Leitsatz (amtlich)

PostZustV § 1 vom 1943-08-23 gilt auch für Zustellungen mittels eingeschriebenen Briefes.

 

Normenkette

PostZustV § 1 Fassung: 1943-08-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Februar 1956 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Beklagte beansprucht vom Kläger für Personen, die bei Maurer- und Schreinerarbeiten an einem Geschäftshausneubau beschäftigt waren, Prämien nach dem Prämientarif ihrer Zweiganstalt (vgl. §§ 802 ff. der Reichsversicherungsordnung - RVO -) in Höhe von insgesamt 8.136,25 DM. Außerdem hat sie gegen ihn eine Ordnungsstrafe in Höhe von 200,- - DM (vgl. § 909 RVO) mit der Begründung verhängt, der Kläger sei seinen Verpflichtungen nach § 799 RVO nicht nachgekommen, und hat ihm die Kosten von Lohnrevisionen in Höhe von 20,- - DM auferlegt (vgl. § 887 RVO).

Ein Heberollenauszug (vgl. § 809 RVO) über diese Forderungen sowie eine Ausfertigung des Straffestsetzungsbeschlusses vom 2. September 1953 sind am 7. Oktober 1953 zur Post gegeben worden.

Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 1953, der am gleichen Tage bei der Beklagten eingegangen ist, hat Rechtsanwalt Dr. S... namens des Klägers hiergegen Einspruch erhoben und diesen Einspruch mit weiteren Schriftsätzen vom 26. und 28. Oktober 1953 begründet.

Zu diesem Einspruch hat die Beklagte mit einem Bescheid vom 9. November 1953 Stellung genommen. Sie hat - mit ausführlicher Begründung - abgelehnt, dem Einspruch gegen die Prämienforderung stattzugeben. Hinsichtlich der Geldstrafe ist im vorletzten Absatz des Bescheids ausgeführt: "Die Bezahlung der Geldstrafe kann nicht erlassen werden. Halten Sie jedoch diese für unberechtigt, steht es Ihnen frei, hiergegen Beschwerde zum Oberversicherungsamt München in doppelter Fertigung einzureichen."

Eine Ausfertigung dieses Bescheids ist als eingeschriebener Brief zur Post gegeben worden. Der Posteinlieferungsschein trägt den Poststempel "11.11.1953 - 18".

Gegen den Bescheid vom 9. November 1953 hat Rechtsanwalt Dr. S... beim Oberversicherungsamt (OVA.) München mit einem Schriftsatz Beschwerde eingelegt, der das Datum vom 11. Dezember 1953 trägt und auf dem sich ein Eingangsstempel des OVA. vom 14. Dezember 1953 befindet. Der Briefumschlag trägt den Poststempel "11.12.1953 - 20".

Nachdem die Beklagte beantragt hatte, die Beschwerde wegen Fristversäumnis abzuweisen, weil der Bescheid Rechtsanwalt Dr. S... am 12. November 1953 zugestellt worden sei, hat Rechtsanwalt Dr. S... vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Er beruft sich grundsätzlich auf die Vermutung in § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952 (BGBl. I S. 379) und trägt zur Begründung für die vorsorglich beantragte Wiedereinsetzung vor: Die Rechtsmittelschrift sei am 11. Dezember 1953 kurz nach 19.00 Uhr in den Kasten am Münchener Rathaus eingeworfen worden, der um 20.00 Uhr geleert werde. Man habe also mit Bestimmtheit damit rechnen können, daß der Brief am nächsten Morgen dem Empfänger zugestellt werde.

Mit Urteil vom 10. August 1954 hat das Sozialgericht (SG.) München, auf das die Sache nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, unter Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Klage als unzulässig abgewiesen.

Zur Begründung hat das SG. ausgeführt: Das Verwaltungszustellungsgesetz sei nicht anwendbar, weil die Beklagte keine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts sei. Die Postzustellungsverordnung vom 23. August 1943 (RGBl. I S. 527) sei ebenfalls nicht anzuwenden, weil der Bescheid mit eingeschriebenem Brief zugestellt worden sei. Die Rechtsmittelfrist habe am 12. Dezember 1953 geendet. Für die beantragte Wiedereinsetzung gelte § 131 RVO, da das maßgebende Ereignis vor dem Inkrafttreten des SGG eingetreten sei. Im übrigen hat das SG. dargelegt, daß die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben seien.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG.) Berufung eingelegt.

Diese Berufung hat das LSG. mit Urteil vom 7. Februar 1956 zurückgewiesen.

Zur Begründung hat das LSG. ausgeführt: Das SG. habe zu Recht die Anwendung des Verwaltungszustellungsgesetzes abgelehnt. Hiernach komme es auf den Tag der tatsächlichen Zustellung an. Hinsichtlich der Postzustellungsverordnung sind im Urteil zwar die Ausführungen des SG. wiedergegeben, das Urteil enthält jedoch keine eigene Stellungnahme des LSG. hierzu. Im übrigen hat das LSG. dargelegt, daß auch nach seiner Auffassung die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben seien.

Gegen das Urteil des LSG. hat der Kläger in der gesetzlichen Form und Frist Revision eingelegt und sie in der gesetzlichen Frist begründet. Er beantragt,

das Urteil des LSG., das Urteil des SG. und den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1953 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise:

die Sache an das LSG. zurückzuverweisen.

II

Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Über einen ursächlichen Zusammenhang im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG hat das LSG. nicht entschieden. Infolgedessen kann die Revision nur statthaft sein, wenn die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gegeben sind.

Die Revision rügt, daß das LSG. zu Unrecht den Rechtsbehelf als verspätet angesehen habe. Außerdem wendet sie sich dagegen, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt worden ist. Diese Rüge betrifft nicht nur den Inhalt der Entscheidung des LSG., sondern bezieht sich insofern auch auf dessen Verfahren, als gerügt wird, daß das LSG. eine Prozeßvoraussetzung, nämlich die Rechtzeitigkeit der Klagerhebung falsch beurteilt und infolgedessen unrichtigerweise die Prozeßabweisung durch das SG. bestätigt habe (vgl. hierzu BSG. 4 S. 200). Die Rüge ist auch in dieser Beziehung ausreichend substantiiert (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG); denn die Ausführungen, mit denen die Revision die Versagung der Wiedereinsetzung angreift, enthalten zugleich die tatsächlichen Angaben, die erforderlich sind, um nachzuprüfen, ob das beim OVA. München eingelegte Rechtsmittel rechtzeitig war.

Die Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, welche Vorschriften auf die Zustellung des Einspruchsbescheids vom 9. November 1953 anzuwenden sind.

Das Verwaltungszustellungsgesetz vom 3. Juli 1952 ist - entgegen der Auffassung der Revision - von den Vorinstanzen mit Recht nicht angewendet worden. Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 gilt das Gesetz nur für die bundesunmittelbare Verwaltung, und die Bayerische Bau-Berufsgenossenschaft, deren Bereich sich nicht über das Land Bayern hinaus erstreckt, ist ein landesunmittelbarer Versicherungsträger. Die Vorschriften des Gesetzes sind auch weder durch ein Gesetz des Bundes noch durch ein Bayerisches Landesgesetz auf einen Tatbestand der hier vorliegenden Art für anwendbar erklärt worden (vgl. § 1 Abs. 2 des Gesetzes).

Für die hier infragestehende Zustellung gilt jedoch die Postzustellungsverordnung vom 23. August 1943. Der 3. Senat hat durch Urteil vom 20. Dezember 1956 (BSG. 4 S. 200) bereits mit ausführlicher Begründung, der sich der erkennende Senat anschließt, entschieden, daß die Postzustellungsverordnung auch nach dem Zusammenbruch bis zum Inkrafttreten abweichenden Landesrechts für die landesunmittelbaren Versicherungsträger weiter anzuwenden ist. Das Bayerische Landesversicherungsamt (LVAmt) hat die Postzustellungsverordnung grundsätzlich angewendet (vgl. z.B. Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1953 S. B 5). Auch spätere Entscheidungen des Bayerischen LSG. gehen von der Geltung dieser Verordnung aus. Das Bayerische LVAmt und das Bayerische LSG. haben jedoch den Standpunkt vertreten, daß die Postzustellungsverordnung nur dann Anwendung finden könne, wenn das zuzustellende Schriftstück als gewöhnlicher Brief versandt worden sei. Ebenso wie im vorliegenden Fall im Urteil des SG. ist in den veröffentlichten Entscheidungen ausgeführt, daß bei Sendungen mit eingeschriebenem Brief die Vermutung des § 1 der Postzustellungsverordnung nicht gelte (vgl. z.B. Breithaupt 1954 S. 445). Neuerdings hat jedoch der 19. Senat des Bayerischen LSG. diesen Standpunkt ausdrücklich aufgegeben und auch für eine Zustellung mit eingeschriebenem Brief § 1 der Postzustellungsverordnung angewendet (Urteil vom 23.7.1957, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1958 S. B 25). Er hat sich damit dem Standpunkt angeschlossen, der schon früher vom SG. Konstanz (Breithaupt 1954 S. 855) und vom LSG. Baden-Württemberg (SGb. 1956 S. 130, mit zustimmender Anmerkung von Glücklich) vertreten worden war.

Die Anwendung der Postzustellungsverordnung auf Zustellungen mittels eingeschriebenen Briefs ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil nach § 1 der Verordnung eine Beurkundung der Aufgabe zur Post durch einen Postbediensteten, wie sie bei einem eingeschriebenen Brief erfolgt, nicht erforderlich ist, diese Beurkundung vielmehr nach Nr. 4 des auf Grund des § 3 der Postzustellungsverordnung ergangenen Erlasses des Reichsministers des Innern vom 31. August 1943 (AN. 1943 S. II 446) durch einen Absendungsvermerk auf der Urschrift des Schriftstückes ersetzt wird. Denn nach diesem Erlaß sind zwar Sendungen mit Zustellungsurkunde ausdrücklich verboten, Einschreibsendungen jedoch - ausnahmsweise sogar gegen Rückschein - dann zugelassen, wenn die an die Zustellung geknüpften Folgen besonders schwerwiegend sind oder wenn der Wert der Sendung es im Einzelfall erforderlich erscheinen läßt. Wie sich hieraus ergibt, haben bei Erlaß der Postzustellungsverordnung offensichtlich keine Zweifel bestanden, daß die VO. auch auf Zustellungen mittels eingeschriebenen Briefes anwendbar sein sollte. Das ist auch durchaus sinnvoll, denn in einem solchen Fall kennt die aufgebende Stelle ebenso wie bei einer Zustellung mittels gewöhnlichen Briefes zunächst nur den Zeitpunkt der Aufgabe, der durch den Posteinlieferungsschein beurkundet ist, und muß, um den genauen Zeitpunkt des Zugangs festzustellen, besondere Ermittlungen anstellen, durch die sowohl bei ihr als auch besonders bei der Post zusätzliche Arbeit entsteht, die durch die Postzustellungsverordnung gerade vermieden werden sollte. Diesen Erwägungen entspricht es auch, daß der Gesetzgeber im Verwaltungszustellungsgesetz mit fast gleichem Wortlaut gerade für die Versendung mit eingeschriebenem Brief eine Zugangsvermutung aufgestellt hat, obwohl bei Einschreibsendungen der genaue Zeitpunkt des Zugangs in der Regel durch die Post noch längere Zeit ermittelt werden kann. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß die in § 1 der Postzustellungsverordnung aufgestellte Zugangsvermutung auch dann gilt, wenn die Zustellung durch Aufgabe zur Post mittels eingeschriebenen Briefes bewirkt worden ist. Da es sich im vorliegenden Fall um eine Zustellung im Bereich des Ortsbestellverkehrs handelt, gilt die Zustellung des am 11. November 1953 zur Post gegebenen Einspruchsbescheids vom 9. November 1953 als am zweiten Werktag nach der Aufgabe zur Post bewirkt. Dieser Tag ist der 13. November 1953. Da die Zugangsvermutung nur insoweit widerlegbar ist, als den Umständen nach anzunehmen ist, daß die Sendung nicht oder erst in einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist, kommt es nicht darauf an, ob der Anwalt des Klägers die Ausfertigung des Bescheids tatsächlich schon vor dem 13. November 1953 erhalten hat (vgl. hierzu auch BSG. 4 S. 200 [205]).

Die Frist für die Beschwerde gegen den Einspruchsbescheid (vgl. §§ 814, 1791 RVO) betrug einen Monat (§ 128 Abs. 1 RVO). Da diese Monatsfrist vor dem Inkrafttreten des SGG abgelaufen war, gelten für ihre Berechnung die §§ 124, 125, 127 RVO. Der 13. Dezember 1953 war ein Sonntag. Die Rechtsmittelfrist ist deshalb durch den am 14. Dezember 1953 beim OVA. München eingegangenen Besehwerdeschriftsatz gewahrt worden.

Der am 7. Oktober 1953 zur Post gegebene Heberollenauszug enthält zwar auch den Betrag der Ordnungsstrafe von 200,- - DM. Die Rechtsgrundlage für diese Ordnungsstrafe war jedoch der Bescheid vom 2. September 1953, der zusammen mit dem Heberollenauszug am 7. Oktober 1953 zur Post gegeben worden ist. Nur gegen den Heberollenauszug war nach den Vorschriften der RVO ein Einspruch beim Vorstand der Beklagten vorgesehen (§ 814 RVO). Strafbescheide, durch die Ordnungsstrafen verhängt werden (§§ 908 ff. RVO), gehören unmittelbar zur Zuständigkeit des Vorstands. Gegen sie war ohne vorhergehenden Einspruch die Beschwerde an das OVA. gegeben (§§ 910, 1791 RVO). Die Frist hierfür betrug nicht, wie beim Einspruch gegen den Heberollenauszug, 2 Wochen, sondern einen Monat (§ 128 Abs. 1 RVO). Sie wurde auch durch Eingang bei der Berufsgenossenschaft gewahrt (§ 129 Abs. 2 RVO). Der Schriftsatz des Rechtsanwalts Dr. S... vom 21. Oktober 1953 richtet sich seinem Wortlaut nach zwar nur gegen die Forderung von Prämien zur Zweiganstalt und ihre Berechnung. Im Schriftsatz vom 26. Oktober 1953 hat Rechtsanwalt Dr. S... aber klargestellt, daß auch die Verhängung der Ordnungsstrafe angefochten werden sollte. Durch diesen bei der Beklagten am 27. Oktober 1953 eingegangenen Schriftsatz ist die Rechtsmittelfrist für die Beschwerde gegen den Strafbescheid gewahrt worden.

Das LSG. hat demnach zu Unrecht das Prozeßurteil des SG. bestätigt. Es hätte die auf das SG. als Klagen übergegangenen Rechtsmittel als rechtzeitig ansehen und entweder die Sache an das SG. zur Entscheidung in der Sache selbst zurückverweisen oder selbst in der Sache entscheiden müssen (§ 159 SGG).

Das Verfahren des LSG. leidet an einem von der Revision gerügten wesentlichen Mangel, auf dem die Entscheidung des LSG. beruht. Die Revision ist statthaft und begründet.

Da der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden konnte, mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324023

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