Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Nichtbestehen einer Unterhaltspflicht. Unterhaltsverzicht. Unterhaltsersatzfunktion. Teilhabe der früheren Ehefrau an während der Ehe erworbenen Anwartschaften
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Unterhaltspflicht hat nur dann wegen der in AVG § 42 S 2 genannten Umstände nicht bestanden, wenn das Vorliegen gerade dieser Umstände für das Nichtbestehen einer Unterhaltspflicht rechtserheblich gewesen ist.
2. War eine Unterhaltspflicht des Versicherten durch einen Unterhaltsverzicht der früheren Ehefrau ausgeschlossen, so besteht kein Anspruch nach AVG § 42 S 2.
Normenkette
AVG § 42 S 2 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1265 S 2 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art 2 § 18 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 19 Fassung: 1972-10-16
Tatbestand
I.
Die Ehe der Klägerin mit dem im März 1968 verstorbenen Versicherten wurde im Juli 1964 aus dessen Verschulden geschieden. Der Versicherte hat nicht wieder geheiratet.
Vor der Scheidung schlossen die Klägerin und der Versicherte einen gerichtlichen Unterhaltsvergleich. Danach hatte der Versicherte sechs Monate nach der Scheidung Unterhalt in Höhe von 1.000,-- DM für die Klägerin und die Kinder, für die Folgezeit noch monatlich 700,-- DM für die Kinder, zu zahlen. Im übrigen verzichteten die Eheleute gegenseitig auf Unterhalt, und zwar auch für den Fall des Notbedarfs.
Nach den Angaben der Klägerin hatte der Versicherte zZT der Scheidung ein Jahreseinkommen von etwa 38.000,- DM; seine Tätigkeit als Handelsvertreter übte er bis zu seinem Tode aus. Die Klägerin ist seit Juni 1964 als Leiterin eines Schulkindergartens beschäftigt.
Den Antrag der Klägerin vom November 1972 auf Rente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lehnte die Beklagte ab. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Die Voraussetzungen des § 42 Satz 1 AVG seien nicht erfüllt, da etwaige Unterhaltsansprüche der Klägerin nach dem Ehegesetz (EheG) durch den Unterhaltsverzicht ausgeschlossen gewesen seien. Diesem Verzicht komme auch für den Fall konstitutive Bedeutung zu, daß der Klägerin zur Zeit der Scheidung kein Unterhaltsanspruch nach dem EheG zugestanden habe. Es fehle aber auch an den Voraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG, und zwar sowohl in der vor dem 1. Januar 1973 als auch in der seitdem geltenden Fassung, denn einem Unterhaltsanspruch der Klägerin hätten weder die Vermögens- oder Erwerbs*-verhältnisse des Versicherten noch die Erträgnisse der Erwerbstätigkeit der Klägerin, sondern der Unterhaltsverzicht entgegengestanden. Aus der Entstehungsgeschichte des Satzes 2 nF lasse sich ein anderes Ergebnis ebensowenig herleiten wie aus den derzeitigen Bemühungen um Schaffung eines Versorgungsausgleichs im Zusammenhang mit der Eherechtsreform.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine unrichtige Anwendung von § 42 Satz 2 AVG. Der Gesetzgeber habe mit der Neufassung dieser Vorschrift den Anspruch seiner bisherigen Unterhaltsersatzfunktion entkleidet. Damit habe der Gedanke der Teilhabe der geschiedenen Frau an den während der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften Eingang ins Gesetz gefunden. Das LSG habe ferner verkannt, daß die Klägerin im Unterhaltsvergleich in Wahrheit auf nichts verzichtet, sondern nur anerkannt habe, daß ihr Unterhaltsansprüche nicht zustünden. Keinesfalls habe die Klägerin auf Sozialversicherungsansprüche aus späteren Gesetzen verzichtet.
Die Klägerin beantragt,
die Vorentscheidungen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG zu verurteilen,
hilfsweise
Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung an die Vorinstanz.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente nach § 42 AVG.
Daß die Vorinstanzen des § 42 Satz 1 AVG nicht erfüllt sind, ist unter den Beteiligten nicht mehr streitig und auch nicht zweifelhaft. Das LSG hat aber auch zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG verneint, wobei es zutreffend sowohl von der Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) als auch der des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476) ausgegangen ist (vgl Art 2 § 18 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - idF des RRG).
Nach § 42 Satz 2 AVG idF des RVÄndG findet, wenn - wie hier - eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, § 42 Satz 1 AVG auch dann Anwendung, wenn eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten wegen seiner Vermögens- oder Erwerbs*-verhältnisse nicht bestanden hat. Hiervon weicht § 42 Satz 2 AVG idF des RRG insofern ab, als es jetzt einerseits der Erfüllung weiterer Anspruchsvoraussetzungen bedarf, auf der anderen Seite aber einer fehlenden Unterhaltspflicht wegen ungünstiger Vermögens- und Erwerbs*-verhältnisse des Versicherten der Fall gleichgestellt ist, daß eine Unterhaltsverpflichtung wegen der von der früheren Ehefrau erzielten Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht gegeben war.
§ 42 Satz 2 AVG idF des RVÄndG setzte mithin voraus, daß eine Unterhaltspflicht des Versicherten aus einem bestimmten Grunde, nämlich wegen ungünstiger Vermögens- und Erwerbs*-verhältnisse des Versicherten, nicht bestanden hatte; ist eine Unterhaltspflicht allein oder auch aus einem anderen Grunde nicht gegeben gewesen, so ist für eine Anwendung von § 42 Satz 2 idF des RVÄndG kein Raum (vgl SozR Nrn 31, 40 zu § 1265 RVO). Für § 42 Satz 2 AVG idF des RRG kann, soweit es sich zusätzlich um das Fehlen der Unterhaltspflicht wegen günstiger Erwerbsverhältnisse der früheren Ehefrau handelt, nichts anderes gelten; die Unterhaltspflicht des Versicherten muß nun aus einem der in Satz 2 nF bestimmten Gründe oder aus beiden dort bestimmten Gründen nicht gegeben gewesen sein; war die Unterhaltspflicht - allein oder auch - aus anderen nicht in Satz 2 nF genannten Gründen nicht gegeben, besteht kein Rentenanspruch auf Grund dieser Vorschrift. Allein diese Auslegung ist mit Wortlaut und Sinn des Gesetzes vereinbar. Eine Unterhaltspflicht hat nur dann "wegen" eines oder mehrerer bestimmter Umstände nicht bestanden, wenn das Vorliegen gerade dieser Umstände für das Nichtbestehen der Unterhaltspflicht rechtserheblich gewesen ist. Im übrigen mag es zutreffen, daß sich der Gesetzgeber in § 42 Satz 2 AVG, und zwar bereits in der Fassung des RVÄndG, vom Gedanken der Unterhaltsersatzfunktion entfernt hat. Das ändert jedoch nichts daran, daß auch § 42 Satz 2 AVG noch den Anschluß an das Unterhaltsrecht wahrt; es ist nicht schlechthin bedeutungslos, daß ein Unterhaltsanspruch nicht bestanden hatte, vielmehr ist gerade das Fehlen einer Unterhaltspflicht aus bestimmten Gründen Voraussetzung des Rentenanspruchs. Der Gedanke einer Teilhabe der früheren Ehefrau an den während der Ehe erworbenen Anwartschaften hat hier dagegen noch keinen Niederschlag gefunden; er kann daher auch nicht Grundlage einer vom Gesetzeswortlaut abweichenden Auslegung von § 42 Satz 2 AVG sein.
Für die Annahme einer Gesetzeslücke (vgl Peters ZfS 1975, 173) ist kein Raum. Es erscheint schon nicht glaubhaft, daß der Gesetzgeber den verhältnismäßig häufigen Tatbestand des Unterhaltsverzichts übersehen haben sollte. Jedenfalls kann angesichts der Unterschiede in der Interessenlage nicht angenommen werden, daß er die Regelung des § 42 Satz 2 AVG auf ihn erstreckt hätte. Der Unterhaltsverzicht ist den im Gesetzeswortlaut genannten Gründen nicht gleichwertig. Dort schließt erst der Tod des früheren Ehemannes jede Erwartung der früheren Ehefrau, doch noch einen Unterhaltsanspruch zu erlangen, aus und stellt damit (aus der Sicht des Gesetzgebers) eine unter bestimmten weiteren Voraussetzungen auszugleichende Einbuße dar. Wer hingegen auf Unterhalt auch für den Fall des Notbedarfs verzichtet, erleidet durch den Tod seines früheren Ehegatten keine Einbuße möglicher künftiger Unterhaltsansprüche mehr.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG schloß der im Unterhaltsvergleich enthaltene Unterhaltsverzicht eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten auch für die Zeit seines Todes ungeachtet der dann bestehenden Vermögens- und Einkommens*-verhältnisse der Vertragsparteien aus. Damit waren diese Verhältnisse für das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung unerheblich; sie brauchten vom LSG nicht geklärt zu werden. Ohne Bedeutung ist es, ob sich die Klägerin zu dem Verzicht durch die Vorstellung des seinerzeitigen Fehlens eines Unterhaltsanspruchs hat bestimmen lassen; denn auch wenn man hier ihrem tatsächlichen Vorbringen folgen wollte, hätte doch letztlich der Verzicht und damit nicht ein nach § 42 Satz 2 AVG erheblicher Umstand einen Unterhaltsanspruch ausgeschlossen. Daß die Klägerin beim Abschluß des Unterhaltsvergleichs die Einführung und spätere Änderung des § 42 Satz 2AVG nicht voraussehen und berücksichtigen konnte, kann nach dem Gesetzeswortlaut auf die Rechtslage keinen Einfluß haben; da die Lage der Klägerin durch die Gesetzesänderung jedenfalls nicht verschlechtert worden ist, bestehen insoweit auch aus Gründen der Rechtssicherheit keine verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfGE 15, 313 (3247)).
Nach alledem war die Revision zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Fundstellen
Haufe-Index 1649253 |
BSGE, 155 |