Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhebung der Verjährungseinrede
Leitsatz (redaktionell)
Die Massenverwaltung der Rentenversicherung verlangt die Beschränkung und Konzentration der Sachbearbeitung bei der Aktendurchsicht auf die jeweils zu treffende Entscheidung und die dafür rechtserheblichen besonderen Umstände.
Orientierungssatz
Der Rentenversicherungsträger ist im Rahmen seiner Betreuungspflicht gegenüber dem Versicherten nicht gehalten, das ärztliche Nachuntersuchungsgutachten daraufhin zu prüfen, ob zuschußberechtigte Kinder vorhanden sind. Er braucht dieses Gutachten nur insoweit auszuwerten, als es die gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Versicherten betrifft.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15, § 1324 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Beklagte sich gegenüber dem Begehren der Klägerin auf Nachzahlung des Kinderzuschusses zu ihrer Rente auf Verjährung des Anspruchs berufen darf (§ 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1928 geborene Klägerin ist verheiratet und hat zwei Kinder, die 1952 und 1957 geboren sind. In ihrem Formblattantrag auf Versichertenrente von März 1959 gab sie unter der Rubrik "anspruchsberechtigte Kinder" an, "entfällt"; der Vordruck enthielt die Bemerkung, daß die Anspruchsberechtigung bei Kindern einer versicherten Ehefrau durch den Nachweis, daß sie den Unterhalt der Kinder überwiegend bestritten habe, nachzuweisen sei. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 8. Februar 1960 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Im Oktober 1974 beantragte die Klägerin den Kinderzuschuß für die beiden Kinder. Die Beklagte gewährte ihn mit Bescheid vom 24. Oktober 1974 nur für die Zeit vom 1. Oktober 1970 an; sie wies dafür auf § 29 Abs. 3 RVO hin. Der Widerspruch, mit dem sich die Klägerin gegen die Erhebung der Verjährungseinrede wandte, wurde mit Bescheid vom 23. April 1975 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, den Kinderzuschuß für die Zeit vom 1. Februar 1965 an zu zahlen, und im übrigen die Klage abgewiesen; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 19. Dezember 1975). Es hat darauf abgestellt, daß in dem ärztlichen Nachuntersuchungsgutachten vom November 1964 bei den Angaben der Klägerin von "2 Entbindungen, 1 Fehlgeburt" und "Haushalt von 4 Personen" die Rede sei; dies hätte die Beklagte zu Rückfragen veranlassen müssen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 10. Juni 1976): Die Beklagte sei berechtigt gewesen, die Einrede der Verjährung zu erheben. Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung greife nicht durch. Das Vorhandensein der nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Juli 1963 über die Verfassungswidrigkeit des § 1262 Abs. 5 RVO (BVerfGE 17, 1) zuschußberechtigten Kinder sei der Beklagten nach den Angaben im Rentenantrag nicht bekannt gewesen. Die Beklagte habe nicht gegen eine Mitwirkungs- und Aufklärungspflicht verstoßen. Die Aufklärungspflicht nach § 1324 RVO habe die Beklagte nicht zu Ermittlungen wegen Kindern verpflichtet; es handele sich dabei um die allgemeine Aufklärung der versicherten Bevölkerung und der Rentner. Nach der Entscheidung des BVerfG sei durch Presse und Rundfunk und sonstige Veröffentlichungen mehrfach auf die geänderte Rechtslage hingewiesen worden. Die Beklagte habe sich anhand des Nachuntersuchungsgutachtens vom November 1964 nur mit der Beurteilung der festgestellten Gesundheitsschäden und der Überprüfung, ob die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin fortbestehe, zu befassen gehabt. Auch aus den Rechtsgedanken des neuen Sozialgesetzbuches - SGB - (§ 13), das hier nicht anwendbar sei, ergebe sich keine Aufklärungspflicht der Beklagten. Für eine Beratung oder Auskunft nach §§ 14, 15 SGB müsse eine Anfrage vorliegen. Eine Anfrage habe die Klägerin erst gestellt, als der Anspruch schon für mehrere Jahre verjährt gewesen sei. Auf ihre Unkenntnis könne sie sich nicht berufen. Es sei ein Grundsatz des Verjährungsrechts, daß Unkenntnis vom Bestehen des Anspruchs unbeachtet bleibe (Hinweis auf GS 4/71 in BSGE 34, 1 und das Urteil vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 88/75 = SozR 7610 § 242 Nr. 5). Die Klägerin habe auch keine falsche Auskunft erhalten (Hinweis auf SozR 2200 § 29 Nr. 4).
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO. Die Erhebung der Verjährungseinrede stelle eine unzulässige Rechtsausübung dar. Der Sachbearbeiter der Beklagten hätte im Wissen um die Entscheidung des BVerfG auf das ärztliche Gutachten von November 1964 hin bei der Klägerin rückfragen müssen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Kinderzuschuß für die Zeit vor dem 1. Oktober 1970 zu zahlen. Sie hat die Einrede der Verjährung in ihrem Bescheid vom 24. Oktober 1974 nicht rechtsmißbräuchlich erhoben. Der Bescheid ist daher insoweit nicht rechtswidrig.
Mit § 29 Abs. 3 RVO ist der Anspruch auf Leistungen des Versicherungsträgers ausdrücklich der Verjährung unterworfen. Deshalb ist ein Versicherungsträger grundsätzlich befugt, von dem Recht, die Einrede der Verjährung zu erheben, Gebrauch zu machen.
Abs. 3 des § 29 RVO ist durch Art. II § 4 Nr. 1 SGB - Allgemeiner Teil - vom 11. Dezember 1975 mit Wirkung vom 1. Januar 1976 an gestrichen worden (Art. II § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB - Allgemeiner Teil). Statt dessen gilt nunmehr Art. I § 45 Abs. 2 SGB - Allgemeiner Teil. Nach dieser Vorschrift verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. § 45 SGB - Allgemeiner Teil - gilt nach Art. II § 17 für die vor dem Inkrafttreten des SGB - Allgemeiner Teil - fällig gewordenen, noch nicht verjährten Ansprüche. Der vorliegende Fall ist noch nach § 29 Abs. 3 RVO zu beurteilen; denn die Verjährung des Anspruchs auf den Kinderzuschuß für die Zeit bis Ende September 1970 ist vor Inkrafttreten des SGB - Allgemeiner Teil - eingetreten und von der Beklagten geltend gemacht worden. Abgesehen davon hat sich durch die Aufhebung des Abs. 3 des § 29 RVO und die neue Regelung in § 45 SGB - Allgemeiner Teil -, soweit im vorliegenden Fall das Geltendmachen der Verjährung als solches unter dem Gesichtspunkt des mißbräuchlichen Handelns zu beurteilen ist, nichts Entscheidendes geändert.
Einzelansprüche aus einem Stammrecht, wie der Anspruch auf den Kinderzuschuß als Teil der monatlichen Versicherungsrente, verjähren nach § 29 Abs. 3 RVO in vier Jahren nach ihrer Fälligkeit. Die Verjährung berührt das Bestehen des Anspruches nicht. Deshalb stellt die Bewirkung einer verjährten Leistung nicht die Gewährung einer nicht geschuldeten Leistung dar, wozu der Versicherungsträger gesetzlich nicht ermächtigt wäre. Es liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob er die Verjährungseinrede erhebt (BSG 34, 124, 127). Die Geltendmachung der Verjährungseinrede steht wie auch sonst die Ausübung von Rechten unter dem Grundsatz von Treu und Glauben. Danach kann - je nach den Umständen des Einzelfalles - in der Erhebung der Verjährungseinrede eine unzulässige Rechtsausübung liegen (vgl. zu diesen Fragen insbesondere GS 4/71 vom 21. Dezember 1971 in BSG 34, 1 = SozR Nr. 24 zu § 29 RVO, das Urteil vom 23. März 1972 in BSGE 34, 124 = SozR Nr. 25 zu § 29 RVO sowie die Entscheidungen vom 23. Oktober 1975 in SozR 2200 § 29 Nr. 4 und vom 28. September 1976 - 3 RK 97/75 und 3 RK 7/76). Die Verjährungseinrede kann gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn der Versicherungsträger eigene Pflichten verletzt hat und der Versicherte dadurch von der rechtzeitigen Geltendmachung seiner Ansprüche abgehalten wurde. Dies kann der Fall sein, wenn der Versicherte infolge einer unrichtigen oder unvollständigen Auskunft des Versicherungsträgers, die nicht etwa durch sein eigenes fahrlässiges Verhalten mitverursacht wurde, die rechtzeitige Geltendmachung seines Anspruchs unterlassen hat. Dabei können jedoch nur vom Versicherten erbetene individuelle Auskünfte berücksichtigt werden. Aus der allgemeinen Pflicht zur Information der Bevölkerung nach § 1324 RVO, jetzt § 13 SGB - Allgemeiner Teil -, kann der einzelne Versicherte keine Rechte für sich herleiten, wenn er meint, die allgemeine Information sei nicht ausreichend gewesen (vgl. die oben angeführte Entscheidung 3 RK 7/76, ferner auch die Entscheidung vom 15. Juni 1976 - 11 RA 80/75). Das LSG hat demnach im Ergebnis zu Recht ausgeführt, daß die Klägerin die Verjährungseinrede nicht unter Berufung auf eine allgemeine Informationspflicht der Beklagten anläßlich der Nichtigerklärung des § 1262 Abs. 5 RVO durch das BVerfG als rechtsmißbräuchlich ansehen kann.
Eine individuelle Auskunft hat die Klägerin nach den Feststellungen des LSG von der Beklagten nicht erbeten. Die Erhebung der Verjährungseinrede kann deshalb nicht unter dem Gesichtspunkt einer unrichtigen oder unvollständigen individuellen Auskunft rechtsmißbräuchlich sein.
Zu Recht hat das LSG auch entschieden, daß die Beklagte keine Pflichten gegenüber der Klägerin verletzt hat, indem sie bei der Auswertung des Nachuntersuchungsgutachtens vom November 1964 die Eintragung "2 Kinder", "Haushalt von 4 Personen" in dem Abschnitt des Gutachtens "Angaben des Untersuchten" nicht beachtet und nicht weiter geprüft hat, ob kinderzuschußberechtigte Kinder vorhanden seien. Für die Beklagte waren lediglich die Befunde und deren medizinische Beurteilung durch den Gutachter von Bedeutung; denn die Nachuntersuchung diente nur dem Zweck festzustellen, ob die Klägerin noch erwerbsunfähig sei. Dabei kam es nicht auf die genannten "Angaben des Untersuchten" an. Die Massenverwaltung der Rentenversicherung verlangt die Beschränkung und Konzentration der Sachbearbeitung bei der Aktendurchsicht auf die jeweils zu treffende Entscheidung und die dafür rechtserheblichen besonderen Umstände (vgl. auch die Entscheidung vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 88/75 = SozR 7610 § 242 Nr. 5 zum Umfang der Beratungspflicht beim Rentenfeststellungsverfahren).
Andere Umstände, die die Erhebung der Verjährungseinrede als rechtsmißbräuchlich erscheinen ließen, sind nicht festgestellt. Eine besondere Härte, die den Versicherungsträger veranlassen müßte, von der Verjährungseinrede abzusehen, kann nach der Entscheidung vom 23. Oktober 1975 in SozR 2200 § 29 Nr. 4 etwa angenommen werden, wenn durch die Erhebung der Verjährungseinrede beim Betroffenen ein wirtschaftlicher Notstand ausgelöst würde. Auf die besonderen Umstände, wann dies der Fall sein könnte, braucht hier nicht eingegangen zu werden; denn durch die Erhebung der Verjährungseinrede ist kein wirtschaftlicher Notstand der Klägerin herbeigeführt worden. Sie lebt im Haushalt mit ihrem verdienenden Ehemann und das Armenrecht konnte ihr im Hinblick auf dessen Einkommen nicht gewährt werden.
Nach alledem ist die Entscheidung des LSG rechtmäßig. Die Revision der Klägerin ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen