Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsberechtigung iS von RVO § 205. Familienhilfe. Unterhaltsberechtigung. Behinderte Kinder
Leitsatz (amtlich)
Ein kindergeldberechtigter Versicherter kann Anspruch auf Familienkrankenpflege für das Kind haben, obwohl er selbst Sozialhilfe bezieht (Anschluß an BSG 1980-01-29 3 RK 101/78 = SozR 2200 § 205 RVO Nr 32).
Orientierungssatz
Das Kindergeld begründet auch dann eine Unterhaltsberechtigung iS des RVO § 205, wenn nicht nur das Kind, sondern auch die kindergeldberechtigten Eltern sozialhilfebedürftig sind. Das Kindergeld bezweckt nicht, den angemessenen Unterhalt der Eltern sicherzustellen. Deshalb kann es zur Begründung der Unterhaltsfähigkeit herangezogen werden. Die Hilfebedürftigkeit des Berechtigten wird durch die Überleitung seines Kindergeldanspruchs im Hinblick auf dessen Zweckbestimmung nicht berührt.
Normenkette
RVO § 205 Abs 1 S 1 Fassung: 1977-06-27; BGB § 1603 Fassung: 1961-08-11; BSHG § 90; RVO § 205 Abs 3 S 4 Fassung: 1975-06-24
Verfahrensgang
SG Speyer (Entscheidung vom 02.06.1978; Aktenzeichen S 9 K 8/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) zur Familienhilfe für die Tochter des beigeladenen Versicherten.
Der beigeladene P I (I) ist als Rentner bei der Beklagten versichert, er bezieht nach den Feststellungen des Sozialgerichts (SG) eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, dazu monatlich 112,-- DM Sozialhilfe; weiterhin erhält er für seine Tochter Elisabeth monatlich 50,-- DM Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Den Anspruch auf Kindergeld hat der Kläger nach den Feststellungen des SG auf sich übergeleitet.
Die 1925 geborene Elisabeth I hat eigenes Einkommen und ist mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH als Schwerbehinderte anerkannt. Sie wurde im Oktober 1975 aus der P Nervenklinik L, in der sie wegen Schizophrenie stationär behandelt worden war, in das Altenzentrum W verlegt. Seit November 1975 kommt der Kläger als zuständiger Sozialhilfeträger für Elisabeth I auf.
Im Juni 1976 beantragte der örtliche Sozialhilfeträger bei der Beklagten, für Elisabeth I mit Leistungen der Familienhilfe einzutreten. Die Beklagte lehnte den Anspruch ab. Sie war der Auffassung, daß Elisabeth I kein Familienhilfeanspruch zustehe, weil der Beigeladene ihr keinen Unterhalt leistete. Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid leitete der Widerspruchsausschuß der Beklagten als Klage an das SG weiter.
Das SG Speyer hat die auf Feststellung der Leistungspflicht der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Es hat die Ansicht vertreten, daß Elisabeth I nicht bei ihrem Vater, dem Beigeladenen, familienversichert sei. Die Gewährung von Familienhilfe setze nach § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) voraus, daß ein Kind unterhaltsberechtigt sei. Diese Berechtigung hänge nicht nur von der Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes ab, die hier zweifellos gegeben sei, sondern auch von der Leistungsfähigkeit des Vaters. Daran fehle es jedoch, wie es sich aus dem Einkommen des Beigeladenen leicht ersehen lasse. Auch die Tatsache, daß der Kläger das Kindergeld des Beigeladenen auf sich übergeleitet habe, vermöge keine Unterhaltsverpflichtung des Beigeladenen zu begründen. Der Beigeladene würde nämlich durch die Gewährung des Unterhalts seinen eigenen angemessenen Unterhalt gefährden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom SG zugelassene Revision des Klägers, der die Beklagte zugestimmt hat. Der Kläger hält die Beklagte für leistungspflichtig, weil der Anspruch auf Familienhilfe lediglich davon abhänge, daß das Kind unterhaltsberechtigt sei. Diese Voraussetzung sei jedoch immer schon dann erfüllt, wenn das Kind außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Auf die Tatsache, ob der Unterhaltspflichtige auch leistungsfähig sei, komme es dabei nicht an. Diese Frage habe nur Bedeutung für die Durchsetzung eines Unterhaltsanspruchs, könne aber die Unterhaltsberechtigung nicht berühren.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts
Speyer vom 2. Juni 1978, Az: S 9 K 8/77 festzustellen,
daß I für seine Tochter Elisabeth, geb. am 1925-09-13,
gegen die Beklagte und Revisionsbeklagte einen
Familienhilfeanspruch hat.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zur Unterhaltsberechtigung iS des § 205 RVO gehöre nicht nur die Bedürftigkeit des Berechtigten, eine Leistungsunfähigkeit des Verpflichteten schließe den Unterhaltsanspruch generell aus. Im vorliegenden Falle sei zudem zu beachten, daß die Behinderung bei Elisabeth I erst nach der Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei, deshalb bestehe kein Anspruch auf Familienhilfe.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet.
Die Feststellungsklage gegen die beklagte AOK ist zulässig, denn es ist davon auszugehen, daß sie als Körperschaft des öffentlichen Rechts den Kläger im Fall seines Obsiegens auch ohne Leistungsurteil befriedigen wird (vgl BSGE 10, 21, 24, 25; 12, 44, 46).
Rechtsgrundlage des Ersatzanspruchs ist § 1531 RVO. Nach dieser Vorschrift kann ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt, für die dieser selbst oder für ihn einer seiner Angehörigen einen Anspruch aufgrund der RVO hatte oder noch hat, bis zur Höhe dieses versicherungsrechtlichen Anspruchs nach den §§ 1532 - 1537 RVO Ersatz verlangen. Der Kläger hat als Sozialhilfeträger Elisabeth I nach gesetzlicher Pflicht unterstützt. Er kann mithin von der Beklagten Ersatz fordern, falls diese im Rahmen der Familienhilfe Leistungen zu erbringen gehabt hätte.
Die Verpflichtung der Beklagten zur Familienhilfe richtet sich nach § 205 RVO. Danach erhalten Versicherte Familienhilfe, ua für die unterhaltsberechtigten Kinder. Elisabeth I war dem Beigeladenen gegenüber in diesem Sinn unterhaltsberechtigt.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für die Unterhaltsberechtigung auf die entsprechenden familienrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zurückzugreifen (BSGE 48, 266; SozR 2200 § 205 RVO Nr 30 mwN).
Elisabeth I ist nach den Feststellungen des SG bedürftig (vgl § 1602 BGB). Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Unterhaltsberechtigung iS des § 205 auch die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten (vgl § 1603 BGB) voraussetzt. Über diese Frage braucht der Senat indessen nicht zu entscheiden. Der beigeladene Versicherte ist nämlich auch bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen nicht außerstande gewesen, den Unterhalt ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts zu gewähren. Zur Annahme seiner Leistungsfähigkeit in diesem Sinn reicht sein Kindergeldanspruch aus. In Höhe dieses Bezuges ist ihm die Unterhaltsgewährung möglich. Der Senat hat bereits entschieden, das für das Kind verwendete Kindergeld stelle grundsätzlich eine Unterhaltsleistung der unterhaltspflichtigen Eltern dar. Auch wenn der eigene angemessene Unterhalt des Kindergeldberechtigten nicht sichergestellt sei, bestehe seine Leistungsfähigkeit für den Unterhalt in Höhe des Kindergeldes. Es kommt auch nicht darauf an, an wen das Kindergeld ausgezahlt werde (BSG SozR 2200 § 205 RVO Nr 32). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Das SG hat allerdings festgestellt, der Kläger habe den Kindergeldanspruch des Beigeladenen "gem dem § 85 Nr 3 Satz 1, 90, 91 Bundessozialhilfegesetz (BSHG)" auf sich übergeleitet. Indessen steht diese Überleitung der Leistungsfähigkeit des beigeladenen Versicherten für die Unterhaltsgewährung nicht entgegen. Die Überleitung setzt vielmehr den Unterhaltsanspruch der Elisabeth I gegen ihren Vater, den Versicherten, und damit dessen Leistungsfähigkeit gerade voraus.
Der Senat entnimmt dem Urteil des SG, daß es eine doppelte Überleitung festgestellt hat, nämlich die Überleitung des Unterhaltsanspruchs der Hilfeempfängerin Elisabeth I und aufgrund dessen gleichzeitig die Überleitung des Kindergeldanspruchs, beides auf den Kläger.
Übergeleitet hat der Kläger nach dem Urteil des SG den Kindergeldanspruch des Beigeladenen. Gegen diese Feststellung sind keine Revisionsgründe geltend gemacht worden, so daß sie gem § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für den Senat bindend ist. Die Feststellung ist aber mißverständlich, da das SG für die Überleitung ausdrücklich auf § 90 BSHG Bezug nimmt. Danach kann der Sozialhilfeträger Ansprüche des Hilfeempfängers gegen einen anderen auf sich überleiten. Das SG hat als Hilfeempfänger hier offensichtlich die Tochter Elisabeth I und nicht etwa den Versicherten angesehen, obwohl dieser selbst ebenfalls Sozialhilfe bezieht. Nach den Akten war das Kindergeld bis Februar 1976 an den Bezirk M abgezweigt, der die Sozialhilfe für Elisabeth I trug; es besteht keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß er auch Sozialhilfeträger für den in E wohnenden beigeladenen Versicherten war. Ferner wird in dem Überleitungsschreiben des Klägers Elisabeth I als Hilfeempfängerin bezeichnet.
Die Feststellung, der Kläger habe den Kindergeldanspruch auf sich übergeleitet, kann mithin nur so gemeint sein, daß der Kläger als Voraussetzung dafür auch den Unterhaltsanspruch auf sich übergeleitet hat. Im Ergebnis entspricht die unmittelbare Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger im übrigen der Rechtslage sowohl nach dem BKGG vom 14. April 1964 (BGBl I 265) als auch nach den am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches (SGB I). Nach § 12 Abs 3 BKGG und § 48 Abs 1 SGB I kann das Kindergeld an die Stelle ausgezahlt werden, die das Kind ganz oder überwiegend unterhält. § 48 Abs 1 SGB I setzt dafür sogar ausdrücklich voraus, daß der Leistungsberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dadurch wird besonders deutlich, daß die Unterhaltspflicht des Leistungsberechtigten Voraussetzung der Auszahlung an die unterhaltsgewährende Stelle ist.
Setzt aber aus allen diesen Gründen die vom SG festgestellte Überleitung des Kindergeldanspruchs den Unterhaltsanspruch der Elisabeth I gegen den beigeladenen Versicherten voraus und damit dessen Leistungsfähigkeit, so kann die Überleitung nicht dazu führen, daß der Unterhaltsanspruch nicht entsteht. Der Beigeladene erfüllt vielmehr die bestehende Unterhaltsforderung dadurch, daß der Kläger unter Heranziehung des Kindergeldes Sozialhilfe an Elisabeth I gewährt.
Die in der Entscheidung vom 29. Januar 1980 - 3 RK 101/78 - (SozR 2200 § 205 RVO Nr 32) offengelassene Frage, ob das Kindergeld auch dann eine Unterhaltsberechtigung iS des § 205 RVO begründet, wenn nicht nur das Kind, sondern auch die kindergeldberechtigten Eltern sozialhilfebedürftig sind, ist zu bejahen. Das Kindergeld bezweckt nicht, den angemessenen Unterhalt der Eltern sicherzustellen (BSG aaO). Deshalb kann es entgegen der Meinung des SG zur Begründung der Unterhaltsfähigkeit herangezogen werden. Die Hilfebedürftigkeit des Berechtigten, hier des Beigeladenen, wird durch die Überleitung seines Kindergeldanspruchs im Hinblick auf dessen Zweckbestimmung nicht berührt.
Elisabeth I ist mithin ein unterhaltsberechtigtes Kind des Beigeladenen. Sie hält sich gewöhnlich im Geltungsbereich der RVO auf und hat kein Einkommen. Ferner hat das SG festgestellt, daß sie nicht anderweitig gesetzlich krankenversichert sei. Da die Mutter der Elisabeth I nicht mehr mit dem Beigeladenen verheiratet ist, sind die Voraussetzungen des mit Wirkung vom 1. Juli 1977 neu gefaßten § 205 Abs 1 Satz 2 RVO nicht gegeben. Elisabeth I ist eheliches Kind des Beigeladenen.
Fraglich ist, ob die Voraussetzungen des § 205 Abs 3 Satz 4 RVO vorliegen, wonach für Kinder, die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, der Anspruch auf Familienkrankenhilfe ohne Altersgrenze besteht. Der Senat hat dazu entschieden, daß diese zeitlich unbegrenzte Gewährung von Familienhilfe nur in Betracht kommt, wenn die Behinderung vor Vollendung des 18. Lebensjahres oder vor Ablauf der in § 205 Abs 3 Satz 2 und 3 vorgesehenen Verlängerungszeiträume eingetreten ist (BSG vom 28. November 1979 - 3 RK 28/78 - SozR 2200 § 205 RVO Nr 30). Dazu hat das SG entsprechend seiner Rechtsauffassung nichts festgestellt. Es wird deshalb noch ermitteln müssen, wann die Behinderung der Elisabeth I eingetreten ist.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem SG vorbehalten.
Fundstellen