Leitsatz (amtlich)
Ein Einkommensverlust iS von BVG § 30 Abs 3 und 4 setzt nicht voraus, daß der Schwerbeschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufsgruppe angehört hätte als der, in der er noch tätig ist.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 3 Fassung: 1964-02-21, Abs. 4 Fassung: 1964-02-21, Abs. 3 Fassung: 1966-12-28, Abs. 4 Fassung: 1966-12-28
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1969 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger erhält wegen "Verlust sämtlicher Zehen links und des rechten Vorfußes" als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H.
Er erlernte nach dem Besuch der Volksschule das Schreinerhandwerk, legte darin im Jahre 1939 die Gesellenprüfung ab und war anschließend bis zu seiner Einberufung in den Wehrdienst als Schreinergehilfe tätig. Nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst war er zunächst ohne feste Beschäftigung. Seit 1949 ist er als selbständiger Schreiner (ohne Meisterprüfung) tätig; in den Jahren 1964 bis 1966 hat er laut Auskunft des Finanzamts einen Gewinn von etwa 3.700,- bis 4.700,- DM erzielt.
Der Kläger beantragte die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs, weil er wegen seiner Schädigungsfolgen weniger verdiene als ein gesunder Schreiner.
Die Versorgungsbehörde lehnte den Antrag ab, weil kein: Anhalt dafür bestehe, daß der Kläger in seinem "Einmannbetrieb" ohne die Schädigungsfolgen höhere Einkünfte erzielen würde (Bescheid des Versorgungsamts R vom 2. Dezember 1966; Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Bayern vom 8. Juni 1967).
Die Klage, mit der der Kläger beantragt hat, ihm einen Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens nach der Besoldungsgruppe A 7 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) zuzusprechen, hat das Sozialgericht (SG) Regensburg mit Urteil vom 5. September 1968 abgewiesen.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 11. Dezember 1969 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei ersichtlich, daß ein Einkommensverlust wie ihn der Berufsschadensausgleich erfordere, nur anzunehmen sei, wenn der Schwerbeschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört hätte als der, der er jetzt als Kriegsbeschädigter angehöre. Da der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen ohne die Schädigungsfolgen derselben Berufsgruppe angehören würde, der er auch jetzt mit den Schädigungsfolgen angehöre, nämlich der Berufsgruppe der selbständig Tätigen mit abgeschlossener Berufsausbildung aber ohne Meisterprüfung, liege ein Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG nicht vor. Ein Berufsschadensausgleich stehe dem Kläger schon aus diesem Grunde nicht zu. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat fristgemäß und formgerecht Revision eingelegt mit dem Antrag,
1. unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen LSG vom 11. Dezember 1969 und des Urteils des SG Regensburg vom 5. September 1968 sowie des Bescheides des Beklagten vom 2. Dezember 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 1967 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Januar 1964 an Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens nach der Besoldungsgruppe A 7 BBesG nebst Zuschlägen zu gewähren,
2. den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten,
3. hilfsweise, das Urteil des Bayerischen LSG vom 11. Dezember 1969 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen sowie die Kostenentscheidung dem abschließenden Urteil vorzubehalten.
Er rügt, das LSG habe die Vorschrift des § 30 Abs. 3 und 4 BVG verletzt. Es habe zu Unrecht aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 4 BVG gefolgert, daß ein - für den Berufsschadensausgleich beachtlicher - Einkommensverlust nur dann gegeben sei, wenn sich die gegenwärtige Berufstätigkeit des Schwerbeschädigten von der gegenüberzustellenden Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der er ohne die Schädigungsfolgen angehört hätte, unterscheide. Die Auffassung des LSG führe zu dem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis, daß alle Schwerbeschädigten, die trotz der durch anerkannten Schädigungsfolgen gegebenen Behinderungen und wirtschaftlichen Nachteile ihren Vorschädigungsberuf weiter ausüben oder ihren angestrebten beruflichen Werdegang fortgesetzt haben, von der Gewährung eines Berufsschadensausgleichs ausgeschlossen sein würden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie hat auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger, der als selbständiger Schreiner tätig ist, diese selbständige Tätigkeit mit abgeschlossener Berufsausbildung, aber ohne Meisterprüfung, auch ohne die Schädigungsfolgen ausüben würde, daß er somit ohne die Schädigungsfolgen derselben Berufsgruppe angehören würde, der er auch jetzt - mit den Schädigungsfolgen - angehört. Gegen die tatsächlichen Feststellungen, die das LSG insoweit getroffen hat, sind Verfahrensrügen nicht erhoben; diese Feststellungen sind daher für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Das LSG ist der Auffassung, ein Anspruch des Klägers auf einen Berufsschadenausgleich sei schon deshalb zu verneinen, weil ein Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG nur dann anzunehmen sei, wenn der Schwerbeschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört hätte als der, der er jetzt als Kriegsbeschädigter angehöre - was im Falle des Klägers nicht zutreffe -. Der Senat vermag dieser Auffassung nicht zu folgen.
Nach § 30 Abs. 3 BVG in der für den Anspruch des Klägers für die Zeit bis zum 31. Dezember 1966 geltenden Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (Neuordnungsgesetz - NOG -) erhält ein Schwerbeschädigter einen Berufsschadensausgleich, wenn er durch die Schädigungsfolgen beruflich insoweit besonders betroffen ist, als er einen Einkommensverlust von monatlich 75,- DM hat, und nach § 30 Abs. 3 BVG - in der für den Anspruch des Klägers für die Zeit vom 1. Januar 1967 an geltenden Fassung des 3. NOG - erhält ein Schwerbeschädigter den Berufsschadensausgleich dann, wenn sein Erwerbseinkommen durch Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust). Ein solcher Einkommensverlust ist nach § 30 Abs. 4 BVG idF des 2. und 3. NOG der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Tätigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte.
Der Berufsschadensausgleich setzt danach voraus, daß bei einem Schwerbeschädigten ein Einkommensverlust eingetreten ist. Aus dem Gebrauch der Worte "Berufsschadensausgleich", "beruflich insoweit besonders betroffen" und "Berufs- und Wirtschaftsgruppe" folgt ferner, daß der durch die anerkannten Schädigungsfolgen verursachte Einkommensverlust bei einer Berufstätigkeit eingetreten sein muß. Damit sind die Voraussetzungen des Berufsschadensausgleichs erschöpft. Es besteht kein Anhalt dafür, daß das Gesetz den Berufsschadensausgleich auf die Fälle eingeschränkt sehen wollte, in denen der Schwerbeschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört hätte, als der, der er tatsächlich angehört, mit anderen Worten, daß ein Berufsschadensausgleich ausgeschlossen sein sollte, wenn der Schwerbeschädigte (noch) eine Tätigkeit in der Berufsgruppe ausübt, der er auch ohne Schädigungsfolgen angehören würde. Der Berufsschadensausgleich verlangt einen beruflichen Einkommensverlust durch Schädigungsfolgen. Das bedeutet aber nicht, daß ein solcher Einkommensverlust nur dann zu berücksichtigen ist, wenn er darauf beruht, daß die Schädigungsfolgen zu einem nachteiligen Wechsel der Berufsgruppenzugehörigkeit oder zur Aufgabe der Berufstätigkeit geführt haben. Ein derartiger Einkommensverlust setzt auch nicht voraus, daß durch die Schädigungsfolgen ein beruflicher Aufstieg verhindert worden ist. Eine solche Einschränkung ist auch dem Wortlaut des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG nicht zu entnehmen. Der Wortlaut dieser Vorschrift schließt jedenfalls nicht aus, daß ein für den Berufsschadensausgleich beachtlicher Einkommensverlust auch dann anzunehmen ist, wenn aus der Gegenüberstellung eines schädigungsbedingt verminderten tatsächlichen Einkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit mit dem höheren Durchschnittseinkommen derselben Berufsgruppe ein "Unterschiedsbetrag" ermittelt wird. Diese Auslegung entspricht dem Grundgedanken des Berufsschadensausgleichs, der in § 30 Abs. 3 BVG seinen Ausdruck gefunden hat. Danach soll die schädigungsbedingte berufliche Einkommensminderung Schwerbeschädigter grundsätzlich im Verhältnis zu den ohne die Schädigungsfolgen mutmaßlich erreichten Einkommen ausgeglichen werden. Dieser Grundsatz wird auch durch die Ermittlungsvorschrift des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG nicht eingeschränkt. Auch die Schwerbeschädigten, die trotz der Schädigungsfolgen ihre frühere Berufstätigkeit fortsetzen oder die angestrebte Berufstätigkeit ausüben, deren Einkommen aber wegen der Schädigungsfolgen das höhere Durchschnittseinkommen ihrer Berufsgruppe nicht mehr erreicht, haben einen Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG.
Wie das BSG bereits entschieden hat, ist die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG nicht davon abhängig, daß die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG (Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) erfüllt sind (BSG 29, 208).
Es trifft auch nicht zu, daß ein Ausgleich eines schädigungsbedingten Berufsschadens, wie er hier geltend gemacht wird, nur durch Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG, also durch Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit möglich ist. § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG erfaßt als besonderes berufliches Betroffensein zwar auch die Fälle, in denen der Beschädigte seinen vor der Schädigung ausgeübten Beruf weiter ausübt oder den angestrebten Beruf erreicht hat, in diesem Beruf aber durch die Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Grad erwerbsgemindert ist als im allgemeinen Erwerbsleben. Danach kann zwar der Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich in den Fällen der weiteren Ausübung des "Vorschädigungsberufs" entfallen, wenn schon nach § 30 Abs. 2 BVG eine ihm entsprechende Leistung gewährt wird; er ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen. Es handelt sich hier um einen - gegenüber der Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG - selbständigen und andersartigen Anspruch. Dieser Anspruch setzt weder eine über die MdE im allgemeine Erwerbsleben hinausgehende Beeinträchtigung voraus noch erfordert er einen Minderverdienst, der im Vergleich zu den erzielten Einkünften erheblich ist; er wird vielmehr allein wegen eines gesetzlich festgelegten, schädigungsbedingten, beruflichen Einkommensverlustes nach dem Durchschnittlichen als Bewertungsmaßstab gewährt (siehe auch Urteil vom 21. März 1969, aaO). Die Auffassung des LSG, ein Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG sei zu verneinen, "weil der Kläger ohne die Schädigungsfolgen keiner anderen Berufsgruppe angehört hätte", beruht danach auf unzutreffenden rechtlichen Erwägungen. Die Revision des Klägers ist daher begründet. Das LSG hat nicht geprüft, ob das derzeitige Erwerbseinkommen des Klägers (zuzüglich der Ausgleichsrente) gegenüber dem Durchschnittseinkommen aus selbständiger Tätigkeit mit den für den Kläger in Betracht kommenden Zuordnungsmerkmalen (§ 5 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG) gemindert ist und gegebenenfalls, ob dieser Einkommensverlust schädigungsbedingt ist. Da das LSG insoweit keine Feststellungen getroffen hat, kann das BSG nicht abschließend entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Sache ist daher an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen