Leitsatz (amtlich)
Ob in besonderen Ausnahmefällen auch Unterhaltszahlungen während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen können (BSG 1966-06-28 11 RA 288/64 = BSGE 25, 86 = SozR Nr 34 zu § 1165 RVO), erscheint zweifelhaft.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15.Januar 1965 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Weitere außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin beansprucht als geschiedene Ehefrau gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres am 3. März 1956 gestorbenen früheren Ehemannes. Zu entscheiden ist, ob der letzte Fall des § 1265 RVO in der Fassung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - (also vor Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 - RVÄndG -) - Unterhaltsleistung des Versicherten an seine frühere Ehefrau im letzten Jahr vor seinem Tode - nur dann erfüllt ist, wenn der Versicherte seiner früheren Frau während der vollen Dauer des Jahres vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
Die im Juli 1920 geschlossene Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde im Mai 1943 aus dessen Verschulden geschieden. Im August 1943 heiratete der Versicherte die Beigeladene. Die Beklagte gewährt der Beigeladenen Witwenrente. Den im Oktober 1959 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Juli 1960 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin vom 1. März 1958 an Rente gemäß § 1265 RVO zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten hin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Es hat angenommen, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil keine der Voraussetzungen des § 1265 RVO erfüllt sei. Nach den Einkommensverhältnissen des Versicherten, der Klägerin und der Beigeladenen habe der Versicherte bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen, seines eigenen angemessenen Unterhalts und der Bedürfnisse der Beigeladenen zur Zeit seines Todes der Klägerin nicht Unterhalt nach den Vorschriften der §§ 66, 67 des Ehegesetzes (EheG) 1938 zu leisten gehabt. "Sonstige Gründe", aus denen die Klägerin einen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten hätte herleiten können, seien nicht vorhanden. Der Versicherte habe der Klägerin auch nicht im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt im Sinne des letzten Falles des § 1265 RVO geleistet; denn dessen Voraussetzungen seien nur erfüllt, wenn der Versicherte während des gesamten letzten Jahres vor seinem Tode Unterhalt an seine geschiedene Ehefrau geleistet habe, selbst wenn er an weiteren Leistungen nur durch die zum Tode führende Erkrankung gehindert worden sei. Diese Ansicht werde durch § 592 RVO in der seit dem 1. Juli 1963 geltenden Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 - UVNG - (BGBl I 241) gestützt. Entscheidend sei daher, ob rückgerechnet vom Todestag des Versicherten am 3. März 1956 Unterhaltsleistungen für ein Jahr erbracht worden seien. Das sei nicht der Fall gewesen; denn erwiesen seien während des letzten Jahres vor dem Tode Zahlungen des Versicherten an die Klägerin nur von März bis Juli 1955, also nur für die Zeit von fünf Monaten.
Gegen das Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1265 RVO. Sie meint, bei natürlicher Betrachtung bedeute die in § 592 RVO gewählte Fassung ... wenigstens während des letzten Jahres vor seinem Tode" nichts anderes als "im letzten Jahr vor seinem Tode". In § 592 RVO sei demnach nur eine redaktionelle Änderung vorgenommen worden, ohne am Sinn oder Inhalt der Vorschrift etwas zu ändern. Die Revision beruft sich auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 20, 252, nach der die Voraussetzungen des § 1265 RVO - letzter Fall - selbst dann erfüllt seien, wenn sich die Unterhaltsleistungen nicht auf den Zeitraum eines ganzen Jahres erstreckt haben. Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 17. April 1963 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie schließt sich den Gründen der angefochtenen Entscheidung an.
Die Beigeladene beantragt ebenfalls, die Revision zurückzuweisen.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Der Entscheidung des LSG ist im Ergebnis beizupflichten.
Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren, am 3. März 1956 gestorbenen Ehemannes beurteilt sich nach § 1265 RVO in der seit dem 1. Januar 1957 gültigen Fassung des ArVNG, da diese Vorschrift gemäß Art. 2 § 19 ArVNG auch dann anzuwenden ist, wenn der frühere Ehemann vor dem Inkrafttreten des ArVNG, aber nach dem 30. April 1942 gestorben ist. § 1265 RVO idF des RVÄndG bleibt indessen außer Betracht, weil der durch dieses Gesetz dem § 1265 RVO angefügte Satz 2 nur für Versicherungsfälle gilt, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a und § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG).
Nach § 1265 Satz 1 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG - erster Fall - oder aus sonstigen Gründen - zweiter Fall - zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat - dritter Fall -. Die Entscheidung des LSG, daß der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen Unterhalt nicht zu leisten hatte, wird von der Revision nicht in Frage gestellt. Unter den Beteiligten besteht mit Recht Einigkeit darüber, daß auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen des ersten und zweiten Falles des § 1265 RVO nicht erfüllt sind.
Die Revision meint jedoch, entgegen der Auffassung des LSG sei der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente begründet, weil der Versicherte ihr im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet habe, also der letzte Fall des § 1265 RVO gegeben sei. Das LSG hat indessen im Ergebnis zu Recht auch diese Voraussetzung für den Rentenanspruch der Klägerin nicht als erfüllt angesehen; denn der Versicherte hat der Klägerin nicht "im letzten Jahr vor seinem Tode" Unterhalt geleistet.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen in dem angefochtenen Urteil (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) hat der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode, also in der Zeit vom 4. März 1955 bis zum 3. März 1956, Zahlungen, die als Unterhaltsgewährung in Betracht kommen, nur für die Monate März bis Juli 1955 geleistet. Selbst wenn davon ausgegangen wird, daß der Versicherte der Klägerin für die Monate März bis Juli 1955 "Unterhalt" im Sinne des § 1265 RVO geleistet hat (BSG 22, 44 = SozR Nr. 26 zu § 1265 RVO; SozR Nr. 41 zu § 1265 RVO), fehlt es - entgegen der Ansicht der Revision - an der Erfüllung der Voraussetzung, daß der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Diese Voraussetzung ist nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift jedenfalls nur dann erfüllt, wenn der Versicherte tatsächlichen Unterhalt an die geschiedene Frau etwa bis zu seinem Tode wirklich geleistet hat. Hat der Versicherte wie in dem gegenwärtigen Fall die Unterhaltsleistungen bereits etwa 7 Monate vor seinem Tode eingestellt, so ist diesem Erfordernis nicht genügt.
Der 11. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 28. Juni 1966 (BSG 25, 86 = SozR Nr. 34 zu § 1265 RVO) bereits klargestellt, daß die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO Unterhaltsersatzfunktion hat und im Hinblick darauf gewährt wird, daß die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten Rechtsansprüche auf Unterhalt (§ 1265 RVO 1. und 2. Fall) oder gewährte Unterhaltsleistungen verliert. Für die ersten beiden Fälle wird im Gesetz auf die Zeit des Todes des Versicherten, für den letzten Fall auf die Verhältnisse "im letzten Jahr vor seinem Tode" abgestellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG meint das Gesetz mit "zur Zeit seines Todes" im Sinne der beiden ersten Fälle den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, weil nur bei dieser Auslegung verhindert wird, daß vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen für die Gewährung oder Versagung der Hinterbliebenenrente den Ausschlag geben. Dieser Erwägung ist für den letzten Fall des § 1265 RVO im Gesetz selbst dadurch Rechnung getragen, daß Unterhaltsleistungen des Versicherten den Anspruch auf Rente nur dann begründen, wenn sie "im letzten Jahr vor seinem Tode" erbracht worden sind. Das bedeutet, daß diese Zahlungen sich in der Regel auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstrecken müssen.
Nur diese Auslegung verhindert - ebenso wie die Berücksichtigung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes in den beiden ersten Fällen - auch bei dem letzten Falle, daß die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Rente durch Umstände bestimmt wird, die nicht auf einen Dauerzustand in den Verhältnissen der Beteiligten schließen lassen und objektiv nicht feststellbar sind. Nur Leistungen, die regelmäßig für die ganze Dauer des im Gesetz genannten Jahreszeitraums erbracht worden sind, rechtfertigen objektiv die Annahme, der Versicherte hätte auch weiterhin Unterhalt geleistet und die frühere Ehefrau habe sich daher für die Zukunft auf diesen Unterhalt einstellen dürfen; nur dann erscheint es deshalb gerechtfertigt, der Ehefrau bei Wegfall dieser Zahlungen infolge des Todes des Versicherten "Ersatz" durch die Gewährung von Witwenrente zukommen zu lassen. Für die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen des letzten Falles gegeben sind, kommt es dabei nach dem Gesetz nur auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung in dem Jahr vor dem Tode des Versicherten an; unerheblich ist, ob der Versicherte, falls er nicht gestorben wäre, weiterhin hätte zahlen können, oder ob er - was sich vielfach gar nicht feststellen läßt - die Absicht gehabt hat, auch weiterhin Unterhalt zu zahlen.
Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen des 11. Senats an. Ob, wie in dem angeführten Urteil des 11. Senats unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen des BSG weiter ausgeführt ist, in besonderen Ausnahmefällen auch Unterhaltsleistungen während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen können, erscheint zweifelhaft. Die Auffassung liegt nahe, daß dieser Jahreszeitraum vom Gesetz als Mindestzeit für die objektive Rechtfertigung der Annahme gedacht ist, daß der Versicherte die Unterhaltsleistungen fortgesetzt hätte, wenn er nicht gestorben wäre, und daß die geschiedene Frau sich für ihre Zukunft auf diese Zuwendung zu den Kosten ihrer Lebenshaltung einrichten durfte. Jedoch braucht der Senat zu dieser Rechtsfrage nicht abschließend Stellung zu nehmen. Ein besonderer Ausnahmefall, der es rechtfertigen würde, den Rentenanspruch der Klägerin auf Grund von Unterhaltsleistungen während eines Zeitraumes von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten für begründet zu erachten, liegt in dem gegenwärtigen Fall selbst dann nicht vor, wenn der Beurteilung die bisherige Rechtsprechung des BSG zugrunde gelegt wird.
Einen solchen Ausnahmefall hat die Rechtsprechung des BSG in dem - hier nicht gegebenen - Falle gesehen, daß der Tod des Versicherten vor Ablauf eines Jahres seit der Scheidung eingetreten war (BSG 14, 255; 20, 252). Einen weiteren Ausnahmefall hat sie in dem Falle angenommen, daß "außergewöhnliche Umstände, die der Versicherte weder beeinflussen noch gar beheben konnte" - nämlich sein Aufenthalt in der sowjetischen Besatzungszone in den ersten 13 Monaten nach der Scheidung -, ihn schlechthin gehindert hatten, die Unterhaltszahlungen an die Klägerin früher aufzunehmen, daß der Versicherte unmittelbar nach Wegfall dieses "außergewöhnlichen Hinderungsgrundes" die Zahlungen an die frühere Ehefrau aufgenommen und bis zu seinem Tode ununterbrochen beibehalten hatte (BSG 12, 279). Nach den Feststellungen des LSG ist der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode in der Zeit vom 22. März 1955 bis zum 9. Mai 1955 und vom 1. Juli 1955 bis zum 5. Dezember 1955 arbeitsunfähig krank gewesen; vom 6. Dezember 1955 bis zum 3. März 1956 bezog er Arbeitslosenunterstützung (Alu). Mit Bescheid vom 5. März 1957 hat die Beklagte dem Kläger nachträglich für die Zeit vom 1. Dezember 1955 bis zum 31. März 1956 Invalidenrente bewilligt, die die Beigeladene erhalten hat. Selbst wenn festgestellt würde, daß der Kläger infolge einer zum Tode führenden Erkrankung außerstande war, der Klägerin über Juli 1955 hinaus Unterhalt zu gewähren, so kann darin kein besonderer Ausnahmefall erblickt werden, der es rechtfertigen würde, Unterhaltsleistungen von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten, also die tatsächlich bewirkten Zahlungen von März bis Juli 1955 genügen zu lassen, um den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente zu begründen. Ein Versicherter wird durch eine derartige Erkrankung nicht schlechthin gehindert, Unterhalt zu leisten, wie im vorliegenden Falle schon die von dem Versicherten auch in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit geleisteten Unterhaltszahlungen zeigen.
Das LSG hat mithin mit Recht angenommen, daß auch die Voraussetzungen des letzten Falles des § 1265 Satz 1 RVO hier nicht erfüllt sind und der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes unbegründet ist. Die Revision der Klägerin ist deshalb zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten im Revisionsverfahren ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen