Leitsatz (redaktionell)
Die Frage, ob und in welchem Ausmaß Hilflosigkeit "infolge der Schädigung" eingetreten ist, beurteilt sich allein nach den medizinischen Verhältnissen, die in dem Zeitraum tatsächlich vorliegen, für den die Pflegezulage begehrt wird. Dabei besteht keine Bindung an die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in einem früheren Bescheid, die der Höhe der Rente zugrunde liegt.
Normenkette
BVG § 35 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Oktober 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Durch Bescheid vom 4. Januar 1951 bewilligte das Versorgungsamt München dem Kläger vom 1. Januar 1949 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. nach dem (Bayerischen) Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) wegen "organischem Nervenleiden (Multipler Sklerose)", in dem Bescheid ist festgestellt, dieses Leiden sei durch den Wehrdienst verschlimmert worden. Durch Bescheid vom 22. Februar 1951 ("Umanerkennung") wurde die Rente mit derselben Leidensbezeichnung nach demselben Grad der MdE nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bewilligt. Diesen Bescheiden lag das versorgungsärztliche Gutachten des Nervenfacharztes Dr. St vom 17. November 1950 zugrunde. Die Berufung (alten Rechts), mit der der Kläger eine höhere Rente begehrte, wies das Oberversicherungsamt (OVA) München am 22. Januar 1953 zurück. Der Rekurs des Klägers ging als Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG) über, das Berufungsverfahren wurde durch einen gerichtlichen Vergleich beendet; in diesem Vergleich verpflichtete sich der Beklagte, dem Kläger einen Bescheid zu erteilen darüber, ob dem Kläger vom 1. Juni 1953 an Pflegezulage zustehe; den Antrag auf eine höhere Rente verfolgte der Kläger nicht weiter.
Durch Bescheid vom 15. Oktober 1956 lehnte das Versorgungsamt München II nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen den Anspruch auf Pflegezulage ab. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Bayern am 22. Juni 1957 zurück. Am 4. Dezember 1957 verurteilte das Sozialgericht (SG) München den Beklagten, dem Kläger unter Abänderung dieser Bescheide vom 1. Juni 1953 an die einfache Pflegezulage zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das LSG durch Urteil vom 3. Oktober 1961 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Es führte aus: Die allein streitige Pflegezulage stehe dem Kläger zunächst ab 1. Juni 1953 schon deshalb nicht zu, weil nach den eigenen Angaben des Klägers und den ärztlichen Gutachten und Bescheinigungen Hilflosigkeit - unbeschadet der Frage, wodurch sie verursacht sei - frühestens seit Januar 1956 bestehe. Die Hilflosigkeit sei aber im vorliegenden Fall auch nicht durch eine weitere Verschlimmerung der wehrdienstlichen Schädigung eingetreten, sondern dadurch, daß zu der "anerkannten" Schädigungsfolge nachträglich andere Umstände, nämlich eine schicksalsmäßige Fortentwicklung der Multiplen Sklerose, hinzugetreten seien. Für die Hilflosigkeit sei die als Schädigungsfolge "anerkannte" Verschlimmerung der Multiplen Sklerose nicht die wesentliche Bedingung gewesen, die Hilflosigkeit sei auch nicht zum überwiegenden Teil eine Folge des "anerkannten" Leidens, dieses "anerkannte" Leiden sei auch nicht als gleichwertige Mitursache der Hilflosigkeit zu werten; dies ergebe sich aus den schlüssigen Gutachten von Dr. K. "Bei der Beurteilung der Hilflosigkeit" sei das LSG an die Bewertung der MdE für den im Sinne der Verschlimmerung anerkannten Leidenszustand nicht gebunden. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 9. Oktober 1961 zugestellt.
Am 18. Oktober 1961 legte der Kläger Revision ein. Er beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 4. Dezember 1957 zurückzuweisen.
Er begründete die Revision am 10. November 1961: Das LSG habe § 35 BVG unrichtig angewandt, gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen und bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Hilflosigkeit des Klägers mit der anerkannten Schädigungsfolge das Gesetz verletzt. Das Gutachten des Dr. K, dem das LSG gefolgt sei, sei nicht schlüssig; dieser Gutachter habe dargelegt, daß - abgesehen von einer Verschlimmerung der Parese an den Beinen - der Befund im Jahre 1961 im wesentlichen derselbe sei wie der Befund des Dr. St im Jahre 1950; Damit habe aber Dr. K nicht zu dem Schluß kommen können, daß die Hilflosigkeit auch ohne den als Wehrdienstbeschädigung anerkannten "Verschlimmerungsanteil" der Multiplen Sklerose bestehen würde, das LSG habe insoweit den Sachverhalt noch medizinisch weiter aufklären müssen. Das LSG habe sich auch zu Unrecht nicht an die Bewertung des wehrdienstbedingten Verschlimmerungsanteils mit 50 v. H. gebunden gesehen, es habe von diesem Verschlimmerungsanteil ausgehen und damit notwendig diese anerkannte Verschlimmerung als Mitursache der Hilflosigkeit - neben der nicht wehrdienstbedingten späteren weiteren Verschlimmerung - ansehen müssen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG).
Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Kläger leidet unstreitig an Multipler Sklerose; er bezieht seit 1949 wegen einer wehrdienstbedingten Verschlimmerung dieses Leidens Rente nach einer MdE um 50 v. H.. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger bis Ende des Jahres 1955 durch eine Schwäche im rechten Arm und Bein körperlich behindert gewesen ist, auch die rechte Hand zu feineren Arbeiten nicht mehr hat verwenden können, daß er aber damals noch nicht so beeinträchtigt gewesen ist, daß Wartung und Pflege durch eine dritte Person erforderlich gewesen sind; es hat weiter festgestellt, daß beim Kläger zu Beginn des Jahres 1956 eine Verschlimmerung eingetreten ist, daß der Kläger seither die rechte Hand nicht mehr gebrauchen und sich nur mit Hilfe eines Stockes unmittelbar in der Nähe seines Hauses mühsam fortbewegen kann und auch zum Aus- und Ankleiden der Hilfe bedarf; es hat hieraus den Schluß gezogen, daß der Kläger seit Anfang 1956 "nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann" (§ 35 BVG aF) bzw. "für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf" (§ 35 BVG nF). Diese Feststellungen sind mit der Revision nicht angegriffen und damit für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat weiter festgestellt, nach den gutachtlichen Äußerungen des Dr. K sei die Verschlimmerung seit 1956 nicht eine Folge der Verschlimmerung, die durch die Bescheide von 1951 als Schädigungsfolge anerkannt und nach einer MdE um 50 v. H. bewertet worden sei; auch gegen diese Feststellung sind Revisionsrügen nicht geltend gemacht. Mit der Revision angegriffen ist vielmehr nur die weitere Feststellung des LSG, in medizinischer Hinsicht sei die Hilflosigkeit des Klägers seit 1956 nach den Gutachten von Dr. K weder ganz noch teilweise Folge der "anerkannten" Verschlimmerung, sondern die Hilflosigkeit sei allein auf das von Folgen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft unabhängige Fortschreiten des Leidens nach seiner schicksalmäßigen Entwicklung zurückzuführen. Soweit sich der Kläger gegen diese Feststellung des LSG wendet, sind seine Rügen nicht begründet. Der Kläger hat nicht dargelegt, daß die von Dr. K erhobenen Befunde und der von ihm dargelegte Verlauf des Leidens unrichtig seien, er hat sich auch nicht dagegen gewandt, daß Dr. K für die Zeit von 1950 (Untersuchung durch Dr. St) bis 1956 (Eintritt der schweren Gehbehinderung und der praktischen Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes) einen "im wesentlichen stationären Verlauf des Leidens" angenommen hat; es ist auch nichts dagegen geltend gemacht, daß das Leiden seit dem Erlaß der Bescheide von 1951 stets nur als durch den Wehrdienst verschlimmert angesehen worden ist, daß also stets ein anlagebedingter Faktor des Gesamtleidenszustandes angenommen worden ist. Der Kläger greift die Feststellung des LSG, daß die Hilflosigkeit, die seit 1956 besteht, allein die Folge des schicksalhaften Fortschreitens des Leidens sei, im wesentlichen nur deshalb an, weil seit 1951 ein wehrdienstbedingter "Verschlimmerungsanteil" der Multiplen Sklerose mit 50 v. H. angenommen worden sei, der Kläger aber mindestens seit 1956 um 100 v. H. in der Erwerbsfähigkeit gemindert sei und deshalb der wehrdienstbedingte und der nicht wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil als gleichwertige wesentliche Bedingungen für die Hilflosigkeit anzusehen seien. Diese Schlußfolgerung des Klägers, die auf "rechnerischen" Überlegungen beruht, ist nicht richtig. Die Bewertung der MdE für ein als Schädigungsfolge anerkanntes Leiden besagt grundsätzlich für die Frage der Hilflosigkeit und ihre Ursachen nichts. Das LSG hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es Erwerbsunfähige gibt, die nicht "hilflos" im Sinne von § 35 BVG sind und deshalb zwar Rente nach einer MdE um 100 v. H., aber keine Pflegezulage erhalten; andererseits gibt es Versorgungsberechtigte, die wegen eines als Schädigungsfolge "anerkannten" Leidens nur Rente nach einem niederen Grad der MdE erhalten, aber Pflegezulage zu beanspruchen haben, weil diese anerkannte Schädigungsfolge Ursache oder Mitursache der Hilflosigkeit ist, z. B. Personen, die durch militärischen Dienst ein Auge verloren haben und später durch ein nicht wehrdienstbedingtes Ereignis auch das zweite Auge einbüßen (vgl. BSG 17, 114 ff). Entscheidend dafür, ob der Anspruch auf Pflegezulage besteht, ist stets nur, ob zu den Voraussetzungen, die den Anspruch auf Rente begründen, ein weiteres Tatbestandsmerkmal, nämlich die Hilflosigkeit, hinzukommt und ob dieses Tatbestandsmerkmal ursächlich mit der wehrdienstbedingten Schädigungsfolge verknüpft ist, damit also die wehrdienstbedingte Schädigungsfolge eine Ursache oder eine Mitursache der Hilflosigkeit ist. Die Pflegezulage ist neben der Rente eine zusätzliche Versorgungsleistung, die gesetzlichen Voraussetzungen für diese Leistung müssen selbständig geprüft werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Versorgungsverwaltung, wenn in einem früheren Bescheid festgestellt ist, ein Leidenszustand sei Schädigungsfolge, an diese Feststellung, also an die Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem schädigenden Ereignis und einem Leidenszustand, auch dann gebunden ist, wenn in einem späteren Bescheid darüber zu entscheiden ist, ob der Leidenszustand zur Hilflosigkeit geführt hat und damit die Voraussetzungen für die Pflegezulage bestehen. Jedenfalls ist bei der Entscheidung über die Pflegezulage in dem späteren Bescheid selbständig zu prüfen, ob der als Schädigungsfolge festgestellte Leidenszustand die wesentliche Bedingung oder eine wesentliche Bedingung der Hilflosigkeit ist. Dies hat das LSG getan, es hat, wenn es diese Frage im vorliegenden Falle verneint hat, § 35 BVG richtig angewandt, es hat dabei auch nicht die für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm, die insoweit anzuwenden ist (vgl. BSG 13, 40 ff; 17, 114 ff (119)), unrichtig angewandt, und es hat für seine Entscheidung auch medizinisch ausreichende Unterlagen gehabt. Es ist insoweit jedenfalls nicht an die Bewertung der MdE in dem früheren Bescheid gebunden gewesen. Die Beurteilung des Grades der MdE ist nichts anderes als die Bewertung des Ausmaßes der Schädigung, deren Eintritt das schädigende Ereignis alsbald oder später ausgelöst hat (vgl. BSG 17, 117); ist in einem späteren Bescheid über den Anspruch auf Pflegezulage zu entscheiden, so ist die Frage, ob und in welchem Ausmaße die Hilflosigkeit "infolge der Schädigung" eingetreten ist, allein nach den medizinischen Verhältnissen zu beurteilen, die in dem Zeitraum tatsächlich vorliegen, für den die Pflegezulage begehrt wird; es kommt nicht darauf an, wie dieser "Schaden" für den Anspruch auf Rente bewertet ist. Im vorliegenden Falle hat Dr. K, der insoweit auf die übereinstimmende Meinung von Dr. B in dessen Äußerung vom 10. Oktober 1956 hingewiesen hat, in seinem Gutachten vom 2. August 1961 und bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung des LSG am 3. Oktober 1961 dargelegt, daß die entscheidende Verschlimmerung in dem Zustand des Klägers, die zu der Hilflosigkeit geführt hat, erst 1956 aufgetreten ist und daß es nicht wahrscheinlich ist, daß exogene Faktoren, also Folgen des Wehrdienstes, die allenfalls während der Gefangenschaft 1945 bis 1948 zu einer ersten Verschlimmerung des damals bereits unabhängig vom Wehrdienst bestehenden Leidens geführt haben, für die seit 1956 beobachtete weitere Verschlimmerung ursächlich gewesen sind; er hat ausdrücklich verneint, daß die erste Verschlimmerung "ein auch nur gleichwertiger Faktor" für die Hilflosigkeit gewesen ist; er hat die Hilflosigkeit allein als die Folge des schicksalsmäßigen Fortschreitens des Leidens angesehen, also auf den nicht wehrdienstbedingten "Anteil" des Leidenszustandes zurückgeführt; er hat seine Ansicht auch damit begründet, daß die Hilflosigkeit in einem Zeitpunkt eingetreten ist, in dem sie auch in ähnlich gelagerten Fällen, in denen eine frühere wehrdienstbedingte Verschlimmerung nicht vorgelegen hat, vorkommt. Bei seiner mündlichen Anhörung am 3. Oktober 1961 hat Dr. K auch noch hervorgehoben, daß "die Bewertung der MdE mit 50 v. H. im Sinne der Verschlimmerung" bei Kriegsteilnehmern, die während ihres militärischen Dienstes an Multipler Sklerose erkrankt und Strapazen ausgesetzt gewesen sind, "mehr oder weniger einen gewohnheitsmäßigen Brauch" und ein Entgegenkommen darstelle; er hat auch damit erkennen lassen, daß aus der Bewertung des "Verschlimmerungsanteils" mit 50 v. H. Schlußfolgerungen auf die Auswirkungen einer etwaigen wehrdienstbedingten Verschlimmerung für den späteren Verlauf des Leidens und damit auch auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer wehrdienstbedingten Verschlimmerung und der später eintretenden Hilflosigkeit medizinisch nicht gezogen werden müssen. Das LSG hat die schlüssigen Darlegungen des Dr. Koeppen für überzeugend halten dürfen, es hat sich der Ansicht von Dr. K anschließen dürfen, auch wenn die Ätiologie der Multiplen Sklerose - worauf Dr. K hingewiesen hat und was auch gerichtsbekannt ist - ungeklärt ist und deshalb andere Gutachter möglicherweise insoweit zu einem anderen Ergebnis kommen; es hat unter diesen Umständen auch nicht noch ein weiteres ärztliches Gutachten einholen müssen (vgl. BSG SozR Nr. 33 zu § 128 SGG); es hat bei der Feststellung der Tatsachen und bei der Würdigung der Beweise nicht gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen und es hat § 35 BVG richtig angewandt. Es hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage, mit der der Kläger die Pflegezulage begehrt hat, abgewiesen.
Die Revision des Klägers ist damit unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen