezember 1991 und nach Erfüllung der Wartezeit habe er Anspruch auf eine Regelaltersrente nach § 25 Abs 5 AVG gehabt. Damit sei sein Anspruch auf eine Sozialleistung nach § 40 SGB I, das Stammrecht, entstanden. Im Hinblick darauf, daß er den Rentenantrag auch bereits am 19. November 1991 gestellt habe, habe er vor Ablauf des Monats Dezember 1991 einen Einzelanspruch auf die monatliche Rentenzahlung gehabt. Hieran habe sich nach Inkrafttreten des SGB VI nichts geändert. Zwar bestimme § 300 Abs 1 SGB VI, daß neues Recht grundsätzlich auch auf Sachverhalte oder Ansprüche Anwendung finde, die bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes bestanden hätten. Dies gelte jedoch nach Abs 2 aaO nicht, wenn – wie hier – bis dahin „bestehende” Ansprüche bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung der Vorschriften geltend gemacht würden. In diesen Fällen werde „nicht auf den Rentenbeginn …” abgestellt, „sondern auf den Anspruch, der … auch das Stammrecht beinhaltet”.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juni 1994 und des Sozialgerichts Bayreuth vom 9. Dezember 1992 sowie unter Abänderung ihres Bescheides vom 23. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 1992 zu verurteilen, ihm Regelaltersrente nach Maßgabe der Berechnungsvorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes zu gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor:
Der Rentenbeginn habe nicht in dem Monat gelegen, in dem das Stammrecht entstanden sei. Die Rente habe vielmehr nach altem wie auch nach neuem Recht erst mit dem „Ersten des Folgemonats” zu laufen begonnen, der auf den Kalendermonat folge, in welchem die Leistungsvoraussetzungen eingetreten seien. Ein früherer Zahlungsanspruch ergebe sich auch nicht aus § 74 Satz 1 AVG (seit Inkrafttreten des SGB VI: § 118 Abs 1 SGB VI). Insoweit handele es sich lediglich um eine „Zahlungsvorschrift”. Entgegen der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 23. Juni 1994 (4 RA 70/93 = SozR 3-2600 § 300 Nr 3) werde in der Bestimmung die Fälligkeit der Leistung nicht geregelt. Schließlich widerspreche der Auffassung des 4. Senats (aaO) auch die Neuregelung in § 263 Abs 5 SGB VI (eingefügt durch Art 5 Nr 3 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Änderung anderer Gesetze vom 26. Juli 1994, BGBl I S 1792). Diese sehe vor, daß die Ersatzzeiten der Versicherten, die nach dem 1. Dezember 1926 geboren seien, unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag nach den Anrechnungsvorschriften des AVG zu bewerten seien. Durch die Ergänzung der Regelung über die Bewertung der Ersatzzeiten sollten Versicherte, die durch die Gesamtleistungsbewertung erhebliche Einbußen in der Höhe der zu erwartenden Rente hinnehmen müßten, so gestellt werden, als ob der Rentenbeginn bereits im Dezember 1991 eingetreten sei. Damit habe der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht, daß bei Altersrenten der Versicherten, die im Dezember 1991 ihr 65. Lebensjahr vollendet gehabt hätten, sich ein Rentenbeginn zum 1. Januar 1992 ergebe, so daß sie nach den Vorschriften des SGB VI zu berechnen seien.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sowie der Vorinstanzen steht dem Kläger ein Anspruch auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach den Bestimmungen des AVG und nicht nach denjenigen des seit 1. Januar 1992 geltenden SGB VI zu.
Der Senat hat bereits – in Fortsetzung der Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 2200 § 1321 Nr 17 mwN) – am 23. Juni 1994 (BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3) entschieden, daß ein sich aus einem im Dezember 1991 entstandenen Rentenstammrecht ergebender, rechtzeitig geltend gemachter Anspruch auf eine im voraus zu zahlende monatliche Rentenleistung spätestens am 31. Dezember 1991 fällig geworden ist und mithin auch bereits zu diesem Zeitpunkt „bestanden hat” mit der Folge, daß auf das Rechtsverhältnis zwischen Versicherten und Rentenversicherungsträger noch die bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Vorschriften des AVG Anwendung finden.
Nach § 300 Abs 1 SGB VI sind zwar grundsätzlich die Vorschriften des SGB VI von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens, am 1. Januar 1992, an auf einen Anspruch anzuwenden, der bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden hat. Ausnahmsweise sind jedoch aufgehobene und durch das SGB VI ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens auf einen bis „dahin bestehenden Anspruch” anzuwenden, wenn dieser bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht worden ist.
Die Ausnahmevorschrift greift hier ein. Denn der Anspruch des Klägers auf den monatlichen Rentenbetrag für Januar 1992 hat bereits vor Inkrafttreten des SGB VI, nämlich mit Ablauf des 31. Dezember 1991, „bestanden”. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger bei Antragstellung „Rentenzahlung ab 1. Januar 1992” begehrt hatte. Im Hinblick auf die Auskunft der Beklagten, frühest möglicher „Rentenbeginn” sei der 1. Januar 1992, brachte er damit lediglich zum Ausdruck, er beantrage die ihm kraft Gesetzes zustehende Rente.
Bei den sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Rentenversicherungsträger und Versicherten ergebenden Rechten und Ansprüchen ist zu unterscheiden zwischen dem subjektiven „Stamm”-)Recht und dem Anspruch auf die konkrete Einzelleistung, die monatliche Rentenzahlung (vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3, BSG SozR 2200 § 1321 Nr 17; BSG SozR 2200 § 183 Nr 17). Das „Rentenstammrecht” entsteht, sobald die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale – in der Regel unabhängig von einem Antrag (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1321 aaO) -als solche vorliegen. Bei dem Kläger war dies am 29. Dezember 1991 der Fall, nach rechtzeitiger Antragstellung, Vollendung des 65. Lebensjahres und Erfüllung der Wartezeit (§ 25 Abs 5 iVm Abs 7 Satz 3 AVG). Mit der Entstehung dieses Stammrechts wird ein Leistungsverhältnis zwischen Versicherten und Versicherungsträger konkretisiert. Dieses Leistungsverhältnis bildet die „rechtliche Wurzel”, aus der regelmäßig wiederkehrende Einzelansprüche ua auf konkrete Leistungen erwachsen (so BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3). Infolgedessen ist dieses „Quellrecht” (vgl hierzu: Larenz, Schuldrecht, B.T., 12. Auflage, S 492) selbst noch kein Anspruch iS von § 194 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), aufgrund dessen der Versicherungsträger zur Leistung verpflichtet und der Versicherte berechtigt ist, diese zu fordern (§ 194 Abs 1 BGB, §§ 40, 41 SGB I – und sie gegebenenfalls mittels Vollstreckungsmaßnahmen durchzusetzen). Ein Anspruch in diesem Sinne besteht zwischen Rentenversicherungsträger und Versicherten spätestens dann, wenn die Einzelleistung fällig wird. Fälligkeit bedeutet auch im Sozialrecht den Zeitpunkt, in dem der Schuldner die Leistung spätestens bewirken muß.
Der Zeitpunkt, zu dem die erste monatliche Leistung zu erbringen ist, ist in § 67 Abs 1 Satz 1 AVG geregelt. Anders als im Fall des § 41 SGB I tritt die Fälligkeit dieser monatlichen Rentenzahlung nicht mit der Entstehung des – eine Vielzahl wiederkehrender monatlicher Renten-(Einzel-)Leistungen umfassenden – Rentenstammrechts ein, sondern „vom Ablauf des Monats an”, in dem die Voraussetzungen für die Entstehung des Rentenstammrechts erfüllt sind. Leistungszeit ist also der „letzte Augenblick des Monats” (§ 271 BGB; BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3), hier also der 31. Dezember 1991.
Entgegen der Auffassung der Beklagten bedeutet der Zeitbegriff „vom Ablauf des Monats an” gerade nicht, daß der Anspruch auf die – erste – Rente erst am Ersten des folgenden Monats fällig wird. Hätte der Gesetzgeber dies beabsichtigt, so hätte er ebenso wie in dem Fall des § 67 Abs 1 Satz 2 Alternative 2 AVG, wenn der Antrag auf Rente später als drei Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wird, insoweit auf den „Beginn des Monats” abgestellt. Die Differenzierung macht deutlich, daß der Versicherte berechtigt sein soll(te), die Leistung noch vor Beginn des nächsten Monats zu fordern (vgl BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3). Im Einklang damit steht, daß § 74 AVG bestimmt, daß die Rente im voraus, hier also vor dem Ablauf des Monats, für den die erstmalige Rentenleistung „gelten” soll, zu zahlen ist. Das AVG hat damit zwingend vorgeschrieben,
daß der erste „Einzel”-)Anspruch noch im letzten Augenblick des Monats entstand und fällig wurde. Dies ist auch folgerichtig. Denn zugunsten des Versicherten soll die geschuldete Leistung so rechtzeitig bewirkt werden, daß der zur Lebensführung im nächsten Monat bestimmte – erstmalige – Rentenbetrag schon mit Beginn des nächsten Monats zur Verfügung steht (vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3).
Aus alledem folgt, daß der für den Monat Januar 1992 im voraus zu zahlende Rentenbetrag bereits mit Ablauf des 31. Dezember 1991 fällig war und damit iS von § 300 Abs 2 SGB VI bereits vor Inkrafttreten des SGB VI am 1. Januar 1992 „bestanden hat”. Hingegen liegt der in § 300 Abs 2 SGB VI nicht angesprochene „Rentenbeginn”, also der Anfang des Zeitraums, für den die Leistung „gilt”, auch nach der Rechtsprechung des Senats (SozR 3-2600 § 300 Nr 3) am 1. Januar 1992.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich aus der Neuregelung des § 263 Abs 5 SGB VI nichts Gegenteiliges. Es trifft zwar zu, daß Abs 5 aaO unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht, daß die nach dem 1. Dezember 1926 geborenen Versicherten hinsichtlich der Ersatzzeiten wegen ua Kriegsfolgen und nationalsozialistischer Verfolgung auf Antrag so gestellt werden sollen, als sei der Rentenbeginn bereits im Dezember 1991 eingetreten. Diese allein die Bewertung betreffende Sonderregelung (vgl hierzu: Recht, Kompaß 1994, S 552, 554) spricht – soweit es die „nach dem 1. Dezember 1926 Geborenen” betrifft – nicht gegen die vom Senat vorgenommene Auslegung. Sie ist nach Sinn und Zweck des Gesetzes erforderlich, um die im Dezember 1926 Geborenen, deren Zahlungsanspruch noch nach altem Recht entstanden ist, bei denen der „Rentenbeginn” jedoch in die Zeit ab 1. Januar 1992 fällt, nicht ungünstiger zu stellen als diejenigen, deren Anspruch von vornherein nach den Vorschriften des SGB VI zu berechnen ist. § 263 Abs 5 SGB VI trifft also auch insoweit eine schonende Übergangsregelung.
Die Revision des Klägers hat mithin Erfolg, da die Rente des Klägers nach den Bestimmungen des AVG zu berechnen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen