Leitsatz (redaktionell)
Für die Frage, ob die Berufung nach SGG § 144 ausgeschlossen ist, kommt es auf den Streitgegenstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des SG an. Streitgegenstand ist der prozessuale Anspruch im Sinne des durch den Antrag gekennzeichneten Begehrens auf rechtskräftiger Feststellung einer Rechtsfolge. Unbestimmte Anträge sind durch Auslegung klarzustellen. Zur Auslegung ist der Sachverhalt heranzuziehen.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 26. April 1955 wird aufgehoben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 9. April 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, der seit 1932 an einer Epilepsie leidet, erhielt vom Arbeitsamt (ArbA.) Elmshorn Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Bei mehreren Untersuchungen wurde die Arbeitsfähigkeit bejaht. In einem Gutachten vom 21. Dezember 1949 stellte Dr. S... erstmals fest, der Kläger sei nicht arbeitsfähig, mit der genuinen Epilepsie seien eine starke Veränderung der Persönlichkeit und häufige Anfälle verbunden. Auf Grund dieses Gutachtens wurde die Alfu vom 1. Januar 1950 an eingestellt, aber vom 6. Juni 1950 an auf Antrag wieder bewilligt.
Am 5. März 1951 stellte Medizinalrat Dr. Z... fest, die Persönlichkeit des Klägers sei nur leicht verändert, seine Arbeitsfähigkeit sei durch die nachlassenden und noch seltenen Anfälle nicht wesentlich (um 30 v.H.) beeinträchtigt. Aus den gleichen Gründen bejahte auch Dr. S... in seinem Gutachten vom 27. März 1951 die Arbeitsfähigkeit. Er verneinte sie dagegen wieder in seinem Gutachten vom 20. Januar 1953. Dabei bezog er sich auf eine Mitteilung der Nervenklinik der Universität Kiel, wonach der Kläger wegen seines Leidens seit dem 9. Dezember 1952 nicht mehr arbeitsfähig im Sinne des § 88 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) ist. Auf Grund dieses Gutachtens entzog das ArbA. durch Bescheid vom 21. März 1953 vom 28. März 1953 an die Alfu, die dem Kläger nach der Entlassung aus der Nervenklinik auf Antrag vom 19. Dezember 1952 an für 61 Tage weitergewährt und anschließend für 156 Tage weiterbewilligt worden war; den Einspruch des Klägers vom 28. März 1953 wies der Spruchausschuß des ArbA. am 21. April 1953 zurück.
Am 2. Mai 1953 legte der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt Schleswig ein.
Während dieses Verfahrens beantragte er mehrfach, die Alfu weiterzugewähren. Den ersten Antrag stellte er am 8. Juni 1953. Er gab an, vom 1. Juni bis zum 6. Juni 1953 arbeitsunfähig krank gewesen zu sein, und bestätigte dies durch eine ärztliche Bescheinigung, wonach er vom 2. bis zum 6. Juni 1953 wegen einer Kopfverletzung bettlägerig krank gewesen ist. Über den Antrag wurde wegen des schwebenden Spruchverfahrens nicht entschieden. Nach einer Beschäftigung vom 24. bis zum 30. Juni 1953 und nach einer Krankheit vom 10. August bis zum 14. September 1953 beantragte der Kläger am 17. September 1953 erneut, die Alfu weiterzugewähren. Dieser Antrag wurde durch Bescheid vom 15. November 1953 wegen Arbeitsunfähigkeit abgelehnt. Der Bescheid wurde der Ehefrau mitgeteilt, da der Kläger damals im Landeskrankenhaus Neustadt war. Ihr Schreiben vom 25. November 1953 betrachtete das ArbA. als Einspruch, entschied aber nicht darüber, sondern vermerkte lediglich später in den Akten, er sei durch das Urteil des Sozialgerichts (SG.) vom 9. April 1954 gegenstandslos geworden. Auf den Antrag des Klägers vom 5. Dezember 1953, mit dem er nach der Entlassung aus dem Landeskrankenhaus wiederum Alfu begehrte, erteilte das ArbA. ebenfalls keinen Bescheid.
Am 1. Januar 1954 ging die Berufung als Klage auf das SG. Schleswig über. Der Vorsitzende der zuständigen Kammer wies die Klage am 2. Februar 1954 durch Vorbescheid ab; der Kläger beantragte mündliche Verhandlung. Er begehrte, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und ihm die Unterstützung zu gewähren. Das SG. wies die Klage mit Urteil vom 9. April 1954 ab; es hielt den Kläger nicht für arbeitsfähig nach § 88 Abs. 1 AVAVG.
Mit der Berufung beantragte der Kläger, das Urteil des SG. aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, vom 27. März 1953 bis zum 25. April 1954 Alfu zu gewähren. Er machte geltend, er sei vom Landeskrankenhaus Neustadt als arbeitsfähig entlassen worden, er habe vom 26. April bis 29. Mai 1954 gearbeitet und sich am 31. Mai 1954 arbeitslos gemeldet. Die Beklagte beantragte, die Berufung zurückzuweisen, und bezog sich auf die verschiedenen fachärztlichen Gutachten. Arbeitsfähigkeit könne vom 26. April 1954 an wieder angenommen werden, der Anspruch auf Alfu werde dem Grunde nach von der Arbeitslosmeldung am 31. Mai 1954 an anerkannt. Daraus folgerte der Facharzt Prof. Dr. S... in der Sitzung des Landessozialgerichts (LSG.), da sich das Leiden nicht wesentlich geändert habe, müsse die Arbeitsfähigkeit auch schon vor dem Zeitpunkt bestanden haben, den die Beklagte angenommen habe. Das LSG. hob durch Urteil vom 26. April 1955 das Urteil des SG. auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger über den 27. März 1953 hinaus Alfu zu gewähren, außer der Zeit seines Aufenthalts im Landeskrankenhaus Neustadt. Das SG. habe sich nicht allein auf die medizinischen Befunde und Gutachten stützen dürfen. Die psychische Veränderung verlaufe bei der Epilepsie langsam; werde für eine spätere Zeit die Arbeitsfähigkeit nachgewiesen, so könne sie für die vorhergehende Zeit nicht verneint werden, mindestens nicht wegen psychischer Defekte. Der Kläger habe nicht nur gelegentlich und vorübergehend Arbeit gefunden, danach sei die Veränderung seiner Persönlichkeit nicht so weit fortgeschritten, daß er als arbeitsunfähig anzusehen sei. Die Revision wurde zugelassen.
Das Urteil wurde der Beklagten am 13. Juni 1955 zugestellt; am 12. Juli 1955 legte sie Revision ein. Sie beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG. zurückzuverweisen. Am 8. August 1955 begründete sie die Revision: Psychische Veränderungen durch zunehmende Krampfanfälle könnten wieder abklingen, auch die Arbeitsfähigkeit könne wieder eintreten. Aber nur wenn das LSG. durch neue ärztliche Gutachten eine Besserung festgestellt habe, dürfe es aus späteren Beschäftigungen schließen, daß die Arbeitsfähigkeit vorher schon bestanden habe. Habe es den Kläger grundsätzlich für arbeitsunfähig, aber trotzdem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für "einsatzfähig" gehalten, so habe es die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision, die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen ist, ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Bei einer zulässigen Revision ist vor der sachlich-rechtlichen Würdigung des Streites von Amts wegen zu prüfen, ob die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen, soweit sie unverzichtbar sind, die besonderen Voraussetzungen des vorausgehenden Berufungsverfahrens und die Voraussetzungen für eine entscheidende Tätigkeit des Revisionsgerichts erfüllt sind (BSG. 2 S. 222 [227], 3 S. 124 [126], 4 S. 70 [72] und 281 [284]). Zu den Prozeßvoraussetzungen des Berufungsverfahrens gehört die Zulässigkeit der Berufung. Das LSG. hat sie zu Unrecht bejaht.
Nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen. Zwar ist die für je sechs Wochentage zahlbare Alfu nach § 12 Abs. 1 der hier maßgebenden Verordnung Nr. 117 der (britischen) Militärregierung über die Arbeitslosenfürsorge (Arbeitsblatt für die britische Zone 1948 S. 2) zeitlich unbegrenzt gewährt worden; die Bewilligung für jeweils nur dreizehn Wochen (Nr. 30 Satz 1 des Erlasses des Präsidenten des Zentralamts für Arbeit zur Durchführung der MRVO Nr. 117 vom 22. Dezember 1947 (Erster Durchführungserlaß), Amtsblatt für die britische Zone 1948 S. 4), später für 26 Wochen, hat nicht die gesetzlich unbefristete Bezugsdauer beschränkt, sondern lediglich sicherstellen sollen, daß in diesen Abständen die Voraussetzungen der Bedürftigkeit von neuem nachgewiesen und geprüft werden. Für die Frage, ob die Berufung nach § 144 SGG ausgeschlossen ist, kommt es jedoch auf den Streitgegenstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des SG. an (BSG. 1 S. 126; 2 S. 135 [136] 139). Streitgegenstand ist der prozessuale Anspruch im Sinne des durch den Antrag gekennzeichneten Begehrens auf rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge (Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 88 II 2, S. 403/404). In der letzten mündlichen Verhandlung des SG. hat der Kläger beantragt, die angefochtenen Bescheide - den Entziehungsbescheid vom 21. März 1953 und die Entscheidung des Spruchausschusses vom 21. April 1953 - aufzuheben und ihm die Unterstützung zu gewähren. Er hat neben der Aufhebung der Verwaltungsakte gleichzeitig die Unterstützung in Höhe der entzogenen Alfu verlangt und damit im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG eine Leistung begehrt, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Zwar ist die Dauer der begehrten Alfu dem Antrag nicht zu entnehmen; daraus allein kann aber auch nicht geschlossen werden, daß sie für mehr als dreizehn Wochen beansprucht wird. An die Fassung der Anträge sind die Gerichte nicht gebunden (§ 123 SGG); wie im Zivilprozeßrecht, so sind auch im sozialgerichtlichen Verfahren unbestimmte Anträge durch Auslegung klarzustellen (Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. Anm. III 2 a zu § 253 ZPO). Zur Auslegung ist der Sachverhalt heranzuziehen. Daraus ergibt sich aber, daß die vom 28. März 1953 an entzogene Alfu nur bis Anfang Juni 1953 verlangt werden könnte. Der Kläger hat sich am 8. Juni 1953 arbeitslos gemeldet und beantragt, die Alfu weiterzugewähren; er hat angegeben, er sei vom 1. Juni 1953 bis zum 6. Juni 1953 arbeitsunfähig krank gewesen, und dies durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesen. Ist der Kläger vom 1. Juni 1953 an wegen Krankheit nicht mehr arbeitsfähig im Sinne des § 88 Abs. 1 AVAVG gewesen, so hat er, wenn die Epilepsie seine Arbeitsfähigkeit nicht ausschließt, die Alfu unter Beachtung des § 88 Abs. 2 AVAVG, der auch für die Alfu gilt (Art. III Nr. 3, § 4 der MRVO Nr. 117), bis zum Ablauf der ersten drei Tage der Krankheit weiterbeziehen können, nach dem 3. Juni 1953 jedoch nicht mehr. Daher ist der Antrag des Klägers in der letzten mündlichen Verhandlung des SG. dahin auszulegen, die Beklagte zu verurteilen, die Alfu vom 28. März 1953 bis zum 3. Juni 1953 weiterzuzahlen. Danach betrifft aber die Berufung gegen das Urteil des SG. vom 9. April 1954 einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen von nicht mehr als dreizehn Wochen. Sie ist deshalb nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen.
Die Berufung ist auch nicht nach § 150 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG statthaft. Das SG. hat sie nicht zugelassen. Die Zulassung erfordert eine Entscheidung, die erkennbar zum Ausdruck bringt, daß das SG. eine nach seiner Ansicht unstatthafte Berufung trotzdem zulassen will, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder weil es von einem Urteil des übergeordneten LSG. abweichen will (Urteil des BSG. vom 30.1.1957, SozR. § 150 SGG Bl. Da 6 Nr. 16); der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, daß die Berufung zulässig sei, genügt nicht (BSG. 2 S. 121, 125), zumal wenn, wie hier, die Berufung unzulässig und deshalb irrtümlich über die Zulässigkeit belehrt worden ist (Urteil des BSG. vom 15.5.1956, SozR. § 150 SGG, Bl. Da 3 Nr. 10). Ein wesentlicher Mangel im Verfahren des SG. ist nicht gerügt worden (§ 150 Nr. 2 SGG).
Die Berufung ist auch nicht dadurch statthaft geworden, daß das LSG. die Ansprüche auf Alfu in das Verfahren einbezogen hat, die der Kläger nach der Klageerhebung geltend gemacht hat. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 SGG nach dem Anspruch am Schlusse der letzten mündlichen Verhandlung des SG. zu beurteilen sind. Die Mitteilung, daß über den Antrag vom 8. Juni 1953 wegen des schwebenden Spruchverfahrens nicht entschieden werden könne, ist kein Verwaltungsakt; damit ist nicht ein Einzelfall auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts der Arbeitslosenfürsorge geregelt worden. Soweit später auf Anträge des Klägers Verwaltungsakte erteilt worden sind, sind sie aber nicht nach den §§ 96 Abs. 1, 153, 171 Abs. 2 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden; sie haben nicht den angefochtenen Verwaltungsakt vom 21. März 1953 abgeändert oder ersetzt; es sind vielmehr neue ablehnende Verwaltungsakte, durch welche die nach jeder Unterbrechung wiederholten Anträge, die Alfu jeweils weiterzugewähren, abgelehnt worden sind.
Das LSG. hätte danach nicht in der Sache selbst entscheiden dürfen, sondern die Berufung verwerfen müssen. Das Urteil des LSG. beruht deshalb auf der unrichtigen Anwendung der §§ 144 Abs. 1 Nr. 2, 158 Abs. 1 SGG. Die Revision ist daher begründet, das Urteil des LSG. ist aufzuheben (§ 170 Abs. 1 SGG). Gleichzeitig ist die nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthafte Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen