Leitsatz (redaktionell)
Hat die Versorgungsbehörde nach vorläufiger Prüfung des Versorgungsanspruchs wiederkehrende Leistungen als Rentenvorschüsse bewilligt, so verletzt sie ihr pflichtgemäßes Ermessen, wenn sie erst sehr lange Zeit nach Bewilligung der Vorschüsse die Vorschußleistungen widerruft. Dies gilt auch dann, wenn die endgültige Feststellung einen Versorgungsanspruch nicht ergeben hat.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 47 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1958 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 4. Januar 1955 aufgehoben. Ferner wird der Bescheid des Versorgungsamtes München II vom 18. Mai 1953 insoweit aufgehoben, als er die Rückforderung von Rentenvorschüssen in Höhe von 1.673,-- DM betrifft.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erhielt auf seinen Antrag vom 20. Januar 1948 durch "Benachrichtigung" der Landesversicherungsanstalt (LVA) - Abteilung für Körperbeschädigte - vom 30. November 1948 für vorläufig festgestellte Schädigungsfolgen (Veränderungen der Wirbelsäule und Magenleiden) vom 1. Januar 1948 an monatliche Vorschüsse auf die Kriegsbeschädigtenrente (KB-Rente), die unter Anrechnung eines später bewilligten Unterhaltsbeitrags durch "Benachrichtigung" vom 20. Juni 1949 von 44,-- DM auf 30,-- DM monatlich herabgesetzt wurden. In beiden "Benachrichtigungen" behielt die LVA die endgültige Feststellung der Rente, insbesondere für die zurückliegende Zeit, einem späteren Zeitpunkt vor. Auf Grund der nachträglich erhobenen ärztlichen Unterlagen und Gutachten lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) München II den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 18. Mai 1953 nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, da die erwähnten Gesundheitsstörungen nicht auf den Wehrdienst zurückzuführen seien. Gleichzeitig forderte es die Erstattung der vom 1. Januar 1948 bis zum 30. April 1953 gezahlten Rentenvorschüsse in Höhe von 1.673,-- DM. Mit der Klage wandte sich der Kläger lediglich gegen die Erstattung, weil er meinte, er hätte schon viel früher versorgungsärztlich untersucht werden können und die Vorschüsse gutgläubig bezogen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage durch Urteil vom 4. Januar 1955 ab. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers durch Urteil vom 20. Oktober 1958 zurück. Im Berufungsverfahren hatte der Kläger beantragt, für die im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennenden Spondylosis und Anazidität des Magensaftes Rente bis zum Tage der Untersuchung zu gewähren und den Erstattungsbescheid aufzuheben. Das LSG führte aus, ein Versorgungsanspruch bestehe nicht, weil die Gesundheitsstörungen des Klägers nicht auf den Wehrdienst oder auf die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse zurückgeführt werden könnten. Der Erstattungsbescheid sei nach § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) zu beurteilen und rechtmäßig. Der Erstattungsanspruch sei lediglich davon abhängig, daß der Kläger die Vorschüsse zu Unrecht empfangen habe. Die "Benachrichtigungen", mit denen monatliche Vorschüsse auf die Rente bewilligt worden seien, seien Verwaltungsakte mit dem Vorbehalt des Widerrufs. Dieser Widerruf sei gleichzeitig mit der Erstattung in dem Bescheid vom 18. Mai 1953 geltend gemacht worden. Anders als in dem vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fall in BSG 7, 226, entspräche dieser Widerruf jedoch dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung, weil es sich hier nicht um die endgültige Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und die davon abhängige Höhe der Rente gehandelt, sondern ein auf eine Schädigung im Sinne des KBLG und des BVG zurückführender Anspruch überhaupt nicht bestanden habe. Der Kläger habe dies nach seiner Vorbildung bei vernünftiger Würdigung erkennen und mit dem Risiko der Ablehnung sowie der späteren Erstattung der auf Grund der Anmeldung seiner Ansprüche bewilligten Vorschüsse rechnen müssen, zumal er sich auf die vorläufige ärztliche Feststellung der Versehrtenstufe nicht berufen könne. Der Erstattungsanspruch verstoße daher nicht gegen das pflichtgemäße Ermessen der Verwaltung. Unerheblich sei die ordnungsmäßige Anzeige der jeweiligen Einkommensänderungen, da diese Änderungen bei der Bemessung der Vorschüsse berücksichtigt worden seien und die Überzahlung nicht beeinflußt hätten. Das VersorgA sei auch nicht für den späten, erst etwa 4 1/2 Jahre nach der Bewilligung ausgeübten Widerruf verantwortlich, zumal außergewöhnliche Schwierigkeiten die Bearbeitung der sehr zahlreichen Anträge zwangsläufig erheblich verzögert hätten, der Sachverhalt in diesem Falle erst noch hätte geklärt werden müssen und stets nur Vorschüsse gezahlt worden seien. Diese seien daher zu Unrecht empfangen und nach § 47 Abs. 1 VerwVG zu erstatten. Die Revision wurde zugelassen.
Gegen das am 17. November 1958 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger am 1. Dezember 1958 Revision eingelegt.
Er beantragt unter Berücksichtigung der im Schriftsatz vom 13. Januar 1959 mitgeteilten Änderungen,
unter Aufhebung des Urteils des LSG und des Urteils des SG sowie in Abänderung des Bescheides vom 18. Mai 1953 den Rückforderungsbescheid des Beklagten in Höhe von 1.673,-- DM für unbegründet zu erklären und den Beklagten zu verurteilen, von der Rückforderung dieses Betrages abzusehen;
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Mit dem am 16. Januar 1959 eingegangenen Schriftsatz vom 13. Januar - die Revisionsbegründungsfrist war bis zum 17. Februar 1959 verlängert worden - hat er die Revision begründet. Er rügt, das LSG habe die allgemeinen Grundsätze über den Widerruf von Verwaltungsakten und gleichzeitig § 47 VerwVG unrichtig angewandt. Die "Benachrichtigungen" seien Verwaltungsakte mit dem Vorbehalt des Widerrufs, deren Regelung die Bewilligung von Vorschüssen, aber nicht die Feststellung von Schädigungsfolgen mit einer entsprechenden MdE beträfe. Die Ausübung des vorgehaltenen Widerrufs nach so langer Zeit habe nicht dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung entsprochen und sei nicht rechtmäßig. Der jahrelange unangefochtene Empfang der Vorschüsse habe den Eindruck erwecken müssen, daß ein Anspruch bestehe, zumal der vorläufige Bescheid vom 30. November 1948 auf ärztlichen Gutachten beruht habe, in denen der Zusammenhang seiner Leiden mit dem Wehrdienst bejaht worden sei. Eine andere Beurteilung habe von ihm auch nach seiner Vorbildung und bei vernünftiger Würdigung des Sachverhalts nicht erwartet werden können, zumal dies eine auf medizinischen Fachkenntnissen beruhende Würdigung der von dem Beklagten zunächst selbst nicht bezweifelten ärztlichen Feststellungen erfordert hätte. Nach den Umständen habe er, der Kläger, nicht mit dem Risiko rechnen müssen, sein Anspruch werde später abgelehnt werden und er dann Bezüge werde ausgleichen müssen. Für den Widerruf müßten die gleichen Grundsätze gelten, wie sie in BSG 7, 226 erörtert seien.
Die zugelassene Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, auch zulässig (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist auch begründet, weil das LSG die Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheids zu Unrecht bejaht hat.
Angefochten ist die in dem Bescheid vom 18. Mai 1953 angeordnete Erstattung der Vorschüsse in Höhe von 1.673,-- DM. Das LSG hat diesen Erstattungsanspruch für begründet erachtet, weil der Kläger Leistungen im Sinne des § 47 VerwVG zu Unrecht empfangen habe. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rechtmäßigkeit des 1953 erlassenen Erstattungsbescheids - eines Verwaltungsakts ohne Dauerwirkung - nach dieser Vorschrift (BSG 3, 234; 6, 11) oder nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts oder nach anderen Grundsätzen oder entsprechend anzuwendenden Vorschriften über die Erstattung zu Unrecht gezahlter öffentlich-rechtlicher Leistungen (vgl. Gross in ZfS 1952, 25 ff, Hastler in DVZ 1953, 130 ff, Hartrath in WzS 1953, 33 ff und Rohwer-Kahlmann in WzS 1953, 97) zu beurteilen ist. In jedem Falle setzt der Erstattungsanspruch voraus, daß Leistungen ganz oder teilweise zu Unrecht empfangen sind.
Das LSG ist der Auffassung, der Kläger habe Versorgungsbezüge in Höhe von 1.673,-- DM zu Unrecht empfangen, weil das VersorgA mit dem Bescheid vom 18. Mai 1953 die für die Zahlungen (in der Zeit vom 1. Januar 1948 bis 30. April 1953) maßgebenden "Benachrichtigungen" vom 30. November 1948 und vom 20. Juni 1949 widerrufen durfte. Es hat dabei aber die für den vorgehaltenen Widerruf von Verwaltungsakten geltenden Rechtsgrundsätze verkannt, wie sie insbesondere in der Entscheidung des BSG vom 19. Juni 1958 - 11/9 RV 1108/55 (BSG 7, 226) -dargelegt sind.
Die "Benachrichtigung", mit der dem Kläger vorbehaltlich der endgültigen Feststellung laufende Vorschüsse auf die KB-Rente bewilligt worden sind, ist ein mit dem Vorbehalt des Widerrufs versehener Verwaltungsakt. Dagegen, daß die Versorgungsbehörde einen solchen Verwaltungsakt erlassen durfte, bestehen keine Bedenken. Der dabei erklärte Vorbehalt, die endgültige Rentenfeststellung - auch für die zurückliegende Zeit - zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen, bedeutete, daß erst dann ermittelt werden sollte, ob und wieviel Rente das Versorgungsamt zuviel oder zuwenig gezahlt hat. Der in der "Benachrichtigung" liegende Verwaltungsakt ist von Anfang an rechtmäßig gewesen und später nicht dadurch rechtswidrig geworden, daß durch den Bescheid vom 18. Mai 1953 der Anspruch auf Rente abgelehnt wurde, weil in jenem Verwaltungsakt die Bewilligung von Vorschüssen, aber nicht die Feststellung der Rente geregelt war (vgl. BSG 7, 226, 228, 229), die sich die Verwaltung gerade vorbehalten hatte.
Die Versorgungsbehörde kann zwar einen solchen Verwaltungsakt widerrufen, darf aber von dem vorbehaltenen Widerruf nicht beliebig Gebrauch machen. Andererseits ist der Widerruf nicht erst dann rechtswidrig, wenn er willkürlich ist. Auch ein mit dem Widerrufsvorbehalt verknüpfter begünstigender Verwaltungsakt ist dazu bestimmt, die sich daraus ergebenden Rechte und Rechtslagen des Betroffenen zu schützen. Deshalb ist, wie der 11. Senat des BSG in der angezogenen Entscheidung (BSG 7, 226) zutreffend ausgeführt hat und dessen Auffassung sich der erkennende Senat in vollem Umfang anschließt, der auf einen Vorbehalt gestützte Widerruf nur dann als rechtmäßig anzusehen, wenn er dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung entspricht. Dies ist immer nach den Verhältnissen des einzelnen Falles zu beurteilen. Allgemein sind aber dem Ermessen um so engere Grenzen gezogen, je länger die Verwaltung den mit dem Widerrufsvorbehalt verknüpften Verwaltungsakt hat bestehen lassen. Wenn die Entscheidung in BSG 7, 226 auch durch einen Fall veranlaßt war, in dem es sich nicht um die endgültige Feststellung des Anspruchs selbst, sondern um die endgültige Feststellung des Grades der MdE und der Höhe der Rente gehandelt hat, so haben die aus diesem Anlaß für die Ausübung des Widerrufsvorbehalts aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelten Rechtsgrundsätze doch unabhängig von diesem Einzelfall allgemeine Bedeutung. Die Entscheidung bietet keinen Anhalt dafür, daß diese Rechtsgrundsätze nur gelten sollten, wenn sich bei der endgültigen Feststellung die Höhe der Rente ändert. Sie sind vielmehr auf jeden Fall anzuwenden, in dem die Versorgungsverwaltung sich eine endgültige Feststellung in einem späteren Zeitpunkt vorbehalten hat. Diese Feststellung umfaßt daher auch die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Rente; sie betrifft nicht nur die von dem Grad der MdE abhängige Höhe der Rente, sondern den Anspruch selbst und kann auch in dessen Ablehnung bestehen. Daher muß auch im vorliegenden Falle, in dem die endgültige Feststellung der Versorgungsansprüche vorbehalten war, die Rechtmäßigkeit des in Ausübung des Vorbehalts ergangenen Widerrufs nach den erwähnten Grundsätzen beurteilt werden. Danach hat aber der Widerruf im vorliegenden Falle nicht dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung entsprochen. Wie das LSG festgestellt hat - und diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen und daher bindend (§ 163 SGG) - hat das VersorgA die Rente des Klägers erst am 18. Mai 1953 endgültig festgestellt und den Versorgungsanspruch abgelehnt. Bis dahin hat der Kläger fast 4 1/2 Jahre lang laufend Vorschüsse erhalten. Der jahrelange Bezug der Zahlungen, die sich lediglich auf Grund der angezeigten Einkommensänderungen während der Bezugszeit der Höhe nach geändert hatten, mußte bei dem Kläger den Eindruck erwecken, er habe Anspruch auf Rente. Je länger sich - aus welchen Gründen auch immer - die Zahlung der monatlichen Vorschüsse auf die Rente hinzog, um so mehr hätte sich die Versorgungsverwaltung darum kümmern müssen, die Rente endgültig festzustellen, und um so weniger durfte sie erwarten, daß der Kläger damit rechnen werde, eines Tages eine etwaige, ihm auch nicht annähernd bekannte Zahlung ausgleichen zu müssen (vgl. GE der Bayerischen LVA vom 26. Mai 1961, Breithaupt, ≪!X!≫951, 1162). In einem solchen Falle muß das Vertrauen des Klägers darauf geschützt werden, daß die "Benachrichtigungen" durch die endgültige Rentenfeststellung vom 18. Mai 1953 jedenfalls für die Vergangenheit nicht zu seinem Nachteil geändert werden. Wenn der Beklagte mit diesem Bescheid dennoch die in der "Benachrichtigung" liegenden Verwaltungsakte widerrufen hat, so entsprach dieser Widerruf trotz des Vorbehalts nicht mehr dem pflichtgemäßen Ermessen. Er ist deshalb rechtswidrig. Der Kläger hat infolgedessen die ihm bis zum 30. April 1953 gezahlten Vorschüsse in Höhe von 1.673,-- DM nicht zu Unrecht empfangen und sie daher nicht zu erstatten.
Die Revision des Klägers ist somit begründet. Es waren deshalb das angefochtene Urteil des LSG, das Urteil des SG vom 4. Januar 1955 und der Bescheid des Landesversorgungsamts München II vom 18. Mai 1953, soweit er die Erstattung der bis zum 30. April 1953 gezahlten Rentenvorschüsse in Höhe von 1.673,-- DM betrifft, aufzuheben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen