Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Der im Jahr 1909 geborene Kläger, der bis 1958 in (Ost-) Berlin wohnte, wurde im Jahr 1952 vom Landgericht (Ost-) Berlin "wegen Verstoßes gegen die als Transport- und Frachtführer auferlegte Verpflichtung der genauesten Einhaltung der Inhaltsangaben der Warenbegleitscheine" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; er war angeklagt worden, als Kraftfahrer eines Ostberliner Betriebes Holz-, Chemikalien- und Kohlentransporte illegal nach Westberlin überführt zu haben. Der Kläger verbüßte einen Teil der Strafe in der Zeit vom 6. April 1951 bis zum 8. Uni 1952.
Nach der Übersiedlung in das Bundesgebiet wurde der Kläger als Sowjetzonenflüchtling anerkannt. Der Generalstaatsanwalt in Frankfurt (Main) stellte im Jahr 1961 fest, daß die Vollstreckung der Strafe unzulässig sei. Der Regierungspräsident in Wiesbaden lehnte im Jahr 1962 den Antrag des Klägers auf Ausstellung einer Bescheinigung gem. § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes (HHG) ab, weil der Kläger nicht zu den Berechtigten nach § 1 Abs. 1 HHG gehöre, da seine Inhaftierung wegen Verstoßes gegen die geltenden Bewirtschaftungsbestimmungen erfolgt sei, nicht aber politische Ursachen gehabt habe.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 4. Februar 1974 Altersruhegeld, lehnte aber die Anrechnung der Haftzeit als Ersatzzeit ab. Der Bescheid wurde bindend. Im Januar 1976 beantragte der Kläger die Anrechnung der Ersatzzeit und die Neufeststellung des Altersruhegeldes. Das lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Februar 1976 ab. Auf die Klage des Klägers hin hat das Sozialgericht Wiesbaden mit Urteil vom 28. Oktober 1976 den Bescheid vom 4. Februar 1974 abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Ersatzzeit anzuerkennen und ein höheres Altersruhegeld zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 19. Oktober 1978 das Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Der Kläger habe sich nicht aus politischen Gründen in Gewahrsam befunden. Nur derjenige Gewahrsam sei politisch, der dem im Herrschaftsgebiet bestehenden eigenen Herrschaftssystem zuzurechnen sei. Der Kläger habe gegen eine typische Wirtschaftsstrafbestimmung verstoßen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 1 HHG. Er führt aus: Das in Ostberlin durchgeführte Strafverfahren habe eindeutig politischen Charakter gehabt. Die Höhe der Strafe habe in krassem Mißverhältnis zu seinem, des Klägers, Tatbeitrag gestanden. Es widerspreche auch der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit, wenn einerseits die Vollstreckung aus dem Urteil wegen seines politischen Gehalts für unzulässig erklärt, andererseits aber dem Urteil trotz seiner politischen Tendenz sozialversicherungsrechtliche Wirkung abgesprochen werde.
Er beantragt,das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Wiesbaden vom 28. Oktober 1976 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Anrechnung der Haftzeit als Ersatzzeit abgelehnt.
Der Anspruch des Klägers kann nach Lage der Sache nur auf § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) gestützt werden. Nach dieser Vorschrift werden für die Erfüllung der Wartezeit - und nach § 1255a auch für die Rentenhöhe - als Ersatzzeit angerechnet Zeiten des Gewahrsams bei Personen i.S.d. § 1 HHG.
Nach § 1 Abs.1 Nr. 1 HHG erhalten Leistungen nach dem HHG u.a. diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die nach dem 8. Mai 1945 im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurden.
Das LSG hat den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 1976 - unabhängig von der Frage, ob es sich um einen Bescheid nach § 1300 RVO oder um einen gegenständlich beschränkten Zweitbescheid handelt - schon deshalb als rechtmäßig angesehen, weil der Kläger nicht aus politischen Gründen in Gewahrsam genommen worden ist. Das ist nicht zu beanstanden.
Was politische Gründe sind, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Das Bundesverwaltungsgericht führt dazu in ständiger Rechtsprechung (zuletzt in den Urteilen vom 22. Juni 1977 - VIII C 3.76 und VIII C 4/76 - BVerwGE 54, 101 = Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr. 17; ähnlich im Urteil vom 28. Juni 1978 - 8 C 65.77 Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr. 22) aus: Politische Gründe seien zu verstehen als die durch die politischen Verhältnisse in den Gewahrsamsgebieten bedingten Gründe, Ursachen und Formen des Freiheitsentzuges. Prüfungsmaterial dafür seien nicht allein der Festnahmegrund, sondern auch die Zeit und Dauer des Gewahrsams. Aber erst die Rechtsstaatswidrigkeit mache den politisch motivierten Gewahrsam zum politischen Gewahrsam i.S.d. HHG. Gewahrsam, der in ähnlicher Weise auch nach rechtsstaatlichen Grundsätzen hätte erlitten werden müssen, sei unabhängig von seinem Grund i.S.d. HHG nicht politisch. Der Begriff des Politischen i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 sei daher nicht allein nach den das Herrschaftssystem im Gewahrsamsgebiet prägenden ideologischen Motiven zu beurteilen, sondern unabhängig davon nach seiner, an rechtsstaatlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit und Toleranz gemessenen Vertretbarkeit. Dieser Rechtsauffassung, gegen die in Rechtsprechung und Literatur offenbar keine Bedenken erhoben worden sind, schließt sich der Senat an.
Das LSG hat den Rechtsbegriff Politische Gründe in diesem Sinn ausgelegt. Die Revision wendet sich nicht eigentlich gegen diese Auslegung. Sie beanstandet vielmehr, daß das LSG den "eindeutig politischen Charakter" des Ostberliner Strafverfahrens nicht erkannt habe. Da sie jedoch die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht mit Revisionsrügen angegriffen hat, kann sie infolge der Bindung des Senats (§ 163 SGG) keinen Erfolg haben. Wenn das LSG festgestellt hat, der Kläger sei wegen des Verstoßes gegen eine typische Wirtschaftsstrafbestimmung verurteilt worden, die zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung erlassen worden sei, ihre Erklärung in den geographischen Besonderheiten der DDR, nicht aber in der marxistisch-leninistischen Ideologie finde und in gewissem Sinn dem bundesdeutschen Wirtschaftsstrafgesetz vom 26. Juli 1949 entspreche, so widerspricht das auch nicht den Denkgesetzen.
Schließlich hat das LSG der Frage, ob der Kläger etwa zu Unrecht bestraft worden ist, für die Anrechnung seiner Ersatzzeit zu Recht keine Bedeutung beigemessen. Denn für unschuldig erlittenen, nichtpolitischen Gewahrsam wird keine Ersatzzeit gewährt.
Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen