Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob die Spionagetätigkeit eines kriegsgefangenen jugoslawischen Offiziers für Zwecke der Wehrmacht im Jahre 1944 ein militärähnlicher Dienst (BVG § 3 Abs 1 Buchst b) war.
Normenkette
BVG § 3 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Januar 1974 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin, die jugoslawische Staatsangehörige ist und sich seit 1971 im Bundesgebiet aufhält, beantragte im Mai 1971 Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ihr Ehemann, der 1904 geborene Pavle M (P. M.), wurde nach einer Bescheinigung des Kriegs/Militärgerichts Belgrad am 5. Januar 1945 zum Tode durch Erschießen wegen Spionage nach § 14 der Verordnung über Kriegs/Militärgerichte verurteilt, bestätigt am 10. Januar 1945 durch das Oberste Kriegs/Militärgericht, und am 15. Januar 1945 dem Vollstreckungsorgan übergeben. Die Klägerin gab zu ihrem Antrag an: Ihr Ehemann, ein Jugoslawe serbischer Nationalität, sei als Leutnant der jugoslawischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, dreieinhalb Jahre lang in einem Gefangenenlager in O gewesen und 1944, als noch die deutsche Wehrmacht B besetzt gehalten habe - sie glaube im November -, mit anderen Offizieren aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause entlassen worden. Nach der Heimkehr habe er im Geschäft seiner Eltern gearbeitet. 1945 sei er verhaftet, wegen Spionage für den Abwehrdienst der deutschen Wehrmacht zum Tode verurteilt und erschossen worden. Er habe sich gegenüber seiner Ehefrau nicht über Aufgaben für die Wehrmacht geäußert. Die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft als Gegner des Kommunismus und die Erschießung wegen Agententätigkeit für die Wehrmacht habe sie durch die jugoslawische Presse erfahren. Den Antrag lehnte das Versorgungsamt mit der Begründung ab, durch die Verurteilung wegen Spionage sei nicht bewiesen, daß P. M. ein Agent für eine deutsche Dienststelle gewesen sei, eine solche Agententätigkeit könne auch grundsätzlich nicht als militärähnlicher Dienst im Sinne des BVG angesehen werden (Bescheid vom 9. Juli 1971). Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 30. Juli 1971). Vor dem Sozialgericht (SG) erklärte die Klägerin: Ihr Ehemann habe, wie sie nach der Verurteilung von ehemaligen Kriegskameraden erfahren habe, in der Gefangenschaft mit den Deutschen zusammengearbeitet und besondere Vergünstigungen genossen; er sei vier bis fünf Monate vor der Befreiung Belgrads nach Hause gekommen, Die Klage wurde abgewiesen (Urteil vom 4. Juli 1972). Mit der Berufung regte die Klägerin an, den ehemaligen Kommandanten des O Lagers zu ermitteln, um eine noch lebende Person aus der Gruppe, zu der ihr Ehemann gehört habe, ausfindig zu machen. Von einem ehemaligen Mitgefangenen, dessen Anschrift sich feststellen lasse, habe sie in B erfahren, daß ein in oder bei Aachen wohnender Dr. R (oder ähnlich) für das O Lager von Bedeutung gewesen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen, weil die Voraussetzungen für eine Versorgung nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. den §§ 38, 1 und 3 Abs. 1 Buchst b BVG nicht erwiesen seien (Urteil vom 16. Januar 1974). Spionage auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht gelte als militärähnlicher Dienst, wenn sie unentgeltlich, nicht freiwillig und nicht in einem Zivildienst aufgrund einer Dienstverpflichtung oder eines Arbeitsvertrages bei der Wehrmacht ausgeübt worden sei. Für eine solche Spionagetätigkeit seien keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich. Der Begriff "Spionage" habe nach 1945, besonders in den Ostblockländern, alle gegen ein Land gerichteten Handlungen umfaßt, auch eine Zusammenarbeit mit den Deutschen gegen den Kommunismus in Jugoslawien und auf eigener Initiative beruhende Aktionen.
Der Klägerin ist auf ihren Antrag das Armenrecht bewilligt worden. Der ihr beigeordnete Prozeßbevollmächtigte hat binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Die Revision rügt eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Klägerin habe in ihren Schriftsätzen vom 18. April und vom 7. Mai 1973 genügend Anhaltspunkte für eine Ermittlung über die Tätigkeit geboten, die ihr Ehemann für die deutsche Wehrmacht verrichtet haben soll, die als unentgeltlicher Dienst auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Wehrmachtszwecke hätte geleistet worden sein können und die unter den Begriff der "Spionage", den Verurteilungsgrund, fallen könne. Insbesondere hätte der ehemalige Lagerkommandant ermittelt werden müssen, der am ehesten etwas über die Tätigkeit des Verstorbenen für die Wehrmacht wissen oder andere Personen, die darüber unterrichtet seien, benennen könne. Außerdem hätte der ehemalige Mitgefangene, den die Klägerin in B ausfindig gemacht habe, befragt werden müssen. Falls ihm nichts über die Tätigkeit des P. M. für die Wehrmacht bekannt sei, wisse er vielleicht Namen von Wehrmachtsangehörigen, die mit dem Verstorbenen Kontakt gehabt hätten. Eine Zusammenarbeit mit der Wehrmacht sei wegen der Entlassung aus Kriegsgefangenschaft, wegen der wohlwollenden Gesinnung vieler Serben gegenüber dem Deutschen Reich und wegen der Verurteilung wahrscheinlich. Dafür sprächen verschiedene Stellen in dem Buch "Das Ende auf dem Balkan 1944/45" von Karl Hnilicka.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den zuletzt in erster Instanz gestellten Anträgen zu erkennen, wegen Versäumens der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Mit der Revisionsbegründung beantragt sie hilfsweise,
den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Klägerin war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§§ 67, 164 Abs. 1 SGG; BSG 9, 207); sie war vor der Beiordnung eines beim Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten infolge Armut außerstande, einen solchen zu beauftragen, um das Rechtsmittel fristgerecht einzulegen. Die Revision ist auch begründet; die Klägerin hat einen Verfahrensmangel erfolgreich gerügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31.12.1974 geltenden Fassung vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 30.7.1974 - BGBl I S. 1625 -; BSG 1, 150); deshalb ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG), verletzt. Nach seiner sachlich-rechtlichen Auffassung, die für die Entscheidung über eine Verfahrensrüge maßgebend ist (BSG 2, 84, 87; SozR Nr. 40 zu § 103 SGG), ist der Versorgungsanspruch der Klägerin von einer Schädigung im ursächlichen Zusammenhang mit einem militärähnlichen Dienst ihres Ehemannes für eine deutsche Organisation abhängig, und zwar mit einem Dienst auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht. Im Gegensatz zur Behauptung des LSG drängten sich Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Anspruchsvoraussetzung auf. Das Berufungsgericht hat aber die von der Klägerin aufgezeigten Möglichkeiten zur Aufklärung darüber nicht wahrgenommen und in den Entscheidungsgründen auch nicht dargelegt, warum es eine solche Beweiserhebung nicht für geboten hielt. Wohl mag - nach der Auffassung des LSG, die die Klägerin nicht beanstandet - nicht allein die Verurteilung wegen "Spionage" durch ein jugoslawisches Kriegs/Militärgericht zwingend auf eine versorgungsrechtlich geschützte Tätigkeit der genannten Art für die deutsche Wehrmacht (§ 3 Abs. 1 Buchst. b BVG) schließen lassen. Jedoch hätte die von der Klägerin vorgeschlagene Aufklärung einen Tatbestand ergeben können, der die vom LSG festgestellten sachlich-rechtlichen Anforderungen erfüllte: die Merkmale eines unentgeltlichen, nicht als Zivildienst geleisteten Agenten- oder Spionagedienstes auf Befehl eines militärischen Befehlshabers der Wehrmacht, dem sich der Ehemann der Klägerin nicht oder nur unter erheblichen persönlichen Nachteilen entziehen konnte. Vor allem hätte das LSG unter Mitwirkung der Klägerin den ehemaligen Mitgefangenen, den sie in Berlin getroffen hatte, ermitteln und befragen müssen, ob er Näheres über eine solche Tätigkeit für die Wehrmacht weiß oder ob ihm Personen bekannt sind, von denen eine sachdienliche Aufklärung darüber erwartet werden kann. Insbesondere hätte der namentlich, wenn auch nicht genau - mit Anschrift - benannte Dr. R auf diese Weise oder über Anfragen bei Behörden (z. B. Meldeamt der Stadt A, Deutsche Dienststelle, Bundesarchiv - Militärarchiv -, Stadtverwaltung O) ausfindig gemacht werden müssen. Außerdem wäre der ehemalige Kommandant des Kriegsgefangenenlagers O auf diesem Weg zu suchen gewesen. Nachforschungen nach ihm mußten sich im übrigen schon ohne die Hinweise der Klägerin aufdrängen. Möglicherweise kann jemand, der P. M. oder die mit ihm aus dem Kriegsgefangenenlager entlassenen oder "beurlaubten" jugoslawischen Offiziere kannte, selbst wenn er nichts Genaues über Spionageaufträge weiß, Näheres über ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Wehrmachtsdienststellen bekunden und damit Hinweise geben, die auf eine Spionagetätigkeit oder eine sonstige unter § 3 Abs. 1 Buchst. b und § 7 Abs. 1 Nr. 3 BVG fallende Dienstleistung schließen lassen. Sachdienliches könnten allgemein vielleicht ehemalige jugoslawische Offiziere aussagen, die in deutscher Kriegsgefangenschaft waren und heute außerhalb des Ostblocks leben; sie ließen sich evtl. über Jugoslawien ausfindig machen, die in der Vergangenheit Versorgungsansprüche nach dem BVG geltend gemacht haben (vgl. die Streitsachen 9/11 RV 732/63 in BSG 21, 266 = SozR Nr. 5 zu § 7 BVG; 10 RV 909/65 in BVBl 1968, 27; 8 RV 161/65 zum Urteil des LSG NRW in Breithaupt 1965, 759) und noch heute organisiert sein könnten, aber jedenfalls Verbindung untereinander zu haben scheinen. Besonders wichtige Zeugen wären ehemalige Wehrmachtsangehörige, die Aufträge zur Spionage oder zu ähnlichen Zwecken an ehemalige jugoslawische Offiziere zu erteilen hatten; sie wären durch Abwehrstellen der Bundeswehr, durch General a. D. C sowie anhand von Militärarchivunterlagen über die Abteilung "Fremde Heere Ost" und über das Amt für Kriegsgefangenenwesen des Oberkommandos der Wehrmacht zu ermitteln.
Ungeachtet der verworrenen politischen und militärischen Verhältnisse im Mehrvölkerstaat Jugoslawien während des Zweiten Weltkrieges (vgl. z. B. Snell in: Hillgruber (Herausgeber), Probleme des Zweiten Weltkrieges, 1967, S. 312, 325 ff; Karl Hnilicka, Das Ende auf dem Balkan 1944/45, 1970; Matl in : Osteuropa-Handbuch - Jugoslawien -, hgb. von Werner Markert, 1954, 105 ff), könnten einzelne ehemalige Offiziere serbischer Nationalität, die 1944 aus der Kriegsgefangenschaft in ihre Heimat geschickt wurden, mit der deutschen Wehrmacht bis zur Räumung des Landes, z. B. B Mitte Oktober 1944 (Hnilicka, aaO, S. 76 ff), in einer Weise zusammengearbeitet haben, die als militärähnlicher Dienst für die deutsche Wehrmacht zu werten wäre (vgl. zum Frontdienst von Serben: Hnilicka, aaO, S. 224). So bezeichnete sich auch der serbische Ministerpräsident N als "beurlaubter Kriegsgefangener" (vgl. Hnilicka, aaO, S. 47). Ergänzende Aufschlüsse könnten aus der eventuell zu beschaffenden Pressemeldung, durch die die Klägerin den Grund der Verurteilung ihres Ehemannes erfahren hat, und aus dem Text der Vorschrift, auf der das Todesurteil beruhte, zu gewinnen sein.
Für eine abschließende Entscheidung durch den Senat fehlen die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen, weshalb die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Sachlich-rechtliche Maßstäbe lassen sich für die Entscheidung des LSG mit Verbindlichkeit (§ 170 Abs. 5 SGG) noch nicht abschließend festlegen, bevor der Sachverhalt im Rahmen des Möglichen festgestellt ist. Folgende Rechtsauffassung wird das LSG bei der Sachaufklärung und bei der Entscheidung als maßgeblich beachten müssen: Wohl ist nicht jede Aktion gegen die jugoslawischen Kommunisten, die späteren Machthaber des Landes, die ehemalige Offiziere serbischer Nationalität in lockerer Zusammenarbeit mit der deutschen Wehrmacht oder nur in deren Interesse unternahmen, als militärähnlicher Dienst für eine deutsche Organisation (§ 7 Abs. 1 Nr. 3, § 3 Abs. 1 Buchstb. b BVG) zu werten. Auch gilt nach § 3 Abs. 2 BVG als solcher Dienst nicht ein Zivildienst aufgrund einer Dienstverpflichtung oder eines Arbeitsvertrages, d. h. in einem unmittelbaren Vertrags- oder Dienstverhältnis zur Wehrmacht (BSG, BVBl 1962, 21 Nr. 5; Breithaupt 1967, 767, 770), es sei denn, daß dieser Dienst mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit (BSG 9, 229) verbunden war. Aber eine Spionagetätigkeit für die deutsche Wehrmacht kann nicht schlechthin deshalb, weil sie "freiwillig" geleistet wurde, vom versorgungsrechtlichen Schutz ausgeschlossen werden; nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 3 Abs. 1 Buchst. b BVG kann ein solcher Dienst auch "freiwillig" ausgeübt worden sein (vgl. BSG SozR Nr. 15 zu § 3 BVG = BVBl 1960, 43). Ein hinreichender Grund dafür, daß dies für Spionage oder ähnliche Aktionen von Ausländern für die Wehrmacht nicht gelten kann, ist nicht ersichtlich. Im Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit vom 17. Mai 1955 (abgedruckt in: Schönleiter, Handbuch der Bundesversorgung, zu § 3 BVG, S. 16) fehlt jede Begründung für die entgegenstehende, den dort erörterten Fall gar nicht betreffende Auffassung, auf die sich das LSG bezieht. Gerade ein Kriegsgefangener, der in einem besonderen Gewaltverhältnis zur Wehrmacht stand, könnte einen militärähnlichen Dienst im Sinne der genannten Vorschrift auch dann geleistet haben, wenn er "freiwillig" einen Auftrag einer militärischen Dienststelle übernahm, um z. B. gewisse Freiheiten und materielle Vergünstigungen gegenüber dem Lagerleben auf diesem Weg zu erreichen. Auch sind Geldzuwendungen, die er für die Ausführung eines solchen Auftrages benötigte, nicht ohne weiteres als ein Entgelt zu werten, das zwingend auf ein ziviles Dienstverhältnis im Sinne des § 3 Abs. 2 BVG schließen ließe. In jedem Fall hätte die Dienststelle oder der Befehlshaber, von der oder dem der Auftrag stammte, der militärischen Führung befehlsmäßig unterstellt gewesen sein müssen (BSG, Breithaupt 1967, 767, 770; ferner Urteile vom 2.2.1966 - 8 RV 857/64 - und vom 24.6.1971 - 8 RV 13/71 -).
Ein Versorgungsschutz nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG kommt hier nicht in Betracht, da er von § 7 Abs. 1 Nr. 3 BVG nicht erfaßt wird.
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen