Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
1. Zu den Beweisfragen, Beweismöglichkeiten und Beweismethoden bei Ermittlung und Konkretisierung des Verhältnisses der Anzahl vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen (75:100).
2. Es ist nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167; BSG 1969-12-11 GS 2/68 = BSGE 30, 192; BSG 1970-07-23 4 RJ 497/67 = SozR Nr 24 zu § 1247 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.03.1969) |
SG Köln (Entscheidung vom 10.05.1968) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. März 1969 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger wegen Berufsunfähigkeit gewährte Rente in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln ist.
Der Kläger ist 1908 geboren. Er ist gelernter Schlosser und hat die Meisterprüfung als Vulkaniseur abgelegt. Sein Gesundheitszustand ist infolge eines Hinterwandherzinfarktes beeinträchtigt. Ferner leidet er an Sehstörungen. Er wird nur noch für fähig erachtet, leichte körperliche Arbeiten, die kein räumlich gutes Sehen verlangen, in einem Ausmaß von 3 Stunden täglich, vorzugsweise im Sitzen und in geschlossenen Räumen zu verrichten.
Der Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten (vom 18. Dezember 1967) hat das Sozialgericht (SG) Köln (Urteil vom 10. Mai 1968) stattgegeben; das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 17. März 1969) hat sie abgewiesen. Es ist der Auffassung, daß der Kläger noch den Anforderungen an einen Sortierer, Montierer, Etikettierer oder Bediener leichter Halbautomaten gerecht werden könne. Ob es solche Arbeitsgelegenheiten gebe, sei unerheblich.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet.
Für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO) ist, ist es - neben einer Leistungsminderung aus gesundheitlichen Gründen - erheblich, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind. Auf Tätigkeiten, für die ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, darf er nicht verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierauf kommt es allerdings dann nicht an, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz - jedoch nicht auf Kosten seiner Gesundheit oder nur vorübergehend - innehat oder die Annahme eines solchen ohne triftigen Grund ablehnt. Diese Grundsätze hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der beiden genannten Vorschriften - mit jeweils ausführlichen Begründungen - abgeleitet (BSG 30, 167; 30, 192). Ihre Anwendung zwingt bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zu Ermittlungen darüber, ob - und unter welchen Verhältnissen - der Rentenbewerber tatsächlich arbeitet, ob ihm ein angemessener Arbeitsplatz bekannt geworden oder ob für ihn ein entsprechendes Arbeitsfeld vorhanden ist. Im vorliegenden Falle sind solche Ermittlungen bisher nicht angestellt worden; bis zum Bekanntwerden der Entscheidungen des Großen Senats konnten sie in dieser Weise auch nicht angestellt werden. Sie sind nachzuholen. Dabei sind alle Beweisquellen zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Senats vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67 -). Nach der Auffassung des Großen Senats ist es nämlich nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.
Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (vgl. auch BSG SozR zu RVO § 1247 Nr. 21).
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen