Leitsatz (amtlich)
Die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts im Sinne des BVG § 32 ist selbständig und ohne Berücksichtigung der Einkommensgrenzen des BVG § 33 Abs 1 zu prüfen.
Normenkette
BVG § 33 Abs. 1, § 32
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 7. Dezember 1954 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Das Versorgungsamt bewilligte dem im Laufe des Revisionsverfahrens verstorbenen Verletzten, dem Sohn der Kläger, wegen "Verlustes des rechten Unterschenkels mit Arthrosis deformans im rechten Kniegelenk und reizloser Narbe an der rechten Halsseite nach Granatsplitterverletzung" nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Grundrente von 35,- DM (nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v. H.) vom 1. Oktober 1950 ab. Ausgleichsrente wurde nicht gewährt, weil sein Lebensunterhalt sichergestellt sei. Die Berufung nach altem Recht, mit welcher der Verletzte die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung einer Ausgleichsrente begehrt hatte, wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß er auf dem landwirtschaftlichen Anwesen seines Vaters gegen Kost und Wohnung beschäftigt werde und dadurch sein Lebensunterhalt sichergestellt sei.
Das Bayerische Landessozialgericht, auf das der nach altem Recht eingelegte Rekurs des Verletzten als Berufung nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Verletzten Ausgleichsrente zu zahlen. Das Landessozialgericht hat ausgeführt, der Begriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts sei durch die Einkommensgrenzen des § 33 BVG gesetzlich bestimmt. Als Einkommen habe der Lohnanspruch zu gelten, der dem Verletzten für seine im elterlichen Anwesen geleistete Arbeit zustehe. Dieser betrage nach dem zwischen der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft - Landesbezirksstelle Bayern - und dem Arbeitgeberverband für die Land- und Forstwirtschaft in Bayern e. V. abgeschlossenen Tarifvertrag 67,55 DM netto monatlich. Hinzu komme der Wert für freie Kost und Wohnung, der nach den von den bayerischen Oberversicherungsämtern und den Oberfinanzdirektionen M und N beschlossenen Sätzen im vorliegenden Fall mit monatlich 48,- DM anzusetzen sei. Somit habe der Verletzte Einkünfte in Geld bzw. Geldeswert in Höhe von 115,55 DM netto monatlich. Da es sich um Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit handele, seien hiervon nach § 33 Abs. 2 Satz 2 BVG 60,- DM monatlich und von dem darüber hinausgehenden Betrag drei Zehntel nicht anzusetzen. Der verbleibende Betrag von 38,- DM monatlich (§ 33 Abs. 2 Satz 3 BVG) sei als "sonstiges Einkommen" anzurechnen. Da dieses den im § 33 Abs. 1 BVG festgesetzten monatlichen Höchstbetrag nicht erreiche, habe der Verletzte nach § 32 Abs. 2 BVG für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Juli 1953 Anspruch auf eine Ausgleichsrente von 40,- DM monatlich und vom 1. August 1953 ab von 48,- DM monatlich. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Er rügt die Verletzung der §§ 32, 33 BVG. Die Auffassung des Landessozialgerichts, daß der Begriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts (§ 32 Abs. 1 BVG) durch die Einkommenshöchstgrenzen des § 33 BVG gesetzlich bestimmt werde, sei unrichtig. Das Landessozialgericht hätte zunächst prüfen müssen, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVG erfüllt sind. Erst wenn es zur Verneinung dieser Frage gekommen wäre, hätte es eine Prüfung nach § 33 BVG vornehmen dürfen. Der Lebensunterhalt des Verletzten sei sichergestellt, weil er im Betrieb seiner Eltern eine zumutbare Erwerbstätigkeit ausübe und eine fremde Hilfskraft ersetze. Im übrigen könne ein mithelfendes Familienmitglied hinsichtlich der im § 33 Abs. 2 BVG für Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit festgesetzten Freibeträge einem nichtselbständigen Erwerbstätigen nicht gleichgestellt werden.
Der Verletzte hat beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig. Die Kläger, die das nach § 68 SGG in Verbindung mit § 239 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) durch den Tod ihres Sohnes, des Verletzten, unterbrochene Revisionsverfahren fortgesetzt haben, sind dadurch Verfahrensbeteiligte geworden (SozR. SGG § 68 Bl. Da 1 Nr. 1).
Das Landessozialgericht hat die Berufung nach neuem Recht, deren Zulässigkeit als Voraussetzung der Rechtswirksamkeit des gesamten weiteren Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist (BSG. 2 S. 225), zutreffend nicht als ausgeschlossen angesehen, weil das Urteil nicht die Höhe der Ausgleichsrente (§ 148 Nr. 4 SGG), sondern ihren Grund, nämlich die Frage betrifft, ob der Lebensunterhalt auf andere Weise sichergestellt ist (vgl. BSG. 3 S. 124). Die Zulässigkeit der Berufung ist auch nicht dadurch berührt worden, daß der Verletzte im Laufe des Revisionsverfahrens verstorben ist und deshalb der Streit nur noch um Ausgleichsrente für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Oktober 1956 geht; denn die Zulässigkeit der Berufung richtet sich nicht nach dem Beschwerdegegenstand im Rechtsmittelverfahren, sondern nach den Ansprüchen, über die in erster Instanz entschieden ist. Zur Zeit des erstinstanzlichen Urteils war der Anspruch auf Ausgleichsrente dem Grunde nach und ohne zeitliche Begrenzung streitig und damit die Berufung zulässig (BSG. 1 S. 220). Die Revision ist auch begründet.
Nach § 32 Abs. 1 BVG erhalten Schwerbeschädigte (§ 29 Abs. 2 BVG) eine Ausgleichsrente, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes oder hohen Alters oder aus einem von ihnen nicht zu vertretenden sonstigen Grunde eine ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfange ausüben können und ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Da der Sohn der Kläger Schwerbeschädigter im Sinne des § 29 Abs. 2 BVG war und wegen der durch die Amputation des rechten Unterschenkels mit Veränderungen im rechten Kniegelenk bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v. H. in der elterlichen Landwirtschaft eine Erwerbstätigkeit nur in beschränktem Umfang ausüben konnte, hängt sein Anspruch auf Ausgleichsrente nach § 32 Abs. 1 BVG davon ab, ob sein Lebensunterhalt auf andere Weise sichergestellt war. Das Berufungsgericht geht im Anschluß an die Grundsätzliche Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts Nr. 100 vom 10. September 1953 (Amtsbl. 1954 B S. 1) davon aus, daß der Rechtsbegriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts durch die Einkommensgrenzen des § 33 BVG gesetzlich bestimmt werde. Da das anrechenbare "sonstige Einkommen" des Schwerbeschädigten die im § 33 Abs. 1 BVG festgesetzte Einkommenshöchstgrenze nicht erreiche, stehe ihm die volle Ausgleichsrente zu. Dies ist nicht bedenkenfrei.
Wie der 8. Senat in seinem Urteil vom 7. Juni 1956 (BSG. 3 S. 124 (128)) ausgeführt hat, ist der Lebensunterhalt im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG der notwendige Lebensunterhalt. Zu diesem gehören insbesondere die Aufwendungen für Wohnung, Ernährung, Bekleidung, Anschaffung von Gebrauchsgegenständen, ärztliche Behandlung, besondere Aufwendungen infolge der Schädigung, sowie sonstige notwendige Ausgaben des täglichen Lebens nach Lage des Einzelfalles. Es sind also bei der Entscheidung der Frage, ob der notwendige Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten sichergestellt ist, die Gesamtverhältnisse des Einzelfalles zu berücksichtigen (vgl. auch Urteil des 8. Senats vom 26.10.1956, BSG. 4 S. 70 (72, 73)). Nr. 3 Abs. 2 der Verwaltungsvorschrift zu § 32 Abs. 1 BVG, wonach der Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten im allgemeinen auf andere Weise sichergestellt ist, wenn er im Haushalt der Eltern lebt und in deren Betrieb eine Tätigkeit ausübt, die sonst von einer fremden Hilfskraft wahrgenommen werden müßte, oder einen vertraglichen Anspruch auf ausreichenden Unterhalt hat, trägt der auf die Gesamtverhältnisse des Einzelfalles abzustellenden Prüfung nicht genügend Rechnung. Es kommt vielmehr entgegen dieser die Gerichte nicht bindenden Verwaltungsvorschrift auch bei dem im Haushalt der Eltern lebenden Schwerbeschädigten darauf an, was für ihn nach den Gesamtverhältnissen des Einzelfalles zum Leben notwendig ist. Zahlenmäßige Richtlinien können, wenngleich dadurch die Anwendung des § 32 Abs. 1 BVG wesentlich erleichtert würde, für den Umfang des notwendigen Lebensunterhalts nicht aufgestellt werden (BSG. a. a. O.).
Entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts und des Beklagten, die sich auf die Grundsätzliche Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts Nr. 100 vom 10. September 1953 berufen, wird der Begriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts nicht durch die Einkommensgrenzen des § 33 Abs. 1 BVG bestimmt. In dieser Vorschrift ist die Grenze des die Zahlung der Ausgleichsrente ausschließenden sonstigen Einkommens nach dem Grad der durch Schädigungsfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit (50 v. H. bis 100 v. H.) verschieden hoch festgesetzt. Die Staffelung berücksichtigt nicht den notwendigen Lebensunterhalt, sondern erkennt den Arbeitswillen an, welchen der schwerer Beschädigte trotz seiner Beeinträchtigung beweist. So kann nicht allgemein gesagt werden, daß der Lebensunterhalt eines Erwerbsunfähigen monatlich Geldmittel erfordert, die - legt man die vom 1. April 1956 geltenden Einkommenshöchstbeträge zugrunde - um 90,- DM höher sind als bei einem Schwerbeschädigten, dessen Erwerbsfähigkeit um die Hälfte gemindert ist. Außerdem zeigt die Regelung hinsichtlich der Freibeträge (§ 33 Abs. 2 BVG), um die sich das sonstige Einkommen mindert, und die geringen Monatsbeträge, um die sich die Einkommenshöchstbeträge für die Ehefrau und die nach § 32 Abs. 3 BVG zu berücksichtigenden Kinder erhöhen, daß die Einkommenshöchstbeträge des § 33 Abs. 1 BVG keine Bemessungsgrundlage für die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Schwerbeschädigten und gegebenenfalls seiner Familie sein können.
Dieses Ergebnis wird durch den mit dem Dritten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 19. Januar 1955 (BGBl. I S. 25) in das Bundesversorgungsgesetz eingeführten neuen Absatz 3 des § 33 BVG bestätigt. Hiernach ist die Ausgleichsrente abweichend von § 33 Abs. 1 BVG nach den Gesamtverhältnissen zu bemessen, wenn das sonstige Einkommen zahlenmäßig nicht feststellbar ist, der Lebensunterhalt im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG aber nicht auf andere Weise sichergestellt erscheint. Diese Vorschrift geht somit davon aus, daß die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts ohne Rücksicht auf die Einkommenshöchstbeträge des § 33 Abs. 1 BVG zu entscheiden ist.
Aus diesen Gründen hat das Landessozialgericht, wie die Revision mit Recht rügt, die §§ 32 Abs. 1, 33 Abs. 1 BVG dadurch verletzt, daß es bei der Prüfung der Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts des Verletzten die Einkommensgrenzen des § 33 Abs. 1 BVG zugrundegelegt hat, anstatt diese Frage nach den Gesamtverhältnissen des Falles zu entscheiden. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben. Gleichzeitig muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil die vom Landessozialgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht für eine Sachentscheidung ausreichen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Das Landessozialgericht wird nun unter Beachtung der angeführten Gesichtspunkte zu prüfen haben, ob der Lebensunterhalt des Verletzten zu seinen Lebzeiten sichergestellt war. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, daß der Verletzte auf dem landwirtschaftlichen Anwesen seiner Eltern gelebt hat und dort unterhalten worden ist. Es wird auseinandergehalten werden müssen, welchen Teil der Aufwendungen für seinen Lebensunterhalt er durch seine Arbeit erdient und welcher als Unterhaltsgewährung der Eltern auf Grund des § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anzusehen ist. Wegen der geringen Größe des landwirtschaftlichen Anwesens wird dessen Ertragsfähigkeit, die durch ungünstige Bodenverhältnisse beeinträchtigt sein kann, zu berücksichtigen sein, um festzustellen, ob die Eltern des jetzigen Klägers etwa so viel für den Verletzten aufgewendet haben, daß ihr eigener notwendiger Unterhalt nicht auf längere Dauer gewährleistet war, so daß ihre Unterhaltsgewährung über das ihnen Zumutbare hinausgegangen und der Lebensunterhalt des Verletzten nicht als sichergestellt im Sinne des § 32 BVG anzusehen ist (vgl. BSG. 4 S. 267 ff. (270, 271)). Kommt das Landessozialgericht dabei zu dem Ergebnis, daß der Lebensunterhalt des Sohnes der Kläger nicht sichergestellt war, dann wird es, wenn er kein zahlenmäßig feststellbares Arbeitseinkommen bezogen hat, die Höhe der Ausgleichsrente nach § 33 Abs. 3 n. F. zu bestimmen haben. Diese Vorschrift ist rückwirkend vom 1. Oktober 1950 ab anzuwenden (BSG. 3 S. 124 (130)). Sie soll nach ihrem Sinn und Zweck die Schwierigkeiten beseitigen, die sich unter anderem bei der Entscheidung über den Ausgleichsrentenanspruch von schwerbeschädigten Bauernsöhnen ergeben haben, die im elterlichen Anwesen mitarbeiten, soweit es ihr Gesundheitszustand zuläßt. In diesen Fällen liegt meist kein zahlenmäßig feststellbares Einkommen vor, weil die mithelfenden Familienangehörigen zum Betriebsinhaber nicht in einem abhängigen (lohnsteuer- und sozialversicherungspflichtigen) Arbeitnehmerverhältnis stehen, sondern auf Grund der Familienzugehörigkeit ohne Bezug von Arbeitsentgelt mitarbeiten. In diesen Fällen soll nach der neuen Vorschrift eine Schätzung des Geldwertes des geleisteten Unterhalts unterbleiben und die Ausgleichsrente nach den Gesamtverhältnissen bemessen werden (ebenso Wilke, KOV. 1955 S. 1 (2); Rundschreiben des BMA. vom 22.12.1954, BVBl. 1955 S. 5 Nr. 4; Nr. 9 der Verwaltungsvorschrift zu § 33 i. d. F. vom 1.6.1955).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.
Fundstellen