Leitsatz (redaktionell)
1. Ursache ist diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg nach der natürlichen Betrachtungsweise zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Bedingungen in gleicher Weise - gleichwertig - zu dem Erfolg beigetragen, so sind sie auch rechtlich nebeneinanderstehende Mitursachen. Kommt einer Bedingung gegenüber den anderen überwiegende Bedeutung zu, so ist sie rechtlich allein Ursache.
2. Bei den Bedingungen, die sich aus der physischen und psychischen Anlage eines Menschen ergeben, ist es zu prüfen, ob es sich nach der Beurteilung durch die medizinischen Sachverständigen um eine Anlage handelt, die ohne eine auslösende Ursache zunächst kein krankhaftes Geschehen im Körper hervorruft (ruhende Anlage), oder ob bereits ein krankhaftes physisches oder psychischen Geschehen vorliegt, auch ohne daß die physischen oder psychischen Veränderungen bei Eintritt der von außen hinzutretenden Bedingungen bereits erkennbar gewesen sind. Im zweiten Fall wird das anlagebedingte Leiden durch die von außen kommende weitere Bedingung verschlimmert worden sein, während im ersten Fall das Leiden als durch den Wehrdienst hervorgerufen wird festgestellt werden müssen.
3. Wenn das als Quadrantensyndrom bezeichnete Leiden ohne die Schulterverwundung mit Wahrscheinlichkeit nicht entstanden wäre, so muß für den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit der gesamte Leidenszustand berücksichtigt werden.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20, § 30 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beantragte am 2. Dezember 1949 Versorgung ua wegen der Folgen eines Durchschusses an der linken Schulter Durch Bescheid vom 7. Mai 1951 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) München "geheilten Schulterdurchschuß links" als Leistungsgrund nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) und als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an, bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 10 v.H. und lehnte im übrigen den Versorgungsantrag ab. Das Oberversicherungsamt (OVA) München wies die Berufung nach Anhörung mehrerer Sachverständiger durch Urteil vom 5. Juni 1952 zurück. Der Kläger legte Rekurs bei dem Bayerischen Landesversicherungsamt (LVAmt) ein; der Rekurs ging am 1. Januar 1954 als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG) über. Auf Antrag des Klägers holte das LSG ein Gutachten der Ärztin Dr. M ... ein; in dem Gutachten vom 20. Dezember 1957 heißt es, die Beschwerden des Klägers seien als "Halswirbelsäulensyndrom" zu deuten, dieser Zustand sei auf die Verwundung zurückzuführen, eine Veranlagung spiele dabei keine Rolle; die MdE betrage 40 v.H. Das LSG holte ein weiteres Gutachten von der II. Medizinischen Klinik der Universität M ... ein; die Sachverständigen Prof. Dr. B ... und Dr. E ... kamen in dem Gutachten vom 7. Januar 1959 ua zu dem Ergebnis, daß bei dem Kläger ein "vegetatives Quadrantensyndrom" bestehe, das im Anschluß an die Verletzung der Schulter entstanden und als selbständige Zweitkrankheit zu werten sei; der jetzige Zustand sei teils die Folge konstitutioneller und psychischer Besonderheiten des Klägers, teils die Folge der Verwundung. Durch Urteil vom 22. Oktober 1959 änderte das LSG das Urteil des OVA vom 5. Juni 1952 und den Bescheid von 7. Mai 1951 ab und verurteilte den Beklagten, "Zustand nach Schulterweichteildurchschuß in Sinne der Entstehung" und "vegetatives Quadrantensyndrom im Sinne der Verschlimmerung" als Schädigungsfolgen anzuerkennen, in übrigen wies es die Berufung zurück: Im Mittelpunkt der Erörterung stehe eine Neigung des Klägers zu Schmerzzuständen im Bereich der linken oberen Köperseite, die im Gutachten der II. Medizinischen Klinik der Universität M ... als vegetatives Quadrantensyndrom bezeichnet worden seien; es handele sich um ein seltenes Störungsbild, das nach Schädigung der peripheren Nerven auftreten könne; seine Intensität stehe indessen in einem Mißverhältnis zu dem eingetretenen Nervenschaden; es werde nicht durch diesen allein hervorgerufen und unterhalten, sondern sei zugleich durch konstitutionelle und psychische Komponenten mitbedingt; es sei daher Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung; soweit in dem Gutachten der Sachverständigen Frau Dr. M ... eine andere Ansicht vertreten worden sei, könne dem nicht gefolgt werden; die MdE erreiche nicht den rentenberechtigenden Grad, der Kläger sei auch nicht im Sinne von § 30 BVG durch die Schädigungsfolgen in seinem Beruf besonders betroffen.
Das Urteil wurde dem Kläger am 2. Dezember 1959 zugestellt. Am 30. Dezember 1959 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des Bayerischen LSG von 22. Oktober 1959 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 25. Februar 1960 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 2. März 1960 - begründete er die Revision: Das LSG habe die §§ 1 Abs. 3, 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 BVG verletzt, es habe gegen Erfahrungssätze und gegen die Denkgesetze verstoßen; das LSG sei zu Unrecht dem Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik M ... gefolgt, dieses Gutachten sei zum Teil unzutreffend und lückenhaft, zum Teil habe das LSG es falsch verstanden; das Gutachten der Universitätsklinik habe sich auch nicht hinreichend mit dem Gutachten von Frau Dr. M ... auseinandergesetzt, die einen für den Kläger günstigeren Standpunkt vertreten habe; das LSG habe, wenn es Zweifel an der Richtigkeit des Gutachtens von Frau Dr. M ... gehabt habe, noch ein weiteres Gutachten einholen müssen. Das LSG habe auch den rechtlichen Begriff des ursächlichen Zusammenhangs verkannt. Es habe ferner nicht hinreichend begründet, weshalb es die MdE des Klägers durch die anerkannten Schädigungsfolgen nur mit 20 v.H. bewertet habe, und es habe auch zu Unrecht verneint, daß der Kläger durch die Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen sei.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln; das LSG hat auch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Leiden des Klägers mit einer Schädigung im Sinne des BVG möglicherweise das Gesetz verletzt.
Das LSG hat festgestellt, bei dem Kläger bestehe ein vegetatives Quadrantensyndrom. Für die Frage, ob die Revision statthaft ist, kann zunächst dahingestellt bleiben, ob das LSG insoweit von der Diagnose in dem Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik M ... hat überzeugt sein dürfen oder ob es in Hinblick auf das Gutachten von Frau Dr. M ..., die das leiden als Halswirbelsäulensyndrom bezeichnet hat, noch weitere Ermittlungen hat anstellen müssen. Jedenfalls ist die Feststellung des LSG, daß das Leiden des Klägers - mag es nun als vegetatives Quadrantensyndrom oder als Halswirbelsäulensyndrom zu bezeichnen sein - durch den Wehrdienst nicht hervorgerufen, sondern nur verschlimmert worden sei, nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise und unter Verkennung der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV) geltenden Kausalitätsnorm zustande gekommen; auf das Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik M ... hat das LSG sich insoweit nicht stützen dürfen. In diesen Gutachten heißt es bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den "vegetativen Quadrantensyndrom" und der in Kriege erlittenen Verwundung, eine "einfache Verursachung" könne nicht angenommen werden; in den Gutachten ist weiter ausgeführt, die Plexuszerrung, die der Kläger davongetragen habe, sei als "Teilursache" des Quadrantensyndroms zu bezeichnen, die Schulterverletzung habe die Quadrantenstörung "wesentlich mitverursacht", dementsprechend sei von der durch dieses Krankheitsbild hervorgerufenen MdE ein "wesentlicher Anteil" als Wehrdienstfolge anzuerkennen. Die in den Gutachten verwendeten Begriffe "Teilursache", "wesentlich mitverursacht", "wesentlicher Anteil" (an dem Grad der MdE) haben dem LSG nahelegen müssen, zu prüfen, ob die Verwundung nicht die wesentliche Bedingung oder eine von mehreren wesentlichen Bedingungen und damit die Ursache oder eine Mitursache des Leidens gewesen ist. Nach der für das Gebiet der KOV - ebenso wie für die gesetzliche Unfallversicherung - geltenden "Theorie der wesentlichen Bedingung" ist Ursache diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg nach der natürlichen Betrachtungsweise zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat; haben mehrere Bedingungen in gleicher Weise, also gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen, so sind sie auch rechtlich nebeneinanderstehende Mitursachen; jede von ihnen ist also Ursache im Sinne des Versorgungsrechts; kommt aber eine Bedingung gegenüber den anderen Bedingungen überwiegende Bedeutung zu, so ist diese Bedingung rechtlich allein Ursache (vgl. zB BSG 8, 275 ff, 277 mit weiteren Hinweisen; Haueisen, Juristenzeitung 1961, 9 ff). Auf die zeitliche Folge der Bedingungen und ihre Vorhersehbarkeit kommt es dabei nicht an (BSG SozR Nr. 9 zu § 35 BVG). Auch die Bedingungen, die sich aus der physischen und psychischen "Anlage" eines Menschen ergeben, sind wie die sonstigen Bedingungen auf ihre Bedeutung für den "Erfolg", also den Leidenszustand, zu prüfen; in diesen Fällen ist zu untersuchen, ob es sich nach der Beurteilung durch die medizinischen Sachverständigen um eine "Anlage" handelt, die ohne eine auslösende Ursache zunächst kein krankhaftes Geschehen im Körper hervorruft ("ruhende Anlage") oder ob bereits ein krankhaftes physisches oder psychisches Geschehen vorliegt, auch ohne daß die physischen oder psychischen Veränderungen bei Eintritt der weiteren "von außen" hinzutretenden Bedingung bereits erkennbar gewesen sind (vgl. BSG, Urt. v. 9.12.1959, zitiert in "Die Kriegsopferversorgung" 1960, 81: Haueisen aaO); nur im zweiten Falle kann es sein, daß das "anlagebedingte" Leiden durch die von außen hinzukommende weitere Bedingung, etwa die Schädigung, "verschlimmert" worden ist; wenn es sich dagegen um eine "ruhende Anlage" handelt, die nach der Überzeugung der medizinischen Sachverständigen ohne die Schädigung nicht zu einem krankhaften Geschehen geführt haben würde, wird in der Regel der schädigende Vorgang die allein wesentliche Bedingung und damit die Ursache, jedenfalls aber eine Mitursache gewesen sein, in diesem Falle muß das Leiden deshalb als durch den Wehrdienst hervorgerufen festgestellt (anerkannt) werden (vgl. auch Urt. d. BSG v. 18.10.1960, 11 RV 52/60). Wenn für die ärztliche Beurteilung auch dann, wenn "durch die schädigenden Vorgänge eine Krankheit zum Ausbruch kommt, für deren Manifestierung andere Ursachen gleich oder annähernd gleich wesentlich sind", der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung bewertet wird (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit in Versorgungswesen 1958 S. 12, 13), so ist dies versorgungsrechtlich nicht ebenso zu beurteilen. Wenn die Ärzte der II. Medizinischen Universitätsklinik M. zu dem Ergebnis gekommen sind, eine "einfache Verursachung des vorwiegend vegetativen Störungssyndroms durch die Schulterverwundung mit Plexus-brachialis-Zerrung" könne nicht angenommen werden, diese Zerrung sei als "Teilursache der heute noch vorhandenen Quadrantenstörung" zu bezeichnen, für die Quadrantenstörung habe "zweifellos die durch die Schulterverletzung und die Plexuszerrung erzwungene mehrmonatige Ruhigstellung der linken oberen Extremität wesentlich mitgewirkt", es handele sich um eine von der Ruhigstellung "abhängige Zweitkrankheit", so hat das LSG allein auf Grund dieses Gutachtens jedenfalls nicht feststellen dürfen, das Leiden des Klägers sei durch die Verwundungsfolgen nur verschlimmert worden. Insoweit handelt es sich ebenso um eine Verkennung der für das Gebiet der KOV geltenden Kausalitätsnorm wie um eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Gutachtens. Das Gutachten läßt nämlich nicht ohne weiteres den Schluß zu, daß es auch ohne die Schulterverletzung und die Ruhigstellung zu dem vegetativen Quadrantensyndrom gekommen wäre. Das LSG hat nicht davon absehen dürfen, sich über diese Frage noch weitere medizinische Aufklärung zu verschaffen. Die Verwendung des Begriffs "Zweitkrankheit" läßt mindestens auch den Schluß zu, daß es ohne die Verwundungsfolgen - als der "Erstkrankheit" - nicht zu dem Quadrantensyndrom gekommen wäre. Infolge der verfahrensrechtlich insoweit nicht einwandfrei zustande gekommenen Feststellungen des LSG und der Verkennung des Kausalitätsbegriffs ist auch die weitere Feststellung des LSG möglicherweise unzutreffend, daß von der "Gesamt-MdE" nur ein Teil auf die Schädigungsfolgen zurückzuführen sei und daß dieser Teil für die gesamte streitige Zeit mit weniger als 25 v.H. zu bewerten sei. Wenn nämlich das als Quadrantensyndrom bezeichnete Leiden ohne die Schulterverwundung mit Wahrscheinlichkeit nicht entstanden wäre, so muß für den Grad der MdE der gesamte Leidenszustand auch dann berücksichtigt werden, wenn der Leidenszustand ohne die - ruhende - "Anlage" einen solchen Grad nicht hätte erreichen können. Schließlich ist es auch für die Frage, ob der Kläger an "seelischen Begleiterscheinungen" leidet und beruflich besonders betroffen ist (§ 30 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BVG), nicht unerheblich, ob der Leidenszustand durch den Wehrdienst "hervorgerufen" oder nur "verschlimmert" worden ist; auch insoweit bedarf es noch weiterer tatsächlicher Feststellungen und möglicherweise einer Ergänzung der vorhandenen Gutachten.
Da die Revision sonach statthaft und da sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet ist, ist sie zulässig. Sie ist auch begründet; denn es ist möglich, daß das LSG nach erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts, nach einwandfreier Prüfung der Beweise und bei richtiger Anwendung der Kausalitätsnorm zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen