Orientierungssatz
Zur Frage, inwieweit präjudizielle Rechtsverhältnisse bei Rentenversicherungsansprüchen der Rechtskraft unterliegen und der Neufeststellung eines Rentenanspruchs im Wege stehen.
Normenkette
SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 141 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 12.06.1975; Aktenzeichen L 10 An 6/74) |
SG Berlin (Entscheidung vom 16.11.1973; Aktenzeichen S 17 An 281/72) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Juni 1975 wird, soweit es die Rente wegen Berufsunfähigkeit betrifft, zurückgewiesen. Im übrigen wird das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
In einem früheren Verfahren - S 11 An 135/64 des Sozialgerichts (SG) Berlin und L 12 An 36/65 des Landessozialgerichts (LSG) Berlin -, in welchem es vorwiegend um die Frage ging, ob und seit wann die Klägerin berufsunfähig war, hatten die Beteiligten am 19. Juli 1966 einen Vergleich geschlossen, wonach sich die Beklagte verpflichtete, der am 22. Juni 1913 geborenen und früher in B wohnhaft gewesenen Klägerin eine Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. März 1965 an zu gewähren. Bei der Ausführung dieses Vergleichs berücksichtigte die Beklagte in ihrem Bescheid vom 16. Dezember 1966 u. a. außer den von der Landesversicherungsanstalt B anerkannten, in der Arbeiterrentenversicherung von 1927 bis Ende Juni 1934 zurückgelegten Versicherungszeiten keine weiteren Versicherungszeiten von 1934 bis 1945. Deswegen führte die Klägerin einen weiteren Rechtsstreit, in dem sowohl das SG Berlin als auch das LSG Berlin die behaupteten Versicherungszeiten in der Angestelltenversicherung (AnV) von 1934 bzw. März 1935 bis Januar 1945 ebenfalls als nicht glaubhaft gemacht ansahen. Die Revision der Klägerin wurde vom Bundessozialgericht (BSG) als unzulässig verworfen (S 13 An 181/67 SG Berlin, L 12 An 195/68 LSG Berlin und 11 RA 134/70).
Mit Schreiben vom 29. April 1971 beantragte die Klägerin erneut, die fehlenden Versicherungsjahre von 1935 bis 1945, in denen sie in verschiedenen Häusern im Privat- und Stationsdienst als Krankenschwester tätig gewesen sei und in denen sie zur AnV Marken geklebt habe, als weitere Beitragszeiten anzuerkennen. Die Beklagte sah hierin einen Antrag nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Mit Bescheid vom 21. Mai 1971 lehnte sie die Neufestsetzung der festgestellten Berufsunfähigkeitsrente ab, weil sämtliche von der Klägerin eingesandten Unterlagen bereits Gegenstand der früheren Verfahren vor dem SG und dem LSG Berlin gewesen seien. Die in diesen Urteilen dargelegte Sach- und Rechtslage habe sich nicht geändert. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Bescheid vom 14. Oktober 1971).
Hiergegen wandte sich die Klägerin wiederum mit der Klage an das SG Berlin. Im Verlaufe des dort anhängigen Verfahrens S 17 An 281/72 wandelte die Beklagte durch Bescheid vom 16. Februar 1972 die bisher gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung vom 1. Mai 1971 an um. Bei der Berechnung der umgewandelten Rente wurden wie bisher nur Beitragszeiten bis zum 29. Juni 1934 und seit dem 1. Oktober 1948 berücksichtigt. Nach der Rechtsmittelbelehrung wurde dieser Bescheid gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Sozialgerichtsverfahrens. Hiergegen erhob die Klägerin in dem Verfahren vor dem SG Berlin die gleichen Einwendungen wie gegen den Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1971.
Das SG wies die Klage auf Berücksichtigung einer ununterbrochenen Beitragsleistung zur AnV von März 1935 bis Januar 1945 und Verurteilung der Beklagten zur Zahlung entsprechend höherer Renten ab. Die Voraussetzungen des § 79 AVG, unter denen die Beklagte die Rente hätte neu feststellen müssen, lägen nicht vor. Das LSG verwarf die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG als unzulässig, soweit mit ihr die Neufeststellung der Berufsunfähigkeitsrente begehrt wurde. Im übrigen wies es die Berufung als unbegründet zurück (Urteil vom 12. Juni 1975).
Soweit die Klägerin die Neufeststellung der Berufsunfähigkeitsrente begehre, sei die Berufung unzulässig, da insoweit nach der Umwandlung der Berufsunfähigkeitsrente in eine Erwerbsunfähigkeitsrente von der Berufung nur noch abgelaufene Zeiträume i. S. des § 146 SGG betroffen seien. An die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des SG sei das LSG nicht gebunden.
Der Umwandlungsbescheid vom 16. Februar 1972 sei gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Nach der Rechtsprechung des BSG - SozR 2200 § 1254 Nr. 1 - sei davon auszugehen, daß der Umwandlung der Eintritt eines neuen Versicherungsfalles zugrunde liege, so daß grundsätzlich die Voraussetzungen für die neue Rente in vollem Umfang erneut zu prüfen und festzustellen seien. Die Bindungswirkung (§ 77 SGG) eines früheren Bescheides, mit dem eine Rente bewilligt worden sei, erstrecke sich nicht auf die Berechnungsfaktoren für die spätere neue Rente. Vielmehr seien etwaige früher unrichtig festgestellte Berechnungsfaktoren jetzt durch die richtigen zu ersetzen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn in einem anderen bindenden Bescheid - § 77 SGG -, z. B. in einem Kartenerneuerungsverfahren, also außerhalb eines Leistungsfeststellungsverfahrens, Versicherungszeiten festgestellt oder ihre Anerkennung abgelehnt worden seien. Im vorliegenden Fall sei eine ähnliche Ausnahme angebracht. Über die streitbefangene Zeit habe bereits früher das LSG in dem Verfahren L 12 An 195/68 rechtskräftig entschieden. Wegen der deutlichen Parallele zum Kartenersatz binde diese rechtskräftige Entscheidung und lasse daher eine erneute Prüfung in vollem Umfang nicht zu. Es sei nur eine Überprüfung nach § 79 AVG möglich.
Eine solche führe nicht dazu, daß sich die Beklagte von einer zu niedrigen Erwerbsunfähigkeitsrente hätte überzeugen müssen, da die Unterlagen hierzu keine Veranlassung böten. Soweit sie überhaupt die streitbefangene Zeit beträfen, seien sie bereits in dem abgeschlossenen Verfahren S 13 An 181/67 berücksichtigt und gewürdigt worden. Der einzigen noch vorgelegten neuen Unterlage (einer Mitteilung des Arbeitsamtes B vom 30. August 1939) sei nichts darüber zu entnehmen, daß die Klägerin in der fraglichen Zeit rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.
Ob der inzwischen ergangene Bescheid über die Ablehnung des Altersruhegeldes wegen Vollendung des 60. Lebensjahres (§ 25 Abs. 3 AVG) der Rechtslage entspreche, könne nicht entschieden werden. Dieser Bescheid sei entgegen seiner Rechtsmittelbelehrung nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Berlin vom 12. Juni 1975 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf das Urteil des LSG. Vor allem habe dieses zutreffend erkannt, daß allein eine Überprüfung nach § 79 SGG in Betracht kommen könne.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet.
Zunächst war von Amts wegen zu prüfen, ob das LSG im Ergebnis zu Recht die Berufung als unzulässig verworfen hat, soweit sie das Begehren auf Neufeststellung der Berufsunfähigkeitsrente betraf. Denn wenn insoweit ein Verfahrensverstoß vorläge, würden davon auch Art und Umfang der Nachprüfung durch den Senat berührt werden (so bereits BSGE 2, 225;) vgl. ferner Peters/Sautter/Wolff Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 164 SGG III/80 - 121 - und § 160 SGG III/80 - 34/13 - und - 34/33 - sowie Bammbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 554 a ZPO Anm. E). Insoweit stand nur der Ablehnungsbescheid über die Neufeststellung der Berufsunfähigkeitsrente und dessen Rechtmäßigkeit im Streit. Unmittelbar sind daher nicht abgelaufene Rentenzeiten angesprochen worden, sondern nur ein Tätigwerden der Beklagten, nämlich eine Neufeststellung vorzunehmen.
Das BSG (SozR Nr. 22 zu § 146 SGG) hat jedoch im Anschluß an BSG, SozR Nr. 34 zu § 148 SGG, bereits entschieden, daß die Berufung auch dann nach § 146 SGG ausgeschlossen ist, wenn sie einen auf § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO, = § 79 AVG), gestützten Anspruch auf Neufeststellung einer - abgelehnten - Rente nur für abgelaufene Zeiträume betrifft. Wären nämlich derartige Zeiträume unmittelbar Klagegegenstand, dann wären sie nach § 146 SGG nicht berufungsfähig. Sie können es dann nicht dadurch werden, daß statt dessen die Neufeststellung einer Rente streitig ist, da es im Kern auch hier um abgelaufene Zeiträume geht. Das LSG hat somit zu Recht angenommen, daß es sich im Ergebnis im Rahmen des Neufeststellungsbescheides im vorliegenden Fall hinsichtlich der Rente wegen Berufsunfähigkeit um abgelaufene Zeiträume handelt. Die Beklagte hat den Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit auf den 29. April 1971 (Zeitraum des Antrags der Klägerin auf Neufeststellung) festgesetzt. Dieser war nicht streitig. Seit Mai 1971 zahlt sie die Erwerbsunfähigkeitsrente, die an die Stelle der Berufsunfähigkeitsrente getreten ist. Zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung (BSG SozR Nr. 21 zu § 146 SGG) wurde somit keine Berufsunfähigkeitsrente mehr gezahlt, so daß damit insoweit abgelaufene Zeiträume durch die Berufung betroffen sind.
Die Tatsache, daß sich die Klägerin mit derselben Begründung gegen die Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente wendet und auch für diese Rente die Anerkennung der bisher abgelehnten 10 Versicherungsjahre erstrebt, führt nicht dazu, daß die Berufung zulässig wird, vgl. dazu das Urteil des Senats 1 RA 107/75 vom 22. September 1976. Die Identität des Anspruchsgrundes (angebliche weitere Versicherungszeiten) führt nicht zur Einheitlichkeit des Streitgegenstandes. Die daraus abgeleiteten Ansprüche bleiben unterschiedlich, da einmal eine höhere Rente wegen Berufsunfähigkeit, zum anderen eine höhere Erwerbsunfähigkeitsrente begehrt werden. Bei mehreren Klageansprüchen ist aber jede auf seine Berufungsfähigkeit selbständig zu überprüfen (so bereits BSGE 5, 222, 225;). Das LSG hat nach alledem zu Recht die Berufung als unzulässig verworfen, soweit sie den ablehnenden Neufeststellungsbescheid über die Berufsunfähigkeitsrente betraf. Es war daran auch nicht durch die falsche Rechtsmittelbelehrung des SG gehindert, da eine solche das LSG nicht bindet (vgl. BSG, SozR Nr. 41 zu § 150 SGG). Somit kann sich auch der Senat mit dieser Frage nicht mehr befassen.
Sodann geht es um den nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens gewordenen Umwandlungsbescheid vom 16. Februar 1972, insbesondere darum, in welchem Umfang er gerichtlich nachgeprüft werden kann. Dabei liegt in der in erster Linie erhobenen Verfahrensrüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung vor allem der Vorwurf, daß die Frage der Anrechnung weiterer Versicherungszeiten auf die Erwerbsunfähigkeitsrente nicht allein im Rahmen des § 79 AVG, sondern in vollem Umfang hätte nachgeprüft werden müssen. Gerügt ist hiermit auch eine Verletzung materiellen Rechts, denn § 79 AVG ist überwiegend sachlich-rechtlicher Natur. Diese Rüge muß Erfolg haben.
Der Bewilligung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lag der Eintritt eines neuen Versicherungsfalles zugrunde. Wie der Senat in seinem Urteil 1 RA 101/75 vom 22. September 1976 im Anschluß an sein früheres, schon vom LSG erwähntes Urteil vom 27. März 1974, SozR 2200 § 1254 Nr. 1, wiederum ausgeführt hat, ist alsdann der darauf beruhende Rentenanspruch in vollem Umfang nach Grund und Höhe erneut zu prüfen. Das hätte auch hier insbesondere hinsichtlich der weiterhin geltend gemachten Versicherungszeit in der AnV von rund 10 Jahren geschehen müssen. Hieran änderten entgegen der Auffassung des LSG die Vorprozesse nichts.
Zwar hatte die Klägerin in dem Verfahren S 13 An 181/67 vor dem SG beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 1966 abzuändern, |
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die Beklagte zu verurteilen, die Rente wegen Berufsunfähigkeit seit Rentenbeginn neu festzustellen und hierbei eine ununterbrochene Beitragsleistung in der Angestelltenversicherung von März 1935 bis Januar 1945 zusätzlich zu berücksichtigen. |
Auch stellt dazu das LSG Berlin in seinem ihre Berufung zurückweisenden Urteil L 12 An 195/68 vom 21. April 1970 S. 8 nochmals zusammenfassend ausdrücklich fest, im Streit stehe eine Beitragszeit in der AnV von 1934 bis 1945.
Gleichwohl lag in der Sache nur eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG vor (vgl. u. a. BSGE 6, 136; 9, 192; 12, 58 sowie Peters/Sautter/Wolff aaO § 54 SGG Anm. 6 b - sogen. unechte Leistungsklage -), und zwar auf Zahlung einer höheren Rente. Der übrige Inhalt des Klageantrages - nämlich die Berücksichtigung weiterer Versicherungszeiten in der AnV - stellte dagegen lediglich die Begründung für das Begehren auf Zahlung einer höheren Rente dar. Ob die Klägerin weitere rund 10 Jahre Versicherungszeit in der AnV zurückgelegt hatte, war somit nur Vorfrage (präjudizielles Rechtsverhältnis). Streitgegenstand im Sinne des § 141 Abs. 1 SGG war allein die Klage auf Verurteilung zur Zahlung einer höheren Rente, und zwar in Abänderung des ergangenen Rentenbewilligungsbescheides, nicht dagegen die Anerkennung weiterer Versicherungszeiten.
Nach alledem fehlte es an einer rechtskräftigen, für alle weiteren Versicherungsfälle bindenden Feststellung, daß die behauptete weitere 10-jährige Versicherungszeit in der AnV nicht vorlag. Das LSG hätte somit hinsichtlich der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erneut in vollem Umfang nachprüfen müssen und nicht nur im Rahmen des § 79 SGG.
Da der Senat diese Prüfung nicht nachholen kann, mußte der Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden.
Dabei wird das LSG auch zu prüfen haben, ob der Bescheid über die Ablehnung des vorgezogenen Altersruhegeldes unter Berücksichtigung der Entscheidungen des erkennenden Senats in SozR 1500 § 96 Nr. 2 und 3 sowie 2200 § 1254 Nr. 1 nicht ebenfalls gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Schließlich wird alsdann das LSG auch über die Kosten des Verfahrens zu befinden haben.
Fundstellen