Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit bei mangelnder Fingerfertigkeit
Orientierungssatz
1. Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht bei der Feststellung der Unfähigkeit (hier: bei Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der Hand).
2. Zur Frage, wann die Feststellung darüber, in welchem Ausmaß es geeignete Arbeitsplätze für einen in der Leistungsfähigkeit geminderten Versicherten gibt, entbehrlich ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 07.06.1973) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Juni 1973 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beklagte macht mit der nicht zugelassenen Revision als wesentlichen Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts (LSG) ungenügende Sachaufklärung (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) geltend. Sie hat den Antrag des Klägers auf Gewährung von Versichertenrente abgelehnt (Bescheid vom 30.11.1967). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt (Urteil vom 7.6.1973).
Das LSG hat ua festgestellt, der Kläger könne Arbeiten in geschlossenen Räumen, die nicht mit andauerndem Stehen und Gehen verbunden seien, ausführen, wenn sie ihm etwa stündlich eine Sitzpause gestatteten; Arbeiten im Sitzen seien ganztägig zumutbar. Es gebe zwar noch genügend Arbeitsplätze auch für Männer für ausschließlich im Sitzen zu verrichtende Arbeiten. Jedoch bestehe hier eine weitere erhebliche Einschränkung, weil Arbeiten, die mit einer gewissen Fingerfertigkeit oder Geschicklichkeit verbunden seien und beim Fehlen dieser Fähigkeit ein erhöhtes Unfallrisiko enthielten, für den Kläger nicht zumutbar erschienen. Damit entfalle eine erhebliche Anzahl von Tätigkeiten im Sitzen. Der Kläger sei deshalb berufsunfähig. Das LSG hat sich auf das im Verfahren vor dem SG erstattete orthopädische Gutachten von Dr. K vom 2. Februar 1973 gestützt.
Die Beklagte hat mit der Revision beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen: Das LSG sehe die entscheidende Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers darin, daß Arbeiten mit gewisser Fingerfertigkeit oder Geschicklichkeit nicht zumutbar seien. Es hätte sich aber zunächst Gewißheit darüber beschaffen müssen in welchem Maß die Beweglichkeit der Finger eingeschränkt sei. Die Aussage des Gutachters Dr. K. sei zu allgemein und unbestimmt, um daraus entnehmen zu können, welche Arbeiten der Kläger mit der Hand noch verrichten könne und welche nicht. Die Tätigkeiten, bei denen es auf den Gebrauch der Hand ankomme, reichten von groben Arbeiten bis zu ausgesprochenen Tüftelarbeiten. Es sei nicht ersichtlich, wo im Fall des Klägers die Grenze liege. Die Beklagte verweist dazu auf Ausführungen im Gutachten der Universitäts-Nervenklinik Marburg vom 17. Mai 1971 (Seite 24 des Gutachtens). Danach hätten sich für Beschwerden im Bereich der linken Schulter und der Fingerbeuger links weder bei den Röntgenbefunden noch bei der elektrophysiologischen Untersuchung Anhaltspunkte für eine Schädigung gefunden; die Funktion im Schultergelenk und bei den Fingerbeugern sei unter Ablenkung voll auszulösen; die vom Kläger subjektiv empfundene Schwellung der linken Hand habe nicht beobachtet werden können. Danach sei eine nennenswerte Einschränkung der Fingerbeweglichkeit überhaupt zweifelhaft. Gerade bei Fließbändern gebe es eine Reihe von im Sitzen auszuübenden reinen Kontroll- und Überwachungstätigkeiten, bei denen es auf eine "gewisse Fingerfertigkeit" nicht ankomme. Das LSG hätte erst nach Klärung einer tatsächlichen Einschränkung der Fingerbeweglichkeit feststellen können, welche Tätigkeiten dem Kläger noch zumutbar seien, insbesondere ob Maschinen- und Bandarbeiten generell auszuschließen seien und ob der Arbeitsmarkt dem Kläger praktisch verschlossen sei.
Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Er meint, die Beklagte hätte bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG Gelegenheit gehabt, eine Ergänzung der Gutachten zu beantragen, wenn sie diese nicht für vollständig gehalten habe.
Die Revision ist zulässig, denn die Beklagte rügt mit dem aufgezeigten Verstoß gegen § 103 SGG einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Die Revision ist begründet, denn das angefochtene Urteil beruht auf dem Mangel. Das LSG hätte bei genügender Sachaufklärung möglicherweise anders entschieden.
Die Beklagte hat zu Recht dargelegt, daß die Entscheidung des LSG, der allgemeine Arbeitsmarkt sei dem Kläger wegen Fehlens einer gewissen Fingerfertigkeit praktisch verschlossen, nicht von ausreichenden Ermittlungen und Feststellungen getragen wird.
Der Orthopäde Dr. K., auf dessen Gutachten das LSG sich gestützt hat, hat ausgeführt: "Alle Arbeiten, die mit einer gewissen Fingerfertigkeit oder Geschicklichkeit verbunden sind und die beim Fehlen dieser Fähigkeiten ein erhöhtes Unfallrisiko in sich bergen, erscheinen nicht mehr zumutbar" (Gutachten Seite 10). Als Befunde hat der Gutachter angegeben: "Beim Ausstrecken der Finger der linken Hand bleibt der Kleinfinger in leichter Beugestellung. Die anderen Finger können mühsam voll gestreckt werden. Faustschluß beiderseits möglich, dabei links etwas zögernd und vorsichtig". Außerdem sind in den Gutachten Ergebnisse einer Sensibilitätsprüfung und Umfangmaße der Arme und Finger angegeben. In der "Zusammenfassung" heißt es: "Sensibilitätsstörungen im Bereich beider Arme und beider Beine, die sich jedoch nicht exakt auf Segmente hin objektivieren lassen"; in der "Beurteilung" wird gesagt, eine Ursache im Bereich der Halswirbelsäule für die Störungen lasse sich zumindest orthopädischerseits nicht finden.
Da in dem Gutachten nicht beschrieben ist, welche Fingerbewegungen beim Gebrauch der Hand bei der Arbeit eingeschränkt sind und nicht ausgeführt werden können, das LSG aber gerade der Fingerfertigkeit entscheidende Bedeutung für das Vorhandensein eines entsprechenden Arbeitsmarktes beigemessen hat, hätte es durch Befragen des Sachverständigen klären müssen, inwiefern der Gebrauch der Hand bei Arbeiten durch den Zustand der Finger behindert werde. Dem steht das in SozR Nr. 101 zu § 1246 RVO abgedruckte Urteil des Senats vom 17.5.1972 nicht entgegen. Dort wurde allerdings nicht beanstandet, daß das LSG ohne weitere Prüfung angenommen hatte, dem Kläger sei wegen einer Gebrauchsbehinderung der linken Hand die Verrichtung von Heimarbeiten in ausreichendem Umfang nicht möglich. Damit wurde der besonderen Eigenart der Heimarbeit und ihrer im allgemeinen geringen Ergiebigkeit Rechnung getragen. Darum geht es hier aber nicht. Bei der Bedeutung gerade der Hand für alle Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt und bei der Vielfältigkeit und Kompliziertheit der Hand- und Fingerbewegungen und dem unterschiedlichen Ausmaß notwendiger Kraftanwendung mußte sich dem LSG aufdrängen, daß die Behinderung bei Arbeiten mit den Händen im einzelnen genau festzustellen sei. Es mußte dies um so eher erkennen, als die objektiven Befunde für die Einschränkung der Fingerfertigkeit gering und unklar waren. Zudem hatte der Gutachter Dr. K. auf die neurotische Einstellung des Klägers zu den Unfallfolgen in den 10 Jahren seit dessen Unfall hingewiesen und der Kläger hatte dem Gutachter erklärt, die Erscheinungen im linken Arm hätten begonnen, als die Beschwerden in der unteren Körperhälfte nach dem Unfall zurückgegangen seien. Das LSG hat somit den Sachverhalt aus seiner Sicht nicht genügend aufgeklärt (Verstoß gegen § 103 SGG).
Mit dem Vorbringen des Klägers in der Revisionserwiderung, die Beklagte hätte vor dem LSG eine Ergänzung der Gutachten beantragen können, wird die Verletzung des § 103 SGG durch das LSG nicht ausgeschlossen. Die Beklagte konnte erst aus dem Urteil ersehen, wie das LSG die erhobenen Beweise, d. h. die eingeholten medizinischen Gutachten, gewürdigt, welche Tatsachen es daraus festgestellt und welche Bedeutung es diesen bei der rechtlichen Beurteilung beigemessen hat.
Da die zur Entscheidung über den Anspruch des Klägers notwendige Feststellung, ob und wie die Gebrauchsfähigkeit der Hand im einzelnen eingeschränkt ist, fehlt, ist der Rechtsstreit zu weiteren Ermittlungen und Feststellungen an das LSG zurückzuverweisen.
Bei der neuen Verhandlung wird das LSG zu erwägen haben, ob etwa ein persönliches Erscheinen des Klägers und eine orthopädische Begutachtung im Termin zweckmäßig erscheint, um dem Gericht die vorhandene Fingerfertigkeit darzutun und ihm dadurch die Entscheidung, ob der Arbeitsmarkt für den Kläger offen ist, zu erleichtern; gegebenenfalls könnte auch noch ein berufskundlicher Sachverständiger hinzugezogen werden. Im übrigen wird das LSG zu beachten haben, daß nach den Beschlüssen des Großen Senats vom 11.12.1969 (BSG 30, 167, 192) besondere Ermittlungen über die Verhältniszahlen der für den Versicherten in Betracht kommenden Arbeitsplätze und der Interessenten für solche Beschäftigungen in zwei Fällen entbehrlich sind: Wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz innehat und wenn der Versicherte es ohne triftigen Grund ablehnt, einen angebotenen oder ihm bekannt gewordenen zumutbaren Arbeitsplatz einzunehmen. Hinzu kommt ein dritter Fall. Ebensowenig wie es hingenommen werden kann, daß ein Versicherter durch Ausschlagen eines zumutbaren Arbeitsplatzes den Tatbestand der Berufsunfähigkeit herbeizuführen trachtet, kann es gebilligt werden, daß ein Versicherter sich gar nicht erst bei dem für seinen Wohnort zuständigen Arbeitsamt um die Vermittlung eines zumutbaren Arbeitsplatzes bemüht, obschon dieses dazu in der Lage wäre. Wenn der Versicherte es unterläßt, das Arbeitsamt für eine entsprechende Arbeitsvermittlung in Anspruch zu nehmen, kann der Arbeitsmarkt für ihn nicht als verschlossen gelten, falls ihm bei gehörigem Bemühen ein zumutbarer Arbeitsplatz vom Arbeitsamt hätte vermittelt werden können (vgl. die Entscheidung des Senats vom 22.8.1973 12 RJ 106/72 mit weiteren Nachweisen).
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen