Leitsatz (amtlich)
1. Die in deutscher Sprache richtig erteilte Rechtsmittelbelehrung setzt die Rechtsmittelfrist auch gegenüber Ausländern in Lauf.
2. Der in fremder Sprache abgefaßte Schriftsatz hat keine fristwahrende Wirkung.
3. Das Verhalten eines deutschen Botschaftsangehörigen, das zum verspäteten Eingang einer Rechtsmittelschrift führt, ist dem ausländischen Rechtssuchenden nicht zuzurechnen.
Orientierungssatz
Unzulässige Berufungseinlegung bei deutscher Botschaft (§ 153 Abs 1, § 91 SGG):*
§ 151 SGG schreibt zwingend die Einlegung der Berufung beim LSG oder beim SG vor. Er enthält eine für das Berufungsverfahren abschließende Regelung.
Normenkette
SGG § 61 Abs. 1 S. 1; GVG § 184; SGG § 66 Abs. 1, 2 S. 1, § 67 Abs 1, § 151 Abs 1, § 151 Abs. 2, § 153 Abs 1, § 91
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 28.03.1985; Aktenzeichen L 3 V 5/82) |
SG Bremen (Entscheidung vom 07.09.1981; Aktenzeichen S 4 V 10/81) |
Tatbestand
Der Kläger, italienischer Staatsangehöriger, begehrt Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Den von seinem damaligen Wohnort in Caracas (Venezuela) aus gestellten Antrag lehnte das Versorgungsamt ab, da der Kläger nicht zum versorgungsberechtigten Personenkreis gehöre. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Sozialgerichts (SG) ist dem Kläger in Caracas über die Deutsche Botschaft am 7. Oktober 1981 zugestellt worden. Der Kläger reichte die in spanischer Sprache verfaßte Berufungsschrift am 14. Dezember 1981 bei der Deutschen Botschaft in Caracas ein. Diese veranlaßte eine Übersetzung in deutscher Sprache. Mit Begleitschreiben vom 5. Januar 1982 leitete die Deutsche Botschaft in Caracas die Originalberufungsschrift mit Übersetzung dem SG Bremen zu. Diese Schriftstücke sind dort am 14. Januar 1982 eingegangen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, der Kläger habe die bis zum 7. Januar 1982 laufende Berufungsfrist versäumt. Der Eingang der Berufungsschrift bei der Deutschen Botschaft in Caracas habe die Berufungsfrist nicht gewahrt; § 91 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei in Berufungsverfahren wegen § 153 Abs 1 SGG nicht anwendbar. Auch könne Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG nicht gewährt werden. Der Kläger habe nicht ohne Verschulden die Berufungsfrist versäumt. Er hätte gegenüber der Deutschen Botschaft in Caracas auf eine sofortige Weiterleitung der Originalberufungsschrift bestehen müssen. Die nach Behauptung des Klägers seitens eines Botschaftsangehörigen ihm gegenüber gegebene Zusicherung, die in deutscher Sprache übersetzte Berufungsschrift werde rechtzeitig an das LSG abgesandt, hätte der Kläger nicht ungeprüft zur Grundlage seines Handelns machen dürfen. Er hätte wegen der bevorstehenden Feiertage (Weihnachten und Neujahr) damit rechnen müssen, daß die Absendung der Berufungsschrift mit dem Risiko des verspäteten Zugangs behaftet sei. Die Deutsche Botschaft sei nicht verpflichtet gewesen, den rechtzeitigen Eingang der Rechtsmittelschrift zu gewährleisten.
Der Kläger rügt mit der - vom Senat zugelassenen - Revision eine Verletzung der §§ 91 und 67 SGG. Für die rechtzeitige Berufungseinlegung - meint der Kläger - reiche der Eingang einer Berufungsschrift bei einer deutschen Konsularbehörde aus. Überdies habe er auf die Zusicherung der Deutschen Botschaft, die Berufungsschrift fristgerecht beim LSG einzureichen, vertrauen dürfen. Die Fristversäumnis sei ohne sein Verschulden eingetreten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten sind mit der Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig (§ 164 SGG) und begründet. Nach der zutreffenden Rechtsmeinung des LSG war die Berufungsfrist versäumt. Indessen durfte das Berufungsgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) nicht versagen; denn der Kläger war ohne Verschulden gehindert, die Berufungsfrist einzuhalten.
Nach § 153 Abs 1 iVm § 87 Abs 1 Satz 2 SGG beträgt die Berufungsfrist bei Zustellung oder Bekanntgabe des Urteils außerhalb des Geltungsbereichs des SGG drei Monate. Die Zustellung des Urteils erfolgt gemäß § 63 Abs 2 SGG iVm §§ 1, 2 und 14 Abs 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) ua mittels Ersuchens der in dem fremden Staat befindlichen konsularischen oder diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland; die Zustellung wird durch die Bescheinigung der ersuchten Behörde nachgewiesen (§ 14 Abs 4 VwZG).
Nach den Feststellungen des LSG ist das Urteil des SG dem Kläger durch die Deutsche Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Caracas (Venezuela) am 7. Oktober 1981 zugestellt worden. Die dreimonatige Berufungsfrist begann somit am 8. Oktober 1981; sie endete am 7. Januar 1982 (§ 64 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 SGG). Diese Frist war mit der erst am 14. Januar 1982 beim SG eingegangenen Berufungsschrift nicht gewahrt.
Auf den Eingang der Berufungsschrift am 14. Dezember 1981 bei der Deutschen Botschaft kommt es entgegen der Revision nicht an. Zwar gestattet § 91 Abs 1 SGG zur Fristwahrung, die Klage ua bei einer deutschen Konsularbehörde zu erheben. Indessen ist die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf das Berufungsverfahren kraft ausdrücklicher Regelung in § 153 Abs 1 SGG ausgenommen. Danach gelten für das Verfahren vor dem Landessozialgericht die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug "mit Ausnahme des § 91 SGG" entsprechend. § 151 Abs 1 SGG schreibt zwingend die Einlegung der Berufung bei dem LSG oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vor. Nach Abs 2 Satz 1 ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. § 151 SGG enthält eine für das Berufungsverfahren abschließende Regelung (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 153 RdNr 2 und stRspr).
Die Einlegung des Rechtsmittels innerhalb eines Jahres seit der Zustellung ist nicht etwa deswegen ausnahmsweise zulässig, weil die Rechtsmittelbelehrung des SG unrichtig war (§ 66 Abs 2 Satz 1 SGG). Das Gegenteil ist entsprechend der Rechtsmeinung des LSG, das dies allerdings nicht näher begründet hat, der Fall. Die allein in deutscher Sprache ordnungsgemäß erteilte Rechtsmittelbelehrung setzt die Rechtsmittelfrist auch gegenüber Ausländern in Lauf (§ 66 Abs 1 SGG). Dies gilt selbst dann, wenn sie der deutschen Sprache unkundig sind (BSG Beschluß vom 16. November 1978 - 3 BK 13/78 - = USK 78 130; BVerwG BayVBl 1973, 443; BVerwG Buchholz 310 § 58 Nr 37; BFH BB 1976, 773). Denn die Gerichtssprache ist deutsch: § 61 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 184 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Dem Ausländer steht kein Anspruch auf die Belehrung in seiner Heimatsprache zu (BVerfGE 42, 120, 125 unter Bezugnahme und Klarstellung zu BVerfGE 40, 95, 99).
Gleichwohl dürfen die mangelhaften Kenntnisse der deutschen Sprache nicht zu einer Verkürzung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art 19 Abs 4 und Art 103 Abs 2 GG führen (BVerfG 40, 95, 98 f). Für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Kläger - um einen solchen handelt es sich hier nach den Feststellungen des LSG - ist nach dem Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Möglichkeit eröffnet, die Fristversäumnis nachträglich zu beseitigen (BVerfGE 42 aaO). Das ist nach § 67 Abs 1 SGG davon abhängig, daß der Kläger ohne Verschulden verhindert war, eine Verfahrensfrist einzuhalten. Diese Vorschrift ist auch und gerade auf Ausländer anwendbar. Bestehende Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten erfordern eine angemessene Berücksichtigung (BVerwG, Buchholz aaO). Allerdings entheben unzureichende Sprachkenntnisse den Ausländer nicht jeglicher Sorgfaltspflicht in der Wahrung seiner Rechte (BVerfGE 42, 120, 126). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 67 Abs 1 SGG verneint das Berufungsgericht. Es meint, der Kläger hätte nicht damit einverstanden sein dürfen, daß die Deutsche Botschaft die Berufungsschrift erst nach erfolgter Übersetzung in die deutsche Sprache weiterleitet. Dies gelte selbst unter Berücksichtigung der behaupteten Zusicherung eines Botschaftsangehörigen, die Berufungsschrift rechtzeitig an das LSG abzusenden. Vielmehr hätte der Kläger darauf bestehen müssen, daß das Original der Berufungsschrift sofort weitergeleitet und die Übersetzung von einer Kopie angefertigt werde.
Nach diesen Ausführungen geht das LSG offenbar von der Annahme aus, daß bei rechtzeitigem Eingang der in spanischer Sprache verfaßten Berufungsschrift beim SG die Berufungsfrist nicht versäumt worden wäre. Eine solche fristwahrende Wirkung kommt jedoch der Originalberufungsschrift des Klägers nicht zu. Der in fremder Sprache abgefaßte Schriftsatz erzeugt keine Rechtswirkungen. Diese Rechtsfolge ergibt sich aus § 61 Abs 1 Satz 1 SGG, der ua auf § 184 GVG verweist. Danach ist die Gerichtssprache deutsch. Diese Vorschrift ist zwingender Natur und von Amts wegen zu beachten. Sie gilt nicht nur für die gerichtlichen Verhandlungen und Entscheidungen, sondern auch für den gesamten Schriftverkehr mit dem Gericht (so die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, ua BGH NJW 1982/532 mit zahlreichen Nachweisen sowie mit Zitaten der Gegenmeinung; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 61 RdNr 7; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl, § 55 RdNr 14; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 43. Aufl, § 184 GVG Anm 1). Die für bestimmte Verwaltungsverfahren erlassenen Bestimmungen über die Behandlung und Wirksamkeit fremdsprachiger Eingaben (§ 23 VwVfG; § 87 AO 1977; § 19 SGB 10) sind als Sonderregelungen und nicht als Ausdruck allgemeiner Rechtsprinzipien anzusehen (BGH aaO). Immerhin wahrt nach § 19 Abs 4 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) ein in fremder Sprache abgefaßtes Schriftstück die Frist nur, wenn die Behörde dessen Inhalt zu verstehen vermag oder innerhalb der gesetzten Frist eine Übersetzung vorgelegt wird; andernfalls ist der Zeitpunkt des Eingangs der Übersetzung maßgebend.
Aufgrund dessen hat der Kläger, der mit der Übersetzung und anschließenden Übersendung durch die Botschaft einverstanden war, der geltenden Rechtslage Rechnung getragen. Daß der Kläger überdies auf die Zusicherung eines Beamten der Deutschen Botschaft, die übersetzte Berufungsschrift werde rechtzeitig dem zuständigen Gericht zugeleitet, vertrauen durfte, wie die Revision anführt, versteht sich von selbst. Diese auch vom LSG nicht in Zweifel gezogene behördliche Zusage hat Gewicht. Ob sie in Kenntnis des bevorstehenden Weihnachtsfestes bzw der Tage um Neujahr gemacht worden ist, mag dahinstehen. Jedenfalls hat die Deutsche Botschaft als Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland im Ausland einem Rechtsuchenden gegenüber, der sein Recht im Inland geltend machen will, besondere Fürsorgepflichten, insbesondere bei - wie hier geschehenen - Zusicherungen. Dann ist der Bedienstete der Botschaft verpflichtet, deren Einhaltung zu gewährleisten. Tut er dies nicht, liegt dies allein im Verantwortungsbereich der Deutschen Botschaft. Auf welche Umstände die Verzögerung mit der Folge der Fristversäumnis zurückzuführen ist, sei es, daß die Übersetzung nicht rechtzeitig veranlaßt oder die Übersetzung nicht zeitgerecht an das SG weitergeleitet wurde, kann offenbleiben. Jedenfalls ist dieses Geschehen nicht dem Kläger im Sinne eines Schuldvorwurfes anzulasten. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden dürfen (vgl BSGE 38, 248, 260 mit Hinweis auf BVerfGE 25, 158, 166; 26, 315, 318; 31, 388, 390; 34, 154, 156; BVerfG NJW 1974, 25). Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck; sie dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. In Zweifelsfällen sind sie daher - wenn irgend vertretbar - so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern. So ist nach der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundessozialgerichts Nachsicht jedenfalls am Platz, wenn der Rechtsmittelkläger zu dem Personenkreis gehört, der üblicherweise vor den Sozialgerichten als Kläger erscheint; das sind versicherte und versorgungsberechtigte Personen (BSGE 38, 248, 260 mwN = SozR 1500 § 67 Nr 1).
Wenn auch die Anforderungen an eine unzuständige Stelle nicht überspannt werden dürfen, so hätte doch der mit der Angelegenheit befaßte Botschaftsangehörige erkennen können und aufgrund seiner sicher vorhandenen Sprachkenntnisse anhand der in spanischer Sprache abgefaßten Berufungsschrift erkennen müssen, daß der Kläger gegen das Urteil des SG Berufung einlegen wollte. Die Übersetzung allein dieser klaren Willensbekundung, wie sie aus der Überschrift der Berufungsschrift deutlich erkennbar ist, hätte zu einer zulässigen Berufung ausgereicht. Einer Berufungsbegründung hätte es als Zulässigkeitsvoraussetzung nicht bedurft. Nach § 151 Abs 3 SGG "sollen" ua die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben werden; sie müssen es hingegen nicht. Darauf war Bedacht zu nehmen. Diese zur Wahrung der Frist vereinfachte Bearbeitungsweise drängte sich bei Kenntnis des bevorstehenden Fristablaufes förmlich auf. Die Folgen eines etwaigen Fehlverhaltens des Klägers - wenn man hiervon überhaupt ausgehen wollte - wären dadurch leicht auszugleichen gewesen (vgl BSGE 38, 248, 262 = SozR 1500 § 67 Nr 1).
Das zurechenbare Fehlverhalten der Deutschen Botschaft ist nicht etwa durch einen Schadensersatz nach Art 34 GG iVm § 839 BGB wiedergutzumachen, sondern unmittelbar durch die systemgerechte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das Berufungsgericht wird sonach sachlich über den Versorgungsanspruch des Klägers und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 793357 |
NJW 1987, 2184 |
IPRspr. 1986, 123 |