Leitsatz (amtlich)
Zur Bedeutung des Antrags für den Beginn des Ruhegeldes in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Normenkette
RVO § 1286 Fassung: 1952-11-13, § 1290 Fassung: 1957-02-23; AVG § 67 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. August 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Für den Versicherten L E (E.), geboren ... 1897, wurden in den Jahren 1914 bis 1924 47 Monatsbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet, in der gleichen Zeit waren außerdem 30 Monate Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit. Die letzten Beiträge entrichtete der Versicherte für das Kalenderjahr 1924. Am 20. Juli 1956 beantragte er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 3. Oktober 1956 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, weil die Anwartschaft erloschen und deshalb die Wartezeit nicht erfüllt sei.
Hiergegen erhob E. Klage beim Sozialgericht (SG) München. Mit Bescheid vom 28. Januar 1957 gewährte die Beklagte E. die Rente ab 1. August 1956. In einem Vermerk gab der beratende Arzt der Beklagten an, E. sei seit 1946 berufsunfähig. E. beantragte nunmehr, die Beklagte zu verurteilen, ihm die Rente spätestens ab 7. September 1949 zu gewähren. Er machte geltend, sein Rentenanspruch stütze sich ausschließlich auf Art. 19 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung (1. VereinfVO) vom 17. März 1945; da diese VO in Bayern als nicht rechtswirksam bzw. als nicht in Kraft getreten angesehen worden sei, habe er seinerzeit von einem Rentenantrag abgesehen; erst das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Juli 1956, BSG 3, 161, in dem ausgesprochen sei, die Anwartschaftsvorschrift des Art. 19 der VO vom 17. März 1945 sei spätestens am 7. September 1949 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden, habe ihn veranlaßt, den Antrag zu stellen; dies dürfe ihm nicht zum Nachteil gereichen.
E. starb am 1. Juli 1958. Die Klägerin, seine Ehefrau, setzte als Rechtsnachfolgerin nach § 65 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) das Verfahren fort. Mit Urteil vom 11. September 1959 wies das SG München die Klage ab. Die zugelassene Berufung der Klägerin wies das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 7. August 1962 zurück: E. habe den Rentenantrag erst am 20. Juli 1956 gestellt; die Rente beginne daher nach § 1286 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF erst mit dem 1. August 1956, obgleich die sonstigen Voraussetzungen für den Rentenanspruch nach der 1. VereinfVO vom 17. März 1945 schon früher vorgelegen hätten. Es sei zwar glaubhaft, daß E. den Rentenantrag zunächst nur deshalb nicht gestellt habe, weil vor dem Urteil des BSG vom 11. Juli 1956 nach der Praxis der Versicherungsträger und der Rechtsprechung des damaligen Bayerischen Landesversicherungsamts die VO vom 17. März 1945 als in Bayern nicht in Kraft getreten angesehen worden sei; da der Antrag nach § 1286 RVO aF jedoch materiell-rechtliche Bedeutung habe, könne der Beginn der Rente nicht "vorverlegt" werden. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil des LSG wurde der Klägerin am 27. September 1962 zugestellt.
Die Klägerin legte am 6. Oktober 1962 Revision ein. Sie beantragte,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Rente ihres verstorbenen Ehemanns wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Oktober 1949 bis zum 31. Juli 1956 zu gewähren.
Die Klägerin begründete die Revision am 27. Oktober 1962: Das LSG habe § 1286 Abs. 1 RVO aF verletzt. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch in § 1304 a RVO aF zum Ausdruck komme, dürfe dem Versicherten durch die unrichtige bayerische Verwaltungspraxis kein Nachteil erwachsen; der Ablauf der Antragsfrist sei durch die erst später als falsch erkannte Verwaltungspraxis und Rechtsprechung gehemmt worden; erst mit der grundsätzlichen und abschließenden Klärung der Streitfrage über die zeitliche Geltung der VO vom 17. März 1945 durch das Urteil des BSG vom 11. Juli 1956 habe die Antragsfrist des § 1286 Abs. 1 RVO aF zu laufen begonnen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Versicherten nach § 1286 Abs. 1 RVO aF für die streitige Zeit vom 1. Oktober 1949 bis 31. Juli 1956 keine Rente wegen Berufsunfähigkeit zugestanden hat, weil er den Rentenantrag erst am 20. Juli 1956 gestellt hat. Nach § 1286 Abs. 1 RVO aF beginnt die Rente mit dem Ablauf des Kalendermonats, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind; wird sie jedoch nach dem Ende des folgenden Kalendermonats beantragt, so beginnt sie erst mit dem Ablauf des Antragsmonats. Nach dieser Vorschrift ist also der Beginn der Rente von dem Zeitpunkt abhängig, in dem der Antrag gestellt ist; der Antrag ist ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, das für den Beginn der Rente erheblich ist; sind die sonstigen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente erfüllt, ist weitere Voraussetzung für den Beginn der Rente auch noch das Vorliegen des Antrags.
Diese Voraussetzung kann so wenig wie ein anderes gesetzliches Tatbestandsmerkmal als nachträglich erfüllt angesehen werden; der Antrag bezieht sich nicht auf eine verfahrensrechtliche Frist für die Geltendmachung des Anspruchs auf Rente; es kommt deshalb auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hier nicht in Betracht. Ausnahmen von dem Grundsatz des § 1286 Abs. 1 RVO aF sind zwar gesetzlich vorgesehen, so zB für Kriegshinterbliebene nach § 2 des Kriegsfristengesetzes vom 13. November 1952, für Flüchtlinge und Vertriebene nach § 17 Abs. 1 des Fremd- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953, für Verfolgte nach § 5 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 - WiGBl S. 263 -; sie lassen aber nicht den Schluß zu, daß auch in anderen Fällen von der Regel des § 1286 RVO aF abgewichen werden darf. Wird der Antrag erst nach dem Ende des Monats gestellt, der auf den Monat folgt, in dem die Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente erfüllt sind, so kommt es auch nicht darauf an, aus welchen Gründen er nicht früher gestellt worden ist. Zwar ist dem Zeitpunkt des Antrags nach § 1 des Bayerischen Gesetzes Nr. 7 vom 27. November 1945 (GVBl 1946 S. 19) und der entsprechenden süddeutschen Ländergesetze keine Bedeutung beigemessen, wenn der Antrag "ohne Verschulden" des Antragstellers nicht früher gestellt worden ist; diese Ländergesetze sind aber bereits durch das Kriegsfristengesetz vom 13. November 1952 (§§ 4, 5) außer Kraft getreten; der Kläger hat auch während ihrer Geltungsdauer keinen Antrag gestellt. Auch durch die Aufhebung dieser Ländergesetze kommt im übrigen zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber - abgesehen von den besonders geregelten Fällen - grundsätzlich keine Ausnahme von der Maßgeblichkeit des Zeitpunktes des Antrags hat zulassen wollen, Etwas anderes ergibt sich jedenfalls für die Anwendung des § 1286 RVO aF auch nicht daraus, daß nunmehr nach § 1546 RVO nF (idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963) eine "Vorverlegung" des Beginns von Leistungen aus der Unfallversicherung möglich ist, wenn "die verspätete Anmeldung durch Verhältnisse begründet ist, die außerhalb des Willens des Antragstellers lagen"; eine entsprechende Vorschrift ist jedenfalls in den Neuregelungsgesetzen der Rentenversicherung nicht enthalten (§ 67 AVG nF, § 1290 RVO nF). Die Auffassung, der Zeitpunkt des Antrags sei für den Beginn der Rente nicht erheblich, wenn der Versicherte an einer früheren Antragstellung "durch Verhältnisse verhindert worden ist, die außerhalb seines Willens lagen", kann auch nicht auf die - aufgehobenen - Vorschriften alten Rechts der Kriegsopferversorgung - KOV - (§ 57 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - aF) und der Unfallversicherung (§ 1547 RVO aF) gestützt werden; diese Vorschriften haben "echte" Ausschlußfristen enthalten, nach deren Ablauf ein Anspruch auf Rente überhaupt nicht mehr hat geltend gemacht werden können; sie haben in erster Linie dem Zweck gedient, den Versicherungsträger wegen der Schwierigkeit der Aufklärung länger zurückliegender Vorgänge vor unbegründeten Ansprüchen zu schützen; wenn in der Rentenversicherung der Antrag später gestellt wird, als dies nach dem Gesetz ohne Nachteil für den Beginn der Rente möglich ist, so führt dies nicht - wie nach dem früheren Recht der KOV und der Unfallversicherung - zum Verlust des "Stammrechts", sondern nur zu einem späteren Beginn der Einzelleistungen aus dem Stammrecht. Die Vorschrift des § 1286 RVO aF hat im wesentlichen "Ordnungscharakter", sie soll der Verwaltung den Überblick über die Leistungen, die sie zu erbringen hat, erleichtern und beruht auf der Erwägung, daß ebenso, wie Unterhalt nicht für die Vergangenheit gefordert werden kann (§ 1613 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -), auch die Rente nicht gewährt wird für eine Zeit, für die sie nicht durch den Antrag geltend gemacht ist. Die Beklagte hat die Rente auch nicht, wie die Klägerin meint, in entsprechender Anwendung der Vorschriften des § 1304 RVO aF (§ 1300 RVO nF, § 79 AVG), § 40 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der KOV (VerwVG) ab 1. Oktober 1949 bewilligen müssen. Diese Vorschriften regeln die Voraussetzungen, unter denen die Verwaltung einen für die Beteiligten in der Sache bindend gewordenen (§ 77 SGG) "Erstbescheid" zurücknehmen und durch einen dem Berechtigten günstigeren "neuen Bescheid" ersetzen darf oder muß. Die Rechtskontrolle der Versicherungsträger und der Versorgungsbehörden durch die Sozialgerichte bringt es nicht selten mit sich, daß eine "Verwaltungspraxis" - später - als unrichtig erkannt wird; wenn sich daraufhin herausstellt, daß die Verwaltung Leistungsanträge zu Unrecht abgelehnt hat, so können allerdings die dadurch Betroffenen unter den Voraussetzungen der §§ 1304 RVO aF, 1300 RVO nF, 79 AVG, 40 Abs. 2 VerwVG die Rücknahme des ihnen erteilten rechtswidrigen "Erstbescheides" und die "Neufeststellung" ihres Anspruchs erreichen. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, daß ein Versicherter, wie der Ehemann der Klägerin, der - vor 1956 - keinen Rentenantrag gestellt und damit eine Entscheidung der Verwaltung über seinen Anspruch überhaupt nicht begehrt hat, wegen der "als unrichtig erkannten Verwaltungspraxis" bei der späteren Antragstellung so zu behandeln ist, als hätte er den Antrag "rechtzeitig" gestellt. Der Rechtsnachteil, der dadurch entstanden ist, daß der Antrag nicht früher gestellt worden ist, trifft hier den Versicherten selbst; die Verwaltung hat dafür nicht "einzustehen". Wenn danach die Versicherten, die ihren auf die VO vom 17. März 1945 gestützten Rentenantrag im Jahre 1949 - trotz der ablehnenden bayerischen Verwaltungspraxis - gestellt haben, besser stehen, als die Versicherten, die keinen Antrag gestellt haben, weil sie sich mit der "ablehnenden Verwaltungspraxis" - in gleichliegenden anderen Fällen - abgefunden haben, so liegt darin keine sachlich ungerechtfertigte unterschiedliche Behandlung; die Rechtsordnung schließt jedenfalls nicht aus, daß derjenige, "der sein Recht sucht" und möglicherweise "erstreitet", demjenigen gegenüber, der sich in gleicher Lage "passiv verhält", Vorteile genießt; dies kann auch nicht als unbillig angesehen werden. Wenn die Beklagte sich in den Fällen der Waisenrente nach der versicherten Ehefrau (§ 44 Abs. 2 AVG) nicht auf "Verspätung des Rentenantrags beruft", falls der Antrag bisher unterblieben ist, weil die Anspruchsvoraussetzung fehlt, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Juli 1963, NJW 1963, 1723 = JZ 1963, 634, für nichtig erklärt hat ("daß die Verstorbene den Unterhalt der Kinder überwiegend bestritten hat"), so kann dahingestellt bleiben, ob sie hierzu verpflichtet ist; sie ist jedenfalls nicht verpflichtet, im vorliegenden Falle "entsprechend zu verfahren"; diese Fälle liegen nicht gleich. Im vorliegenden Falle kann die Unterlassung des Antrags nicht auf den "Vertrauenstatbestand" eines Gesetzes gestützt werden; der Antrag ist vielmehr unterblieben, weil sich der Versicherte auf die Gesetzesanwendung der Verwaltung verlassen hat.
Schließlich verstößt die Beklagte auch nicht gegen Treu und Glauben, wenn sie die "Vorverlegung" des Rentenbeginns ablehnt. § 1286 RVO aF enthält zwingendes materielles Recht, die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind - ebenso wie dies in BSG 14, 246 ff für die Ausschlußfrist des § 58 BVG aF ausgeführt ist - von Amts wegen zu beachten. § 1286 RVO aF läßt auch - anders als das in BSG 14, 246 ff zu § 58 BVG aF dargelegt ist - Ausnahmen dann nicht zu, wenn, abgesehen von dem Antrag, die sonstigen Voraussetzungen für einen früheren Rentenbeginn erfüllt sind. Im vorliegenden Fall haben zwar die Voraussetzungen für das "Stammrecht" jedenfalls vom Beginn der streitigen Zeit an vorgelegen: Der Versicherte ist bereits seit 1946 berufsunfähig gewesen; die Anwartschaft (aus den von dem Versicherten entrichteten bzw. zurückgelegten 77 Beitragsmonaten) ist nach Art. 19 der 1. VereinfVO vom 17. März 1945 (RGBl I 41) erhalten und damit auch die Wartezeit erfüllt gewesen; die 1. VereinfVO vom 17. März 1945 ist, wie das BSG durch Urteil vom 11. Juli 1956, BSG 3, 161, entschieden hat, spätestens am 7. September 1949 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden. Die Beklagte verkennt aber nicht die rechtsethische und soziale Funktion des § 1286 RVO aF, wenn sie die Vorverlegung des Rentenbeginns ablehnt, weil es an einer gesetzlichen Voraussetzung dafür fehlt. Die Funktion des § 1286 RVO aF liegt - wie dargelegt - in ihrem Ordnungscharakter. Dem Versicherten wird vom Gesetz "zugemutet", selbst an der Ordnung seines Versicherungsverhältnisses insoweit mitzuwirken, als er seinen Anspruch "anzumelden" hat. Wenn er dies nicht tut, obwohl er es hat tun können, so muß er zeitlich begrenzte Rechtsnachteile hinnehmen. Die Funktion des § 1286 RVO aF ist eine andere als die des § 58 BVG aF, deshalb können die Grundsätze, nach denen der Große Senat des BSG in BSG 14, 246 ff aus der Funktion dieser Vorschrift Ausnahmen von dem Ausschluß des Stammrechts wegen Fristablaufs hergeleitet hat, hier keine Anwendung finden. Besonders gelagert und aus dem Rechtsgedanken des § 206 BGB zu beurteilen ist möglicherweise nur der Fall, daß für einen geschäftsunfähigen oder einen in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Versicherten, der ohne gesetzlichen Vertreter ist und den Rentenantrag nicht selbst hat stellen können, der Antrag später gestellt wird (vgl. dazu auch RVA, AN 1939 S. VI 208 und die Urteile des BSG vom 23. März 1961, 11 RV 724/59, vom 23. November 1962, 8 RV 769/61, vom 19. Juni 1963, BSG 19, 173 und vom 17. April 1964, 10 RV 931/61); um einen solchen Fall handelt es sich hier aber nicht.
Der Anspruch der Klägerin - als Rechtsnachfolgerin des Versicherten - auf Gewährung der Rente auch für die Zeit vom 1. Oktober 1949 bis zum 31. Juli 1956, ist sonach unter keinem Gesichtspunkt begründet; ihre Revision ist deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen