Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Wohnung. Betrieb
Orientierungssatz
1. Bei räumlicher Trennung von Wohnung und Betriebsstätte, die sich in demselben Gebäude befinden, beginnt der Versicherungsschutz grundsätzlich erst mit dem Erreichen der Betriebsstätte. Dem entspricht es, daß grundsätzlich mit dem Verlassen der Betriebsstätte der Versicherungsschutz endet.
2. Ein Unternehmer kann auf dem Rückweg von der Betriebsstätte, in der er eine versicherte Tätigkeit verrichtet hat, zu den in demselben Gebäude liegenden Wohnräumen allerdings noch unter Versicherungsschutz stehen, wenn dieser Weg durch andere Räume des Hauses führt, die ausschließlich oder wesentlich mit zu betrieblichen Zwecken benutzt werden (vgl BSG 1960-01-29 2 RU 265/56 = BSGE 11, 267).
Normenkette
RVO § 548
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 05.08.1970) |
SG Bayreuth (Entscheidung vom 05.11.1969) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. August 1970 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 5. November 1969 als unzulässig verworfen wird, soweit sie Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Ihr Ehemann betrieb in E, M-platz ..., ein Lebensmittel-, Drogerie- und Fotogeschäft, das sich im Erdgeschoß des Hauses befand. Die Wohnung lag im ersten Stockwerk. Am Abend des 7. September 1967 kontrollierte der Ehemann der Klägerin wie üblich die Geschäftsräume daraufhin, ob die Türen abgeschlossen waren und die Beleuchtung ausgeschaltet war. Nachdem er gegen 22.30 Uhr über die Treppe das erste Stockwerk gerade wieder erreicht hatte, kam er dort auf einem Läufer nahe der zum Labor führenden Tür in dem Gang zu Fall, an dessen Ende sich - einander gegenüberliegend - die Türen zum Wohnzimmer und zum Büroraum befanden. Nach der Behauptung der Klägerin wollte er zunächst seiner Gewohnheit entsprechend die Schlüssel für die Geschäftsräume im Büroraum ablegen, damit sein im Anbau des Hauses wohnender - im Geschäft tätiger - Sohn sie am nächsten Morgen dort abholen konnte; anschließend wollte er sich in das Wohnzimmer und das daran grenzende Schlafzimmer zur Ruhe begeben. Bei dem Unfall erlitt er einen Oberschenkelhalsbruch links und starb am 8. Januar 1968, wahrscheinlich durch embolischen Insult bei Venenentzündung.
Durch Bescheid vom 8. Februar 1968 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, da sich der Unfall im unversicherten häuslichen Bereich ereignet und der Verunglückte keine betriebliche Tätigkeit verrichtet habe.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin ua geltend gemacht, ihr Ehemann habe den privaten Bereich noch nicht erreicht gehabt, weil sich an der Unfallstelle die zum Gang führende Tür des Labors (Dunkelkammer) und am Ende des Ganges das Büro befunden habe, das ihr Ehemann noch habe aufsuchen wollen.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 5. November 1969 die Klage abgewiesen: Die - spätere - Behauptung der Klägerin, ihr Ehemann habe die Ladenschlüssel im Büro hinterlegen wollen, lasse sich nicht mehr klären. Jedenfalls sei aber der Hauptzweck des Rückweges vom Geschäft auf das Aufsuchen der Schlafräume gerichtet und die Eigenwirtschaftlichkeit daher gegenüber dem betrieblichen Interesse überwiegend gewesen.
Durch Urteil vom 5. August 1970 hat das Landessozialgericht (LSG), nachdem es den Sohn der Klägerin als Zeugen vernommen hatte, die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Unfall habe sich nicht bei einer betrieblichen Tätigkeit ereignet. Diese sei im Unfallzeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen, der Ehemann der Klägerin habe keine weiteren geschäftlichen Angelegenheiten verrichten wollen. Wenn man auch unterstellen könne, daß er die Ladenschlüssel bei sich getragen und seiner Gewohnheit entsprechend im Büro habe ablegen wollen, so habe es sich dabei doch nicht um eine wesentliche betriebliche Tätigkeit gehandelt. Ähnlich wie das Ansichnehmen der Schlüssel sei auch das Ablegen derselben eine für den Versicherungsschutz indifferente Maßnahme (vgl. BSG 7, 255, 256). Der Umstand, daß sich im Wohnbereich auch das Labor und das Büro befunden hätten, veranlasse nach den vom Bundessozialgericht (BSG) ausgesprochenen Grundsätzen (vgl. BSG 11, 267; 12, 165; Breithaupt 1960, 494) keine andere Beurteilung. Das Begehen des Ganges im Unfallzeitpunkt habe eine ursächliche und rechtserhebliche Beziehung nur zum privaten Bereich gehabt. Der Ehemann der Klägerin habe sich nämlich zur Ruhe und nicht zu einer betrieblichen Tätigkeit ins Labor oder ins Büro begeben wollen. Mit der Kontrolle der Geschäftsräume sei die betriebliche Tätigkeit abgeschlossen gewesen. Bei dem beabsichtigten Ablegen der Schlüssel habe es sich lediglich um eine nebensächliche, versicherungsrechtlich bedeutungslose Maßnahme gehandelt, die nicht als wesentliche Auswirkung der vorausgegangenen Kontrolltätigkeit gewertet werden könne, weil sie ebenso im Wohnzimmer oder an der Ganggarderobe hätte geschehen können. Im Büro habe der Ehemann der Klägerin die Schlüssel vor allem deshalb abgelegt, weil dies seiner Gewohnheit entsprochen habe und er die Schlüssel für die Zeit habe zur Verfügung stellen wollen, in der er selbst noch ruhte. Im Büro und im Labor seien keine fremden Arbeitskräfte tätig gewesen, und diese Räume seien nicht von Kunden benutzt worden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Ihr Ehemann habe im Zeitpunkt des Unfallgeschehens, sich auf dem Weg zum Büro befindend, noch nicht den direkten Weg in die Privatwohnung angetreten gehabt. Die beabsichtigte übliche Hinterlegung der Schlüssel für die Geschäftsräume sei eine im Gewerbe nicht selten vorkommende Verhaltensweise. Ähnlich der in größeren Betrieben üblichen Praxis, nach Geschäftsschluß die Schlüssel der Räume an einem hierfür vorgesehenen Platz zu deponieren, damit anderntags rechtzeitig zu sämtlichen Geschäftsräumen Einlaß gefunden werden könne, sei auch ihr Ehemann verfahren. Das Zurücklegen des Weges von den unteren Betriebsräumen zu den oberen - Büro (Labor) - sei infolgedessen mit der versicherten Tätigkeit ihres Ehemannes noch ursächlich verknüpft und als rechtlich wesentlich anzusehen. Wenn - wie hier - sowohl der Wohnbereich als auch die Betriebsstätte in einem Gebäude untergebracht seien, sei entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts mit dem Antritt des Weges zum Zwecke der Hinterlegung des Schlüssels im Büro noch nicht der persönliche Lebensbereich erreicht gewesen. Analog der Entscheidung des 2. Senats des BSG vom 26. Juni 1970 - 2 RU 126/68 - erfülle auch das Unfallgeschehen vom 7. September 1967 die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für die begehrte Hinterbliebenenentschädigung.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen sowie des Bescheides vom 8. Februar 1968 die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenentschädigung ab Januar 1968 zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Zur Begründung ihres Hilfsantrages trägt die Klägerin vor, die vom LSG - von dessen Rechtsstandpunkt aus zu Recht - unterlassene Prüfung des Kausalzusammenhangs zwischen Unfall und Tod müsse das LSG nachholen, falls das BSG den Versicherungsschutz bejahe.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung hat das LSG richtig entschieden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision hatte keinen Erfolg.
Die Berufung der Klägerin ist allerdings entgegen der Auffassung des LSG nicht zulässig, soweit sie das Sterbegeld (§ 589 Abs. 1 Nr. der Reichsversicherungsordnung - RVO -, § 144 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und die Überbrückungshilfe (§ 591 RVO, § 144 Abs.1 Nr. 2 SGG) betrifft. In der Sachentscheidung über prozessual selbständige Teile des Entschädigungsanspruchs liegt ein bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu berücksichtigender wesentlicher Verfahrensmangel (vgl. BSG 2 225, 226 und 245, 246; 3, 234, 235; 15, 65, 67). Das Urteil des LSG war deshalb insoweit zu ändern und die Berufung, soweit sie das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe betrifft, als unzulässig zu verwerfen.
Mit Recht hat das LSG die Voraussetzungen eines Witwenrentenanspruchs nicht für gegeben erachtet.
Die Kontrolle der Geschäftsräume daraufhin, ob die Beleuchtung ausgeschaltet war und die Türen abgeschlossen waren, ist der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin als Unternehmer im Einzelhandelsgeschäft zuzurechnen. Diese Tätigkeit war im Unfallzeitpunkt jedoch beendet. Der Ehemann der Klägerin hatte sich in die im ersten Stockwerk desselben Gebäudes befindliche Wohnung begeben und befand sich in dem Gang, an dessen Ende die Tür zum Wohnzimmer liegt. Er wollte sich in dem an das Wohnzimmer angrenzenden Schlafzimmer zur Ruhe begeben.
Ob der Ehemann der Klägerin gleichwohl noch unter Unfallversicherungsschutz stand, ist nicht nach § 550 RVO zu beurteilen; für die Anwendung dieser, die Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit betreffenden Vorschrift ist kein Raum, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte - wie hier - innerhalb desselben Gebäudes befinden; dies gilt auch in den Fällen, in denen die beiden Bereiche im Hause räumlich voneinander getrennt sind (vgl. BSG 11, 267; 12, 165). Hier ist vielmehr allein der Versicherungsschutz nach § 548 RVO in Betracht zu ziehen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (aaO; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 480 w, x mit Nachweisen) beginnt bei räumlicher Trennung von Wohnung und Betriebsstätte, die sich in demselben Gebäude befinden, der Versicherungsschutz grundsätzlich erst mit dem Erreichen der Betriebsstätte. Dem entspricht es, daß grundsätzlich mit dem Verlassen der Betriebsstätte der Versicherungsschutz endet. Ein Unternehmer kann auf dem Rückweg von der Betriebsstätte, in der er eine versicherte Tätigkeit verrichtet hat, zu den in demselben Gebäude liegenden Wohnräumen allerdings noch unter Versicherungsschutz stehen, wenn dieser Weg durch andere Räume des Hauses führt, die ausschließlich oder wesentlich mit zu betrieblichen Zwecken benutzt werden (vgl. BSG 11, 267, 270; Brackmann, aaO S. 480 w mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen sind jedoch nach Lage dieses Falles nicht gegeben.
In dem zur Treppe hin abgeschlossenen Wohnteil im ersten Stockwerk des Hauses befinden sich zwar außer den ausschließlich privaten Zwecken dienenden Zimmern auch zwei betrieblich benutzte Räume. Im "Büro" besorgte der Ehemann der Klägerin, und zwar er allein, die im Geschäftsbetrieb anfallenden Schreibarbeiten. Im "Labor" erledigte er - bei gewissen Tätigkeiten von seinem ebenfalls im Hause wohnenden Sohn unterstützt - die Fotoarbeiten. Allein daraus, daß diese Räume an dem zu den Privaträumen führenden Gang liegen, in welchem der Ehemann der Klägerin verunglückt ist, kann nicht schon gefolgert werden, daß dieser innerhalb des Wohnbereichs liegende Gang deshalb nicht zum persönlichen Lebensbereich zu rechnen ist, sondern als eine wesentlich (mit) für betriebliche Zwecke benutzte Räumlichkeit zum Betriebsbereich gehört. Zutreffend hat das LSG in diesem Zusammenhang den Umstand berücksichtigt, daß weder im Büro noch im Labor fremde Arbeitskräfte tätig waren und der Gang auch nicht von Kunden benutzt wurde.
Das LSG hat die Behauptung der Klägerin als richtig unterstellt, daß ihr Ehemann im Unfallzeitpunkt die Schlüssel für die Geschäftsräume bei sich trug und seiner Gepflogenheit entsprechend im Büro ablegen wollte. Dies begründet jedoch, wie das LSG im Ergebnis mit Recht angenommen hat, keinen Versicherungsschutz für den Unfallzeitpunkt. Es kann dahinstehen, ob der Ehemann der Klägerin versichert gewesen wäre, wenn er den Unfall nicht bereits in dem der privaten Sphäre zuzurechnenden Gang, sondern im Büroraum bei dem Ablegen der Schlüssel erlitten hätte. Der Umstand, daß der Ehemann der Klägerin die Schlüssel bei sich trug, die am nächsten Morgen zum Öffnen der Geschäftsräume benötigt wurden, reicht für sich allein nicht aus, die Tätigkeit im Unfallzeitpunkt - den Weg in der Bedeutung des Sichfortbewegens - als so betriebsbezogen anzusehen, daß sie noch oder schon der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden könnte. Diese Wertung des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts steht nicht im Widerspruch zu der Rechtsauffassung, daß der vom Wohnbereich zu dem in demselben Gebäude liegenden Betriebsraum unternommene Weg auch innerhalb des privaten Bereichs versicherungsrechtlich geschützt sein kann, wenn er mit einer betrieblichen Verrichtung verknüpft ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15. Dezember 1959 - 2 RU 60/58 -). Der erkennende Senat hat (aaO) das Transportieren von Waren aus dem Lager zum Geschäftsraum, wo sie zur Deckung des Tagesbedarfs benötigt wurden, als eine unmittelbar den Zwecken des versicherten Unternehmens wesentlich dienende Verrichtung gewertet, die nicht nur einen belanglosen Nebenzweck anläßlich des ohnehin beabsichtigten Weges zur Arbeitsstätte bildete und deshalb den Versicherungsschutz auch für den innerhalb des privaten Wohnbereichs zurückgelegten Weg begründete. Dem ist der vorliegende Fall aus tatsächlichen Gründen nicht gleichzuerachten.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - und auch nach dem Vorbringen der Klägerin - besteht kein Anhalt dafür, daß das Mitführen der Ladenschlüssel oder die Absicht, diese im Büro abzulegen, irgendeinen Einfluß auf den Sturz des Ehemannes der Klägerin oder auf die Art oder das Ausmaß der Verletzungsfolgen gehabt hätte. Eine unmittelbare betriebliche Einwirkung auf den Unfallhergang, die nach der von der Revision angeführten Entscheidung des erkennenden Senats vom 26. Juni 1970 - 2 RU 126/68 - für den Unfallversicherungsschutz bedeutsam sein kann (vgl. auch Urteile des Senats vom 11. November 1971 - 2 RU 133/68 - sowie in BG 1965, 273 und Breithaupt 1969, 755; BSG 11, 265, 269; SozR Nr. 20 zu § 543 RVO aF), hat somit nicht vorgelegen.
Das LSG ist demnach zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß der Weg, auf dem sich der Unfall ereignet hat, mit der versicherten Unternehmertätigkeit des Ehemannes der Klägerin nicht in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang gestanden hat. Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente ist demnach zu Recht verneint worden.
Die Revision war deshalb insoweit als unbegründet zurückzuweisen.
Im Einverständnis mit den Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen