Leitsatz (amtlich)
1. Die Beanstandung von Versicherungsbeiträgen durch den Versicherungsträger hat nur die vom Gesetz ausdrücklich angegebenen verfahrensrechtlichen Wirkungen (AVG §§ 143, 145 Abs 2, 146 Abs 2); sie hat nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit dieser Beiträge zur Folge.
2. Der Versicherungsträger muß die rückwirkende Berichtigung der Löschung eines Handwerkers in der Handwerksrolle gegen sich gelten lassen, es sei denn die Eintragung der Handwerkskammer erweist sich als nichtig. Unbenommen bleibt die Möglichkeit des Versicherungsträgers zu Gegenvorstellungen bei der zuständigen Handwerkskammer oder ihrer Aufsichtsbehörde mit dem Ziel, eine als unrichtig angesehene Eintragung oder Löschung von Amts wegen berichtigen zu lassen.
Normenkette
AVG § 143 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 145 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 146 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1421 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1423 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1424 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; HwAVG S. 1 Fassung: 1938-12-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. März 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes, der am 12. Februar 1957 gestorben ist.
Der Versicherte war selbständiger Müller und als solcher in der Handwerksrolle eingetragen. Am 8. Juni 1955 geriet er in Konkurs. Dies zeigte der Konkursverwalter der zuständigen Handwerkskammer (am 5. September 1955) an, die daraufhin den Versicherten am 29. September 1955 in der Handwerksrolle löschte. Von der Löschung erhielt der Konkursverwalter Nachricht. Im Januar 1956 beantragte der Versicherte Berufsunfähigkeitsrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag wegen Nichterfüllung der Wartezeit ab; sie beanstandete die für Oktober bis Dezember 1955 geleisteten drei Beiträge. Diese seien als Pflichtbeiträge unwirksam, weil der Versicherte seit dem 29. September 1955 in der Handwerksrolle gelöscht sei, und als freiwillige Beiträge deshalb, weil er schon seit Juni 1955 berufsunfähig sei (§§ 190 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG - aF, 1443 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Es seien daher nur 57 rechtswirksame Beiträge entrichtet worden (Bescheid vom 13. September 1956).
Die Klage des Versicherten gegen diesen Bescheid wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Lüneburg vom 9. April 1958 aus den Gründen des Ablehnungsbescheides abgewiesen, die hiergegen eingelegte Berufung durch das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen (Beschluß vom 15. August 1958). Nach dem Tode des Versicherten (Februar 1957) hatte die Klägerin den Rechtsstreit fort gesetzt und inzwischen - am 7. März 1957 - Hinterbliebenenrente beantragt.
Unabhängig davon erhob die Klägerin im Juni 1958 bei der Handwerkskammer Lüneburg-Stade Einwendungen gegen die Löschung ihres verstorbenen Ehemannes in der Handwerksrolle. Die Handwerkskammer strich daraufhin den Löschungsvermerk und teilte der Klägerin mit, sie habe sich hierzu entschlossen, weil sie als erwiesen ansehe, daß der Versicherte die Löschungsnachricht nicht erhalten habe. Später (mit Bescheid vom 15. August 1958) unterrichtete die Handwerkskammer die Klägerin davon, daß die Löschung nunmehr mit dem 30. April 1956 neu vorgenommen worden sei, weil sich ergeben habe, daß der Mühlenbetrieb noch bis zu diesem Datum unterhalten worden sei. Die Klägerin teilte der Beklagten diese Maßnahme der Handwerkskammer mit. Die Beklagte lehnte jedoch gleichwohl den Antrag auf Hinterbliebenenrente ab, weil die nach dem Tode des Versicherten erfolgte Neueintragung versicherungsrechtlich bedeutungslos sei (Bescheid vom 27. August 1959). Die Klage hatte Erfolg. Die Beklagte wurde zur Zahlung von Witwenrente vom 1. Februar 1957 an verurteilt. Die von ihr eingelegte Berufung wurde zurückgewiesen (Urteil vom 23. März 1962). Das LSG ließ die Revision zu wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, welche rechtliche Wirkung die rückwirkende Beseitigung der Löschung eines Handwerkers in der Handwerksrolle auf seine Versicherungspflicht hat. Nach der Ansicht des LSG ist die Löschung vom 29. September 1955 durch die spätere Berichtigung der Handwerksrolle ex tunc rückgängig gemacht worden. Diese Berichtigung möge ihrerseits fehlerhaft sein. Das könne aber durch die Sozialgerichte nicht nachgeprüft werden, sofern der Verwaltungsakt der Handwerkskammer nicht nichtig sei. Das aber sei zu verneinen. Die Handwerkskammer müsse das Recht haben, von sich aus unrichtige oder vermeintlich unrichtige Löschungen wieder zu beseitigen, ebenso wie die Verwaltungsgerichte die Aufhebung der Löschung durch Urteil aussprechen könnten. Die durch die rückwirkende Berichtigung geschaffene Rechtslage sei auch für die Versicherungspflicht zu beachten. Die für Oktober bis Dezember 1955 entrichteten Beiträge seien daher als wirksame Pflichtbeiträge anzusehen.
Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügte die unrichtige Auslegung des § 1 des Handwerkerversorgungsgesetzes (HVG). Die Versicherungsträger seien an eine einmal erfolgte Löschung gebunden. Ein nicht oder nicht mehr in der Handwerksrolle eingetragener Handwerker sei kein Handwerker im Sinne des HVG. Das müsse auch dann gelten, wenn gewerberechtlich eine rückwirkende Berichtigung möglich sei. Überdies sei die Löschung vom 29. September 1955 rechtmäßig erfolgt. Der Konkursverwalter sei der richtige Adressat gewesen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 und 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Das LSG geht zutreffend davon aus, daß die Rechtskraft des Urteils des SG Lüneburg vom 9. April 1958 dem vorliegenden Rechtsstreit nicht entgegensteht. Die Grenzen der Rechtskraft werden allein durch den Streitgegenstand bestimmt. Streitgegenstand in dem vorangegangenen abgeschlossenen Verfahren war die Invalidenrente; Streitgegenstand in dem vorliegenden Verfahren dagegen ist die Hinterbliebenenrente. Die Wirksamkeit der Beiträge war und ist in beiden Verfahren nur Vorfrage. Die Entscheidung über eine Vorfrage betrifft aber nicht den Streitgegenstand und ist folglich nicht der Rechtskraft fähig. Das gilt auch bei klagabweisenden Urteilen (vgl. Peters/Sautter/Wolff, SGG § 141, II/192 ff). Die für die Zeit nach Löschung in der Handwerksrolle von dem Versicherten geleisteten Beiträge sind demnach nicht schon deshalb als unwirksam zu behandeln, weil das Verfahren über die Berufsunfähigkeitsrente des Versicherten durch Abweisung der Klage rechtskräftig abgeschlossen ist.
Auch die in den Gründen des Bescheids der Beklagten vom 13. September 1956 enthaltene Beanstandung hindert nicht, erneut über die Wirksamkeit der Beiträge zu entscheiden. Die Beanstandung enthält keine Regelung; sie ist daher kein Verwaltungsakt, der bindend werden könnte, sondern eine verfahrensmäßige Befugnis. Sie dient dazu, die Wahrnehmung bestimmter Rechte zu gewährleisten. Dies folgt aus den in den §§ 143 ff AVG festgelegten Wirkungen der Beanstandung (vgl. § 143 Abs. 2 und 3, 145 Abs. 2 und 146 Abs. 2 AVG). Weitere als die im Gesetz vorgesehenen Wirkungen können der Beanstandung nicht beigemessen werden. Jedenfalls enthält die Beanstandung nicht zugleich - kraft Gesetzes - die Feststellung der Unwirksamkeit entrichteter Beiträge. Eine solche Schlußfolgerung bringt das Gesetz an keiner Stelle - auch nicht andeutungsweise - zum Ausdruck. Gegen sie spricht auch die historische Entwicklung. Denn über die Unwirksamkeit von Beiträgen konnte nur durch die Versicherungsämter im Beschlußverfahren bindend entschieden werden (§ 194 AVG aF). Nunmehr bietet § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG die Möglichkeit einer Feststellungsklage bei den Sozialgerichten. Es kann also auf Feststellung geklagt werden, daß der Versicherte weder verpflichtet noch berechtigt war, die beanstandeten Beiträge zu entrichten. Es kann aber ebenso auch Feststellungswiderklage in einem Leistungsverfahren erhoben werden, in dem diese Beiträge streitig geworden sind. Nur auf diese Weise kann die Beitragsfrage auch für alle späteren Versicherungsfälle abschließend geklärt werden. Da dies bisher nicht geschehen ist, bleibt die Wirksamkeit der beanstandeten Beiträge im vorliegenden Verfahren erneut zu prüfen.
Die Unwirksamkeit der für Oktober bis Dezember 1955 entrichteten Beiträge könnte möglicherweise daraus herzuleiten sein, daß die spätere Berichtigung der 1955 erfolgten Löschung als nichtiger Verwaltungsakt anzusehen wäre. Der Senat ist jedoch - mit dem LSG - der Auffassung, daß von der Wirksamkeit dieser Berichtigung der Handwerksrolle auszugehen ist.
Nach § 1 HVG besteht Versicherungspflicht für Handwerker, solange sie in der Handwerksrolle eingetragen sind. Ob die Eintragung zu Recht erfolgt ist oder fortbesteht, ist - wie schon der Gesetzeswortlaut zeigt - für das Versicherungsverhältnis regelmäßig ohne Bedeutung. Deshalb muß die Eintragung, solange sie besteht, vom Versicherungsträger beachtet werden. Hat er Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Eintragung, bleibt es ihm unbenommen, bei der zuständigen Handwerkskammer oder ihrer Aufsichtsbehörde eine Überprüfung anzuregen. Tut er das nicht, ist der jeweilige Inhalt der Handwerksrolle auch für das Versicherungsverhältnis maßgebend. Diese Rechtslage muß auch von den Sozialgerichten berücksichtigt werden. Für den Fall der rückwirkenden Berichtigung der Handwerksrolle lassen die Vorschriften der Handwerksordnung nicht erkennen, daß insoweit eine Einschränkung zu machen wäre. Deshalb ist auch hier der jeweilige Inhalt der Eintragung maßgebend. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn die Eintragung als nichtig anzusehen ist; denn ein nichtiger Verwaltungsakt ist allgemein unbeachtlich. Die im Juli 1950 vorgenommene Berichtigung der Handwerksrolle läßt aber nicht so schwerwiegende Mängel erkennen, daß sie deswegen als nichtig anzusehen wäre.
Es ist deshalb davon auszugehen, daß der Ehemann der Klägerin jedenfalls auch noch für die Zeit von Oktober bis Dezember 1955 in der Handwerksrolle eingetragen und damit versicherungspflichtig war. Es kann dabei offen bleiben, ob die zwischen der ersten Löschung und ihrer Berichtigung entrichteten Beiträge zunächst unwirksam waren und mit der Berichtigung automatisch wirksam wurden oder nun als wirksam nachentrichtete Beiträge anzusehen sind. Jedenfalls muß sie die Beklagte als wirksame Beiträge behandeln, unabhängig von den sonst aus der berichtigten Eintragung für das Versicherungsverhältnis zu ziehenden Folgerungen. Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente vom 1. Februar 1957 an ist somit begründet. Die Revision der Beklagten kann deshalb Keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen