Leitsatz (amtlich)
Für die Kannversorgung Hinterbliebener nach BVG § 1 Abs 3 S 2 gilt die Rechtsvermutung des BVG § 38 Abs 1 S 2 nicht.
Leitsatz (redaktionell)
Ungeachtet der Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge im Beschädigtenverfahren und der Bedeutung, die diese Anerkennung bei der Geltendmachung des Rechtsanspruchs auf Hinterbliebenenversorgung gehabt hat, hat die Versorgungsbehörde im Verfahren über die beantragte "Kann-Leistung" alle Voraussetzungen dieser Leistung zu prüfen. Sie hat hierbei die für die Entscheidung über die "Kann-Leistung" erheblichen Tatsachen, insbesondere auch die, "ob wehrdienstlich bedingte Einflüsse für eine Krebsbegünstigung" vorgelegen haben, unabhängig von früheren medizinischen Beurteilungen auf Grund der jetzt gewonnenen richtigen Erkenntnis des medizinischen Sachverhalts feststellen müssen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1964-02-21, § 38 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juni 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin, P V (V.), starb im Jahre 1962 in seinem 60. Lebensjahr an einem Magenkrebsleiden. Er bezog wegen "Salzsäuremangel des Magens und Verwundungsfolgen an der linken Hand und am rechten Knie" als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v.H.; die nach dem 1. Weltkrieg anerkannten Schädigungsfolgen waren im Jahre 1951 ohne versorgungsärztliche Nachuntersuchung durch Bescheide nach dem Bayerischen Körperbeschädigtenleistungsgesetz (BKBLG) und dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) unverändert übernommen worden.
Die Anträge der Klägerin, ihr eine Witwenrente sowie das volle Bestattungsgeld zu gewähren, wurden abgelehnt, weil "nach versorgungsärztlicher Auffassung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Magenkrebs als einem schicksalsbedingten Leiden und den anerkannten Schädigungsfolgen nicht bestehe" (Bescheide vom 21.1. und 27.2.1953). In dem hiergegen gerichteten sozialgerichtlichen Verfahren sprach das Sozialgericht (SG) Bayreuth (mit Urteil vom 16.12.1954) der Klägerin die Witwenrente und das volle Bestattungsgeld zu, weil der anerkannte Säuremangel des Magens, auch wenn seine Anerkennung als Schädigungsfolge zu Unrecht erfolgt sei, als wesentliche Teilursache für die Entstehung des Magenkrebses zu betrachten sei.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 1. Juni 1959 das Urteil des SG Bayreuth vom 16. Dezember 1954 auf; es wies die Klage gegen den Bescheid vom 27. Februar 1953 über die Versagung der Witwenrente (wegen Verspätung) als unzulässig zurück. Die Klage gegen den Bescheid vom 21. Januar 1953 über die Versagung des vollen Bestattungsgeldes wies es als unbegründet zurück. Dazu führte es aus, V. sei nicht an dem anerkannten Säuremangel des Magens, sondern an einem Magenkarzinom gestorben. Damit entfalle die Rechtsvermutung des § 36 Abs. 1 Satz 3 BVG, der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und dem Tod sei deshalb unabhängig von der Anerkennung im Beschädigtenverfahren erneut zu prüfen. Die neue Prüfung unter Auswertung aller verfügbarer medizinischer Unterlagen und unter Berücksichtigung des Krankheitsverlaufs habe zu dem Ergebnis geführt, daß der erst nachwehrdienstlich aufgetretene Salzsäuremangel nicht auf Wehrdiensteinflüsse zurückzuführen sei; es sei deshalb auch nicht bedeutsam, ob dieser konstitutionsbedingte Salzsäuremangel für die Entstehung des Magenkarzinoms mitverantwortlich geworden sei. Das Urteil des Bayerischen LSG vom 1. Juni 1959 wurde rechtskräftig.
Im Jahre 1964 beantragte die Klägerin, ihr "wegen der Ungewißheit über die Ursachen des Krebsleidens", an dem V. gestorben sei, nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG idF des Zweiten Neuordnungsgesetzes (2. NOG) eine Witwenrente "im Wege des Kann-Bezuges" zu gewähren. Dieser Antrag wurde (unter Hinweis auf die Voraussetzungen eines Härteausgleichs bei Krebserkrankungen - Rundschr. BMA vom 8.5.1963, V/6 - 5681, 9 - 1195/63 -) abgelehnt, weil sich kein Anhalt ergeben habe, daß "das allgemeine Krebsrisiko durch Tatbestände des § 1 BVG individuell erhöht worden sei"; ein zeitlicher und ursächlicher Zusammenhang des bei V. festgestellten Säuremangels des Magens mit Wehrdiensteinflüssen sei nicht gegeben (Bescheid des Versorgungsamts B vom 30.4.1965; Widerspruchsbescheid vom 14.6.1965).
Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, ihr müsse auch für die Entscheidung auf Versorgung "als Kann-Leistung" nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG zugute kommen, daß der Salzsäuremangel des Magens ihres Ehemannes als Schädigungsfolge anerkannt gewesen sei; die Berechtigung der Versorgung ergebe sich danach aus der Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG.
Das SG Bayreuth hat die Klage mit Urteil vom 30. August 1966 abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin hat das Bayerische LSG mit Urteil vom 27. Juni 1968 zurückgewiesen.
Das LSG hat die Auffassung vertreten, es sei nicht zu beanstanden, daß der Beklagte der Klägerin die Kann-Leistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG versagt habe; eine Überschreitung der Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens der Verwaltung sei darin nicht zu erblicken. Die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG könne bei einer "Kann-Versorgung" nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nicht Platz greifen. Der Beklagte sei ungeachtet der Anerkennung des Salzsäuremangels als Schädigungsfolge im Beschädigtenverfahren und der Bedeutung dieser Anerkennung für einen Rechtsanspruch der Klägerin auf Versorgung im Verfahren auf die Kann-Leistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG zu einer neuen Prüfung verpflichtet gewesen. Er habe hierbei zu dem Ergebnis kommen dürfen, daß der Salzsäuremangel des Magens ein nicht schädigungsbedingtes, konstitutionelles Leiden gewesen sei und daß damit "wehrdienstliche Einflüsse im Sinne einer Krebsbegünstigung", wie sie die Härteausgleichsversorgung voraussetze, gefehlt hätten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat formgerecht und fristgemäß Revision eingelegt.
Sie beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin einen neuen Bescheid über die beantragte Hinterbliebenenversorgung im Wege der Kann-Leistung zu erteilen.
Die Klägerin rügt, das LSG habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG könne in den Fällen der Hinterbliebenenversorgung im Wege des Kann-Bezugs nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nicht Platz greifen. Das LSG habe verkannt, daß der Beklagte über den Kann-Bezug ermessensmißbräuchlich entschieden habe.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist sachlich jedoch nicht gerechtfertigt.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 30. April 1965 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.6.1965), mit dem der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Versorgung (Witwenrente) nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG idF des 2. NOG abgelehnt hat. Das LSG ist zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, der Beklagte habe sich mit der Versagung der Witwenversorgung als "Kann-Leistung" nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG im Rahmen seines pflichtgemäßen Verwaltungsermessens gehalten (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG); die angefochtenen Bescheide seien daher rechtmäßig. Zu Unrecht hält die Klägerin die angefochtenen Bescheide für rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Entscheidung über die "Kann-Leistung" nach § 1 Abs. 3 Satz 2 idF des 2. NOG die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht beachtet habe. Diese Rechtsvermutung bedeutet, daß bei der Beurteilung des Rechtsanspruches auf Hinterbliebenenversorgung (§ 38 Abs. 1 Satz 1 BVG) nicht erneut zu prüfen ist, ob ein Leiden (im Beschädigtenverfahren) zu Recht als Schädigungsfolge anerkannt worden ist, wenn dieses Leiden zum Tod geführt hat, d.h. wenn der ursächliche Zusammenhang (i.S. der in der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm) zwischen der anerkannten Schädigungsfolge und dem Tod wahrscheinlich ist. Über diese Frage ist durch den erfolglos angefochtenen und damit bindend gewordenen Bescheid des Beklagten über den Rechtsanspruch auf Witwenversorgung entschieden worden; in diesem Verfahren ist festgestellt worden, daß der ursächliche Zusammenhang des Todes des Ehemannes der Klägerin an einem Magenkrebsleiden mit der anerkannten Schädigungsfolge (Salzsäuremangel des Magens) nicht wahrscheinlich ist. Damit besteht keine Möglichkeit mehr, die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG anzuwenden.
Die Versorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG beruht nicht, wie der Rechtsanspruch auf Versorgung, darauf, daß die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem "Todesleiden" und einer Schädigung i.S. des BVG oder einer anerkannten Schädigungsfolge festgestellt ist; sie hat vielmehr ihre (eigene) Grundlage darin, daß der ursächliche Zusammenhang nicht "als wahrscheinlich beurteilbar" ist, weil über die Ursachen des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Deshalb ist für Anwendung der Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG hier kein Raum.
Im vorliegenden Falle ist zwar für die Entscheidung des Beklagten über die Leistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG bedeutsam gewesen, ob der Säuremangel des V. (als möglicherweise die Entstehung des Krebsleidens begünstigender Umstand) schädigungsbedingt gewesen ist, d.h. ob "wehrdienstliche Einflüsse das Krebsrisiko erhöht haben" (im Sinne der Voraussetzungen eines Härteausgleichs bei Krebserkrankung - Rundschr. BMA vom 8.5.1965, V/6-5681, 9-1195/63 -), also ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Salzsäuremangel und einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG als wahrscheinlich festzustellen ist. Der Beklagte hat dies jedoch bei der Entscheidung über die "Kann-Versorgung" der Witwe nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nicht deshalb bejahen müssen, weil der Salzsäuremangel (im Beschädigtenverfahren) als Schädigungsfolge anerkannt gewesen ist. Er hat dies ebensowenig allein deshalb verneinen dürfen, weil in dem Urteil des Bayerischen LSG vom 1. Juni 1959 im Verfahren um volles Bestattungsgeld entschieden worden ist, daß der Salzsäuremangel keine Schädigungsfolge gewesen ist. Die Versorgung "im Wege des Kann-Bezugs" nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG (§ 89 Abs. 2 idF des Ersten Neuordnungsgesetzes - 1. NOG -) "bei Leiden mit noch ungeklärter Ätiologie" ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, eine (von dem Rechtsanspruch auf Versorgung verschiedene und zu trennende) Versorgung eigener Art und auf besonderer Grundlage (vgl. auch Urteil des erk. Senats vom 16.5.1968 - 8 RV 619/67 -). Der Beklagte hat deshalb hinsichtlich der Voraussetzungen dieser Versorgung ("Ermessensleistung") eine "uneingeschränkte Sachprüfung" vorzunehmen; er ist an Entscheidungen in einem früheren Verfahren, in dem über den Rechtsanspruch auf Versorgung entschieden worden ist, nicht gebunden. Der Beklagte hat bei der Entscheidung über die Leistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG auch alle Einzel- und Vorfragen, insbesondere auch die, ob Vorerkrankungen die "krebsbegünstigend" gewesen sein könnten, vorgelegen haben und ob diese schädigungsbedingt gewesen sind (also "das Krebsrisiko durch Schädigungsfolgen erhöht worden ist") ohne Bindung an frühere Entscheidungen prüfen und entscheiden müssen. Er hat hierbei - wie es auch dem Sinn und Zweck der "neugestalteten" Härteausgleichsversorgung entspricht, die für die Entscheidung über die Kann-Leistung erheblichen Tatsachen unabhängig von früheren medizinischen Beurteilungen auf Grund der jetzt gewonnenen richtigen Erkenntnis des medizinischen Sachverhalts feststellen müssen. Wenn der Beklagte dies getan hat, so hat er mit der Versagung der Kann-Leistung nicht "ermessensmißbräuchlich" gehandelt.
Es ist weder von der Klägerin dargelegt worden noch besteht ein Anhalt dafür, daß der Beklagte seiner Entscheidung über die "Kann-Leistung" nicht den zutreffend ermittelten medizinischen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, wenn er zu dem Ergebnis gekommen ist, der Säuremangel des V. sei nicht schädigungsbedingt gewesen, so daß wehrdienstliche Einflüsse nicht zu einer "Krebsbegünstigung" beigetragen hätten. Der Beklagte hat damit die Voraussetzungen für eine "Kannversorgung" wegen der ungeklärten Ätiologie des Krebsleidens verneinen dürfen. Die gerichtlichen Vorinstanzen haben im Rahmen der ihnen (nur) nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG obliegenden Prüfung zu Recht entschieden, daß der Beklagte mit der Versagung der "Kannleistung" nicht "ermessensmißbräuchlich" gehandelt hat; sie haben deshalb die angefochtenen Bescheide zutreffend für rechtmäßig gehalten.
Die Revision der Klägerin war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen