Entscheidungsstichwort (Thema)
Taubheit. Gehörlosigkeit. Kommunikationsstörung. regelmäßige Verrichtung des täglichen Lebens. Merkzeichen “H”. Kontrolldichte bei den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit
Leitsatz (amtlich)
- Trotz fehlender Ermächtigungsgrundlage unterliegen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit als geschlossenes Beurteilungsgefüge nur eingeschränkter richterlicher Kontrolle.
- Grad der Behinderung und Nachteilsausgleiche sind bei den vor vollständigem Spracherwerb Ertaubten nach den Auswirkungen der hierdurch verursachten Kommunikationsstörung festzulegen.
- Die Kommunikation gehört zu den gewöhnlichen und regelmäßigen Verrichtungen des täglichen Lebens. Solange es keinen speziellen Nachteilsausgleich für Hörsprachgeschädigte gibt, ist ihnen Merkzeichen “H” jedenfalls bis zum Abschluß einer ersten Ausbildung zu belassen.
Normenkette
SchwbG §§ 4, 48; SchwbAwV § 3; EStG § 33b
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.07.1990; Aktenzeichen L 9 Vs 43/90) |
SG Oldenburg (Urteil vom 23.01.1990; Aktenzeichen S 1 Vs 489/88) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Juli 1990 geändert. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. Januar 1990 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungs- und Revisionsverfahren.
Tatbestand
I
Die am 1. Januar 1970 gehörlos geborene Klägerin (rechts Taubheit, links hochgradige an Taubheit grenzende Innenohrschwerhörigkeit im Hauptsprachfrequenzbereich) besuchte bis 1982 die Gehörlosenschule und anschließend bis Juni 1988 noch eine Sonderschule für gehörgeschädigte Kinder, die sie mit dem Realschulabschluß verließ. Sie begann im August 1988 eine Ausbildung zur Zahntechnikerin in einem Dentallabor; das theoretische Wissen sollte in der Rheinisch-Westfälischen Berufsschule für Hörgeschädigte in Essen vermittelt werden. Die Ausbildung mußte nach zwei Monaten wegen unzureichender Kommunikation abgebrochen werden. Die Verständigung am Arbeitsplatz konnte nur durch schriftliche Aufzeichnungen erfolgen, wobei der Klägerin vielfach das Sinnverständnis fehlte.
Bis zum Ende des regulären Schulbesuchs waren bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Nachteilsausgleiche “H”, “G”, “B” und “RF” anerkannt. Nach Anhörung wurden mit Ablauf des 18. Lebensjahres die Nachteilsausgleiche “G”, “B” und “H” entzogen (Bescheid vom 25. Juli 1988 und Widerspruchsbescheid vom 11. November 1988). Hinsichtlich des Nachteilsausgleichs “H” hatte die Klage Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Oldenburg ≪SG≫ vom 23. Januar 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen und sich auf die Anhaltspunkte gestützt, wonach im Anschluß an den Schulbesuch die meisten Verrichtungen von Gehörlosen selbständig und eigenverantwortlich ausgeführt werden könnten, so daß die allgemeinen Voraussetzungen der Hilflosigkeit nicht mehr gegeben seien. Trotz der vom SG festgestellten Kommunikationsstörung werde die Klägerin den geistig-seelischen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, die den existenzerhaltenden Verrichtungen zuzurechnen seien, bis auf gelegentliche Hilfe alleine gerecht. Eine Gleichstellung mit Blinden sei nicht erforderlich, weil Blindheit stärker beeinträchtige als Gehörlosigkeit (Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. Juli 1990).
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin weiterhin geltend, daß sich ihre Taubheit auch auf den Spracherwerb und damit die Kommunikationsfähigkeit auswirke. Die Fähigkeit zur Kommunikation sei Grundvoraussetzung für ein Leben in der Gesellschaft. Die Hilflosigkeit dürfe in diesem Bereich an keine strengeren Anforderungen geknüpft werden als beispielsweise bei Körperpflege und körperlicher Bewegung, die ebenfalls in keinen Zusammenhang mit der Existenzerhaltung gebracht werden könnten. Im übrigen stelle es eine Verletzung des Art 3 Grundgesetz (GG) dar, wenn Gehörlose gegenüber Blinden benachteiligt würden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Juli 1990 zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. Januar 1990 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend, zumal es mit den Anhaltspunkten 1983 in Einklang stehe.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Sachverständige zur Situation der Gehörlosen, insbesondere während Berufsausbildung und Studium und dazu gehört, welche Hilfen zum Ausgleich des Kommunikationsdefizits erforderlich sind.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin ist weiterhin hilflos iS des § 33b Einkommensteuergesetz (≪EStG≫ vom 5. September 1974 ≪BGBl I 2165≫/Neufassung vom 25. Juli 1988 ≪BGBl I S 1093≫); ihr durfte der Nachteilsausgleich “H” nicht entzogen werden; er ist in den Schwerbehindertenausweis aufzunehmen (§ 4 Abs 4 und 1 Schwerbehindertengesetz ≪SchwbG≫ idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986 ≪BGBl I 1421≫; § 3 Abs 1 Nr 2 Ausweisverordnung zum SchwbG ≪SchwbGAwV≫ vom 3. April 1984 ≪BGBl I 509≫/18. Juli 1985 ≪BGBl I 1516≫ jetzt idF der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 ≪BGBl I S 1739≫). Eine Änderung der Verhältnisse wie sie § 48 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) voraussetzt, fehlt. Hilflos ist ein Behinderter, wenn er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl zur Rechtsentwicklung im Einkommensteuerrecht ausführlich: BSGE 67, 204 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Diese Hilfe ist bei den ab Geburt bzw vor vollständigem Spracherwerb Ertaubten infolge des bei ihnen bestehenden Kommunikationsdefizits jedenfalls bis zum Ende einer ersten Berufsausbildung erforderlich.
Das LSG konnte sich für seine Auffassung, daß die Klägerin für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens keiner fremden Hilfe bedarf, auf die Anhaltspunkte 1983 ≪AHP≫ (RdNr 21 Abs 3 und 4 sowie RdNr 22 Abs 4 Buchst d) stützen, wonach bei Gehörlosen Hilflosigkeit nach Beendigung der Gehörlosenschule in aller Regel nicht mehr besteht, weil für die körperbezogenen Verrichtungen wie Aufstehen, Körperpflege, Nahrungszubereitung und -aufnahme sowie für die körperliche Bewegung regelmäßig keine fremde Hilfe mehr erforderlich ist. Der Kommunikationsstörung als Folge der Gehörlosigkeit wird in den AHP keine besondere Bedeutung beigemessen. Sie bedürfen insoweit der Korrektur.
Das Urteil des SG ist nicht allein deshalb zu bestätigen, weil die dort durchgeführte Beweisaufnahme gerade bei der Klägerin eine Behinderung in dem für “H” erforderlichen Ausmaß belegt. Dies gilt generell.
Wie der Senat bereits mehrfach dargelegt hat, kommt den AHP zwar keine Normqualität zu; sie sind nur antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muß ihrer Zwitterstellung Rechnung tragen.
Die AHP haben sich normähnlich nach Art der untergesetzlichen Normen entwikkelt, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung.
Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der AHP ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der AHP. Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte ist in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereichs und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet worden (vgl Papier, DÖV 1986, 621 ff und in Festschrift für Ule 1987, 235 ff). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die AHP geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Im übrigen gelten die Prüfmaßstäbe wie bei der Prüfung untergesetzlicher Normen, weil die AHP wie Normen wirken. Sie bewerten nicht nur im Sinne von Sachverständigen, sondern legen normativ fest, was gelten soll (so zutreffend Wacholz, br 1993, 24 ff; vgl zu den grundsätzlichen Bedenken gegen eine normsetzende Verwaltung: Wolf, DÖV 1992, 849). Ohne solche verbindlichen Maßstäbe ließe sich keine gesetzmäßige, dh auch gleichmäßige Behandlung der Betroffenen erreichen. Denn nach der Natur des zu regelnden Sachverhalts darf es für den entscheidenden Verwaltungsbeamten keinen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei der generellen Wertung geben. Bei den AHP handelt es sich um ein geschlossenes Beurteilungsgefüge zum GdB und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), auf das auch die Gerichte angewiesen sind. Eine wirkliche richterliche Kontrolle in der Sache kann es nicht geben, weil es für die “Richtigkeit” der AHP außerhalb ihres eigenen Systems keinen ausreichenden Maßstab gibt. Zwar gebietet das Rechtsstaatsprinzip bei dieser Sachlage eine auch formal normative Regelung; aber auch solange eine solche fehlt, erhöht das nicht die Kontrolldichte, weil damit keine Gewähr für eine inhaltliche Richtigkeit verbunden wäre. Für das System der AHP, denen das Merkzeichen “H” zuzuordnen ist, beschränkt sich die Rechtskontrolle auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht und Fragen der Gleichbehandlung. Es geht um Minderheitenschutz, wenn bestimmten Gruppen von Behinderten Nachteilsausgleiche vorenthalten werden, obwohl ihre Behinderung denen anderer Gruppen entspricht. Gerade im Steuerrecht, auf das das Merkzeichen abzielt, ist eine besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Gleichheitssatz angezeigt (vgl BVerfGE 21, 12, 27). Insoweit gibt es also eine Vertretbarkeitskontrolle dahin, ob im Rahmen “gesetzgeberischer Freiheit” für die Ungleichbehandlung sachliche Gründe vorhanden sind, so daß die Entscheidung für oder gegen ein Merkzeichen vertretbar erscheint.
Die Nachteilsausgleiche sollen nach § 48 SchwbG so gestaltet werden, daß sie zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen geeignet sind und der Art oder Schwere der Behinderung Rechnung tragen. Dieses Ziel wird von den hier einschlägigen AHP und den darauf beruhenden Verwaltungsentscheidungen sowie den sie bestätigenden Urteilen verfehlt.
Schon die Bezeichnung “Taubheit und hochgradige Schwerhörigkeit” wird der Behinderung der Klägerin, die nach § 3 Abs 1 SchwbG festzustellen ist, nicht gerecht. Hiermit wird ein Gebrechen beschrieben. Die Taubheit ist aber nicht die einzige der feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen, die auf diesem regelwidrigen körperlichen Zustand beruhen. Als Behinderung iS des Gesetzes sind sämtliche Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen; diese gehen weit darüber hinaus. Die vom Senat gehörten Sachverständigen haben aus der Sicht der Betroffenen ebenso wie aus der Sicht derjenigen, die in der Gehörlosenpädagogik auf unterschiedlichen Ebenen tätig sind, trotz unterschiedlicher linguistischpädagogischer Auffassungen eindrucksvoll bestätigt, was sich schon 1982 aus Bd 130 der Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit: “Zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation und Sprache mit Bezug auf die Gehörlosenproblematik” entnehmen läßt (vgl insbesondere S 269 bis 280): Frühkindliche oder ab Geburt bestehende Gehörlosigkeit bedeutet eine Hörsprachschädigung, die eine tiefgreifende Kommunikationsstörung in bezug auf die hörende Welt bewirkt. Gehörlose werden von Hörenden nicht verstanden, weil Mängel im Lautsprachenerwerb insoweit durchweg zu Mißerfolgen führen, die Angst, Minderwertigkeitsgefühle und Rückzugsverhalten auslösen. Gehörlose verstehen Laut- und Schriftsprache nur unzulänglich. Ihre Sprachkompetenz bleibt defizitär und entspricht – auch bei denjenigen, die einen gehobenen Schulabschluß vorweisen –, regelmäßig nur der schriftsprachlichen Kompetenz von Grundschülern. Ausmaß und Gewicht der Sinnesschädigung nehmen daher mit zunehmendem Alter und auch auf höherem Bildungsniveau nicht ab. Die hierdurch bewirkte umfassende Kommunikationsstörung wirkt sich in allen Lebensbereichen, insbesondere aber in der Ausbildung aus, weil Wahrnehmung, Erkenntnis und Lernen durch Sprache vermittelt und gesteuert werden. Über Sprache werden Kognition, soziales Verhalten und Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie das emotionale Verhalten gelenkt. Wer nur mittels pädagogischer Hilfen, durch erläuternde Mediatoren oder Dolmetscherunterstützung lernen kann, erhält schon wegen des hohen Zeitaufwandes im gezielten Lernvorgang deutlich weniger an Anregungen, Informationen und Erklärungen. Erkenntniszugewinn in Form von Diskussionen mit Hörenden ist Gehörlosen verschlossen. Lernen findet aber lebenslang nicht nur bei gezielter Informationsvermittlung, sondern beim Nichtbehinderten auch in der gesellschaftlichen Interaktion ständig statt. Dies fehlt beim Hörsprachgeschädigten, so daß insoweit Anregungen, Erfahrungen, Informationen und Erkenntnisse nicht beiläufig vermittelt werden; hier fällt qualitativ ein ganzer Sektor aus. Zugleich entbehrt der Hörsprachgeschädigte damit entscheidender Hilfen für seine soziale Entwicklung, für das Erlernen von Zusammenleben, Kooperation und Interaktion; gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen sind schwer zu vermitteln. Fehlende Kontakte führen zu emotionalen Defiziten und abweichender Persönlichkeitsstruktur im Verhältnis zu Hörenden. Damit kommt es notwendig zu längeren und schwierigeren Ausbildungszeiten, weil die gesamte Entwicklung in kommunikative Prozesse eingebettet ist, die stimulieren, Information bieten und die Verarbeitung von Erfahrungen sowie die Lösung von Problemen erleichtern oder erst ermöglichen; unter Hörenden werden Fragen, noch ehe sie gestellt werden, beantwortet, indem Begründungen und Erklärungen aus dem Umfeld aufgenommen werden können. Das Kommunikationsdefizit mit der Folge von erschwertem und verzögertem Kenntniserwerb, einer lebenslang verlangsamten Weiterentwicklung und bleibender Fremdheit in der Gesellschaft der Hörenden, stellt die eigentliche Behinderung iS des § 3 SchwbG dar.
Damit ist zugleich deutlich, daß die Fähigkeit zur ständigen Kommunikation eine der wesentlichen Verrichtungen des täglichen Lebens darstellt, die weit über diejenigen hinausgeht, die beispielhaft unter RdNr 21 Abs 3 und Abs 4 AHP genannt sind. Die dort genannten Funktionen, die einerseits das menschliche Leben in seiner Kreatürlichkeit erfassen (Nahrungsaufnahme und Ausscheidung), andererseits einem Mindeststandard sozialer Erwartung entsprechen (zu Hygiene und Kleidung), dürfen nicht einengend dahin verstanden werden, daß die geistige Entfaltung und Entwicklung als weniger gewichtig einzustufen wären. Zu Recht rügt die Klägerin die einengende Auslegung des LSG, das erst bei existenzbedrohender Kommunikationsstörung Hilflosigkeit annimmt, ohne näher darzulegen, wie dies festzustellen wäre, solange ein Gehörloser in seiner Familie die erforderlichen Hilfen erhält. Die Bedeutung der Kommunikation für Erkrankte ist auch in den Richtlinien über die Abgrenzung der schwerpflegebedürftigen Personen anerkannt (vgl Nr 4.1 der Schwerpflegebedürftigkeitsrichtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 9. August 1989 ≪BKK 1989 S 595≫). Die Eingliederung in die Gesellschaft ist das Ziel des SchwbG, weshalb die Kommunikationsfähigkeit als Basis jeder gesellschaftlichen Aktivitäten nicht vernachlässigt werden darf.
Sie ist in allen Bereichen des täglichen Lebens (Vertragsschlüssen jeder Art, zB Kauf-, Bank- und Versicherungsgeschäften, bei der Einholung von Auskünften, Beratungen durch Ärzte, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter oder Verwaltungen, beim Besuch politischer Veranstaltungen, aber auch bei Betriebsversammlungen und Festen) gefordert. Fehlende Kommunikation und damit fehlende Information führt zu Schwierigkeiten, zu körperlichen oder rechtlichen Gefahren infolge von Unkenntnis und zu eingeschränkter Bewegung im gesellschaftlichen Raum der Gesunden mit der Folge, daß der Behinderte im täglichen Leben in erheblichem Umfang dauernd fremder Hilfe bedarf. Ob diese Hilfe durch Mediatoren und Dolmetscher, ob durch gleichartig Behinderte oder Gesunde mittels Gebärdensprache, ob durch intensive Zuwendung aus dem Umfeld oder durch bezahlte Kräfte vermittelt wird, ist rechtlich nicht erheblich.
Welche Bedeutung dem Kommunikationsdefizit zukommt, ob hiermit in erheblichem Umfang fremde Hilfe erforderlich wird, kann nicht schematisch je nach Anzahl der Verrichtungen oder nach ermitteltem Zeitaufwand festgelegt werden, obwohl der erforderliche Zeitaufwand regelmäßig ein Indiz für den Umfang der notwendigen Hilfe darstellen wird. Die Hilfsbedürftigkeit in einem entscheidenden und zentralen Punkt kann ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf für die gesamte Lebensführung prägend ist (so auch zur Krankenversicherung und zum Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit: BSG 1. Senat in den Urteilen vom 8. Juni 1993 – 1 RK 43/92 und 1 RK 17/92).
Trotz der nach der Gesetzesentwicklung vom Gesetzgeber angestrebten Einheitlichkeit des Begriffs der Hilflosigkeit (vgl hierzu das genannte Urteil des Senats ≪SozR 3-3870 § 4 Nr 3≫ und die dort aufgezeigten Ausnahmen für die Sozialhilfe und die Krankenversicherung) wird mehr und mehr deutlich, daß auch bei der Auslegung gesetzlich einheitlicher Begriffe nicht unberücksichtigt bleiben kann, welchem Ziel die jeweiligen Gesetze dienen. Das Merkmal “H” hat vor allem Auswirkungen im Steuerrecht (zu den einschlägigen Steuerrechtsgebieten vgl die Nachweise bei Poppe-Bahr im GK-Komm zum SchwbG Anhang 7 ab S 1630). Auf diese steuerliche Entlastung wird teilweise bei einkommensabhängigen Leistungen wie in § 16 Abs 3 Wohngeldgesetz und in § 25 Abs 6 BAFöG verwiesen, soweit es um die Berechnung der Freibeträge geht. Der Nachteilsausgleich “H” im Schwerbehindertenrecht eröffnet nicht den Zugang zu festumrissenen und je nach dem Grad der Hilflosigkeit abgestuften staatlichen Leistungen. Er unterscheidet sich von Leistungsgesetzen, die nach abgestuften Graden der Pflegebedürftigkeit = Hilflosigkeit entsprechend abgestufte staatliche Leistungen zuerkennen (§§ 68, 69 Bundessozialhilfegesetz, §§ 53, 55, 56 des Sozialgesetzbuches – Fünftes Buch – ≪SGB V≫; vgl hierzu auch § 177 des Sozialgesetzbuches – Sechstes Buch – ≪SGB VI≫ und § 35 des Bundesversorgungsgesetzes ≪BVG≫). “H” vermittelt lediglich Steuererleichterungen oder Berechnungsgrößen für die Ermittlung von Bedürftigkeit. “H” legt gemäß § 48 SchwbG pauschaliert das Maß der notwendigen Mehraufwendungen fest, die über einen Freibetrag zu minderer Steuerbelastung oder zur Anerkennung von Mehrbedarf bei einkommensabhängigen Leistungen führen.
Ein solcher Mehraufwand ist in der Lebensspanne, in der Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb zu den zentralen Verrichtungen des täglichen Lebens gehören, also bei Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen vor Abschluß ihrer Ausbildung offensichtlich. Dieser Befund ist staatlicherseits auch anerkannt. Im Rahmen der Schul- und Berufsausbildung stellt das staatliche System besondere Schulen, auch Berufsschulen für Hörgeschädigte, zur Verfügung. Gehörlosen wird der Kenntniserwerb zusammen mit Gesunden nicht zugemutet, weil er – ohne spezifische Hilfen – eine Überforderung darstellen würde; die notwendig erscheinenden Hilfen werden schulorganisatorisch zusammengefaßt und für die ganze Gruppe der Behinderten angeboten. Dies haben die vor dem Senat gehörten Sachverständigen bestätigt. Die Notwendigkeit gezielter Hilfe wird auch durch den Abbruch der Ausbildung durch die Klägerin belegt, weil sie im dualen System die besondere Förderung nur im Blockunterricht der Berufsschule hätte erfahren können und im praktischen Bereich wegen des Verständigungsmangels gescheitert ist. Zumindest in der Lebensphase des gesteigerten Informationsbedürfnisses, also während der gesamten Ausbildungszeit bewirkt der durch Gehör- und Sprachlosigkeit vermittelte Kommunikationsmangel eine Hilfsbedürftigkeit von erheblichem Umfang. Der Klägerin ist daher das Merkzeichen “H” zu belassen.
Diese Entscheidung steht auch im Einklang mit der in den AHP erkennbaren Tendenz, Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb bei Kindern zu den regelmäßigen Verrichtungen des täglichen Lebens zu zählen; daher werden in RdNr 22 Nr 1 die Hilfen in der Anleitung besonders hervorgehoben. Auch RdNr 21 Nr 3 nennt beispielhaft die geistige Anregung, die in der Entwicklungsphase des Menschen von besonderer Bedeutung ist. Denn vielfach besteht die besondere Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen nicht so sehr wegen der Defizite bei den Verrichtungen selbst, als vielmehr in der erschwerten Anleitung zur Kompensation dieser Defizite, in zusätzlichen Lernschwierigkeiten, in einem besonderen Erklärungsbedarf. Lernen endet jedoch nicht mit dem Verlassen der Gehörlosenschule. Bei konsequenter Fortschreibung des richtigen Ansatzes in RdNr 22 sind die notwendigen Hilfen wenigstens bis zum Ende der Lebensphase zu erstrecken, in der Kenntnis- und Fertigkeitserwerb die Lebensgestaltung prägt.
Diese Auslegung beruht nicht auf der von der Klägerin angesprochenen Gleichbehandlung mit den Blinden. Welche Behinderungen aus dem Verlust eines Sinnesorgans resultieren, muß je nach den Besonderheiten festgestellt und in seinen Auswirkungen bewertet werden. Eine Gleichbehandlung, wie sie vom Bundesverfassungsgericht beispielsweise für Blinde und vergleichbar Sehbehinderte vorgenommen worden ist (BVerfGE 37, 154), scheidet hier aus. Die Gleichsetzung aller Sinnesorgane kommt rechtlich nicht in Betracht, weil sich insoweit die Gleichheit der Lebensverhältnisse gerade nicht von selbst versteht. Es gilt das Ausmaß der Behinderung wägend und wertend zu umreißen. Deshalb lassen sich nicht alle Vergünstigungen, die der Gesetzgeber Blinden einräumt, auf die Gehörlosen übertragen. So hat der Gesetzgeber Blinden gemäß § 35 BVG erspart, daß sie ihre Hilflosigkeit nachweisen müssen. Sie erhalten ihre Pflegezulage mindestens nach Stufe 3; sie gelten als hilflos. Diesen Gedanken hat der Gesetzgeber durchgängig verwirklicht. Blinden werden mindestens die Vergünstigungen zuteil, die Hilflosen zukommen. Das wird in den Anhaltspunkten unter RdNr 21 Abs 6 nachvollzogen. Das läßt sich auch aus § 59 SchwbG entnehmen, der allerdings erstmals auch die Gehörlosen den Hilflosen – wenn auch nicht vollständig – gleichstellt. Diese Sonderregelung mag der Sonderstellung der Gehörlosen in besonderem Maße gerecht werden (vgl Bt-Drucks 10/3218 S 7). Es mag auch sozialpolitisch erwünscht sein, die Gehör- und Sprachlosigkeit mit einem besonderen eigenen Nachteilsausgleich zu versehen, der weitgehend wirtschaftlich dem Nachteilsausgleich “H” entspräche. Solange es kein solches spezielles Merkzeichen gibt, muß den taub Geborenen oder früh Ertaubten, denen die Sprachkompetenz fehlt und die in ihrer Kommunikationsfähigkeit erheblich gestört sind, das Merkzeichen “H” bis zum Abschluß der Ausbildung zuerkannt werden. Es kann offenbleiben, wie zu entscheiden ist, wenn – auch noch so geringe – Hörreste für die Kommunikation mit Hörenden aktiviert werden können. Denn das ist bei der Klägerin nicht möglich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 285 |
Breith. 1994, 323 |