Leitsatz (amtlich)
1. Die Rechtsmittelbelehrung des Landessozialgerichts entspricht nicht den Erfordernissen des SGG § 66 Abs 1, wenn darin der Hinweis fehlt, daß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten muß (SGG § 164 Abs 2 S 1).
2. Bei der Rüge von Verfahrensmängeln (SGG § 164 Abs 2 S 2) braucht die verletzte Rechtsnorm nicht ausdrücklich bezeichnet zu werden, sofern sich nur aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen klar ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird.
3. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist muß in der für Verfahrensmängel vorgeschriebenen Form gerügt werden, um bei einer nicht zugelassenen Revision deren Statthaftigkeit zu begründen.
4. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist nicht verschuldet im Sinne der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Nachsicht im Sinne des MRV 165 § 36) , wenn die Rechtsmittelschrift so rechtzeitig zur Beförderung bei der Post aufgegeben wird, daß das Schreiben bei normalem Postgang rechtzeitig bei der für die Einlegung des Rechtsmittels zuständigen Stelle eingehen müßte; der Rechtsmittelkläger braucht also nicht in Rechnung zu stellen, daß der Eingang der Sendung durch außergewöhnliche Umstände verzögert werden kann.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Fassung: 1953-09-03; MRV BrZ 165 § 36
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 4. Januar 1955 aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht ... zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Beklagte hatte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invalidenrente abgelehnt. Die Berufung des Klägers gegen den Ablehnungsbescheid wurde vom Oberversicherungsamt (OVA.) zurückgewiesen. Das Urteil ist dem Kläger am 15. April 1953 zugestellt worden.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger mit einem an das OVA. gerichteten Schreiben vom 13. Mai 1953, das bei diesem am Sonnabend, dem 16. Mai 1953, einging, (weitere) Berufung beim Oberverwaltungsgericht ( OVerwGer .) ... ein. Auf einen Hinweis des OVerwGer . ..., daß die Berufung verspätet eingelegt sei, beantragte der Kläger gegen die Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das Landessozialgericht (LSGer.) ..., auf das die Sache nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gemäß § 215 Abs. 8 SGG übergegangen war, verwarf die Berufung mit der Begründung, daß ein Grund zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nach § 131 RVO nicht gegeben sei; die Revision ist nicht zugelassen worden. Das Urteil wurde dem Kläger am 29. Januar 1955 zugestellt.
Am 26. Februar 1955 legte der Kläger gegen das Urteil des LSGer. Revision ein, ohne einen ausdrücklichen Revisionsantrag zu stellen. Der Revisionsantrag - Aufhebung des Urteils des LSGer. und Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist - wurde am 24. März 1955 gestellt. Der Kläger hat gerügt, daß das LSGer. ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt habe; er habe sich darauf verlassen dürfen, daß die am 13. Mai 1953 in ... zur Post gegebene Berufungsschrift bis zum Ablauf der Berufungsfrist am 15. Mai 1953 beim OVA. eingehen werde.
Entscheidungsgründe
1.) Die Revision ist zulässig. Wie das BSGer . mehrfach entschieden hat, ist zwar dem Erfordernis des "bestimmten Antrags" der Revision (§ 164 Abs. 2 Satz 1 SGG) nicht genügt, wenn der Revisionskläger innerhalb der Revisionsfrist nur zum Ausdruck bringt, daß er gegen ein bestimmtes Urteil Revision einlege (vgl. Urteil vom 24.5.1955 - 9 RV 308/54, Urteil vom 8.6.1955 in Entsch. d. BSGer . 1, S. 50, Beschluß vom 27.6.1955 in Entsch. d. BSGer . 1, S. 47). Nach dieser Rechtsprechung, der sich der erkennende Senat nunmehr anschließt, ist im vorliegenden Streitfalle ein "bestimmter Antrag" nicht innerhalb der Revisionsfrist von einem Monat beim Bundessozialgericht ( BSGer .) eingegangen; er ist vielmehr erst nach Ablauf der Revisionsfrist des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG gestellt worden.
Hieraus können jedoch keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Revision hergeleitet werden, weil dem Kläger für die Einlegung der Revision die außerordentliche Frist von einem Jahr nach Zustellung des Urteils (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG) zur Verfügung stand. Die Rechtsmittelbelehrung des LSGer. entspricht nämlich nicht den Erfordernissen des § 66 Abs. 1 SGG, weil sie nicht zum Ausdruck bringt, daß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten muß.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ( BVerwGer .) zu § 35 MRVO 165 und § 21 BVerwGG, die dem § 66 Abs. 1 SGG fast wörtlich entsprechen, sind diese Vorschriften wegen ihres eindeutigen Wortlauts einer erweiternden Auslegung nicht zugängig (vgl. Beschluß vom 2.4.1954 in MDR. 1954 S. 566 und Beschluß vom 20.9.1954 in MDR. 1955 S. 80; s. auch Beschluß vom 17.9.1954 in Entsch. d. BVerwGer . Bd. 1 S. 192). Dieser Meinung kann jedoch auch im Hinblick auf den Wortlaut des Gesetzes bei der Auslegung des § 66 Abs. 2 SGG nicht gefolgt werden. "Belehrung über den Rechtsbehelf" ist, worauf schon in der Entscheidung des BSGer . vom 25.8.1955 (4 RJ 21/54) hingewiesen ist, mehr als die einfache Mitteilung, daß ein bestimmter Rechtsbehelf gegeben sei und bestimmte einzelne, vom Gesetzgeber erschöpfend aufgezählte Erfordernisse zu beachten seien. Die "Belehrung" muß auf das berechtigte Bedürfnis der Beteiligten Bedacht nehmen, über die für die weitere Rechtsverfolgung wesentlichen Verfahrensvorschriften in einer auch dem Laien verständlichen Form unterrichtet zu werden.
Dabei ist die Schwierigkeit zu berücksichtigen, daß die vom Gericht zu erteilende Rechtsmittelbelehrung i. S. des § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG für alle am Verfahren Beteiligten einheitlich abgefaßt wird. Die gleiche Rechtsmittelbelehrung des LSGer. kann sich an Beteiligte richten, die sich im Revisionsverfahren durch die nach § 166 Abs. 2 SGG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen müssen, wie an solche, die nach § 166 Abs. 1 SGG nicht dem Vertretungszwang unterliegen; sie richtet sich gleichermaßen an Rechtskundige und an im Rechtsleben völlig Unerfahrene und muß daher einem unterschiedlichen Belehrungsbedürfnis Rechnung tragen. Dieser Notwendigkeit kann nur durch eine Fassung Genüge geschehen, die verhindert, daß ein Beteiligter infolge Unkenntnis von Verfahrensvorschriften trotz gehöriger Sorgfalt bei der Prozeßführung einen Rechtsverlust erleidet; die Beteiligten sind also auf den richtigen Weg zur Rechtsverfolgung zu weisen.
Diese Auslegung des § 66 Abs. 1 SGG bedeutet nicht, daß die Belehrung über das Rechtsmittel der Revision Aufschluß über sämtliche von den Beteiligten zu wahrenden Förmlichkeiten des Revisionsverfahrens geben muß. Wenn der Begriff der "Belehrung über den Rechtsbehelf" in dieser umfassenden Bedeutung verstanden würde, dann wäre nicht beachtet, daß Prozeßhandlungen vor dem BSGer . nur von Vertretern der qualifizierten Beteiligten i. S. des § 166 Abs. 1 SGG (Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts) oder den zugelassenen Prozeßbevollmächtigten i. S. des § 166 Abs. 2 SGG vorgenommen werden können. Bei ihnen kann weitgehend vorausgesetzt werden, daß sie - sobald sie mit der Sache befaßt sind - das Anliegen der Partei auch ohne Belehrung über alle Einzelheiten des Revisionsverfahrens sachgemäß vertreten.
Es ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß der rechtsunkundige Beteiligte, der dem Vertretungszwang des § 166 Abs. 2 SGG unterworfen ist, durch eine für seine Entschließung entbehrliche Belehrung über Förmlichkeiten des Revisionsverfahrens von dem abgelenkt werden kann, was für ihn wesentlich ist. Zu ausführliche und umständliche Rechtsmittelbelehrungen liegen nicht im Interesse der Rechtsuchenden, die dadurch leicht verwirrt werden (vgl. auch BVerwGer . Bd. 1 S. 192-193).
Indessen erfordert die Weisung des rechten Weges einen Hinweis darauf, welche "ersten Schritte" ein Beteiligter zur Durchführung der Revision unternehmen muß, d. h. er muß darüber unterrichtet werden, daß die Revision wirksam nur durch zugelassene Prozeßbevollmächtigte innerhalb einer bestimmten Frist eingelegt werden kann (so Urteil des BSGer . vom 25.8.1955 - 4 RJ 21/54). Dieser Hinweis wird ihn veranlassen, sich rechtzeitig an einen Verband, einen Rechtsanwalt oder Verwaltungsrechtsrat um Rat zu wenden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Urteil des LSGer. mit der Revision anzufechten ist. - Sodann erscheint es erforderlich, daß die Rechtsmittelbelehrung - auch für die Prozeßbevollmächtigten bestimmt - auf die grundlegenden Besonderheiten des Revisionsverfahrens vor dem BSGer . hinweist, soweit ihre Kenntnis nicht allgemein vorausgesetzt werden kann und ihre Nichtbeachtung den Beteiligten zum Nachteil gereichen würde. So ist der "bestimmte Antrag", der nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG schon innerhalb der Revisionsfrist gestellt werden muß, ein spezifisches Erfordernis des Revisionsverfahrens vor dem BSGer . Diese Vorschrift weicht von der Regelung in der ZPO ab mit der Folge, daß Beteiligte und Prozeßbevollmächtigte in Unkenntnis dieser Abweichung, wie die Praxis zeigt, häufig den "bestimmten Antrag" nicht fristgerecht stellen. Auch von dem allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterscheidet sich das Revisionsverfahren vor dem BSGer . in dieser Hinsicht, denn die vom BVerwGer . (vgl. Entsch. d. Großen Senats vom 8.11.1954 in Entsch. d. BVerwGer . Bd. 1 S. 222) dem § 57 Abs. 2 Satz 1 BVerwGG. gegebene weite Auslegung ist nach der oben angeführten, nunmehr schon ständigen Rechtsprechung des BSGer . auf die dem Wortlaut nach übereinstimmende Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht übertragbar. Stellt demnach das Erfordernis eines noch innerhalb der Revisionsfrist näher formulierten "bestimmten Antrags" eine wesentliche Besonderheit gegenüber dem Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten dar, so entspricht es der Billigkeit und dem Sinn einer zweckentsprechenden Rechtsmittelbelehrung, die Beteiligten auf diese verfahrensrechtliche Besonderheit hinzuweisen. Deshalb darf die Rechtsmittelbelehrung des LSGer. nicht auf den Hinweis verzichten, daß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten muß. Da dieser Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung des LSGer. fehlt, ist die Revision gemäß § 66 Abs. 2 SGG noch rechtzeitig eingelegt.
2.) Da das LSGer. die Revision nicht zugelassen hat, bedarf es der Prüfung, ob ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Unter diesem Gesichtspunkt hat der Kläger geltend gemacht, daß er sich darauf habe verlassen dürfen, daß die am 13. Mai 1953 in ... zur Post gegebene Berufungsschrift rechtzeitig bis zum 15. Mai 1953 beim OVA. Schleswig eingehen würde; das Berufungsgericht habe ihm demnach zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nach § 67 Abs. 1 SGG versagt.
Die Zulässigkeit der Berufung ist eine Voraussetzung, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung, also auch das Verfahren der Revisionsinstanz in seiner Rechtswirksamkeit abhängt. Sie ist deshalb grundsätzlich auch vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen einschließlich der Frage, ob die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gegeben waren (vgl. RGZ. Bd. 159 S. 83, BGH. Bd. 6 S. 369). Wenn jedoch die Statthaftigkeit der Revision gerade daraus hergeleitet werden soll, daß das Berufungsgericht die Zulässigkeit der Berufung unrichtig beurteilt hat, so muß dieser Verstoß in der für Verfahrensmängel vorgeschriebenen Form (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) gerügt werden (vgl. BGH. in Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH, Nr. 4 zu § 554 ZPO; OGH. f. d. Brit. Zone in OGHZ. Bd. 3 S. 103; BVerwGer . in Entsch. d. BVerwGer . Bd. 1 S. 29).
Bedenken, ob der Verfahrensmangel im vorliegenden Fall in der richtigen Form gerügt ist (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), könnten daraus hergeleitet werden, daß "die verletzte Rechtsnorm" in der Revisionsbegründung jedenfalls nicht ausdrücklich angegeben ist. Zweck der Rügepflicht ist die Entlastung des Revisionsgerichts. Das Revisionsgericht soll davon freigestellt sein, das gesamte Berufungsverfahren auf das Vorhandensein von Mängeln zu überprüfen; es soll in Ansehung von Verfahrensmängeln grundsätzlich auf die Nachprüfung des vom Revisionskläger vorgetragenen Prozeßstoffs beschränkt sein. Hieraus folgt jedoch nicht, daß die verletzte Rechtsnorm ausdrücklich angegeben sein muß. Dem Zweck der Rügepflicht ist vielmehr genügt, wenn sich aus der Angabe der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG bezeichneten Tatsachen oder der sonstigen Kennzeichnung des Rechtsstoffs für das Revisionsgericht ohne weiteres ergibt, welche Rechtsnorm der Revisionskläger als verletzt angesehen wissen will (vgl. RG in JW 1936 S. 511 und die dort zitierten Entscheidungen; BVerwGer . in Entsch. d. BVerwGer . Bd. 1 S. 29 (31); Stein-Jonas-Schönke, ZPO, 18. Aufl., Anm. III A 2 zu § 554). Demnach ist im vorliegenden Streitfall die verletzte Rechtsnorm mit genügender Bestimmtheit dadurch gekennzeichnet, daß die die Zulässigkeit der Berufung begründenden Tatsachen bezeichnet sind und in der Fassung des Revisionsantrags das Wiedereinsetzungsbegehren zum Ausdruck gekommen ist.
3.) Die Revision ist begründet.
Wie das BSGer . bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 24.5.1955 in Entsch. d. BSGer . Bd. 1 S. 44), ist für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer gesetzlichen Verfahrensfrist grundsätzlich das Verfahrensrecht anzuwenden, das im Zeitpunkt des Ablaufs der Verfahrensfrist und des Wegfalls des Hindernisses gegolten hat.
Demgemäß mußte in dem vom 9. Senat entschiedenen Fall, in dem über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rekurses beim Bayerischen Landesversicherungsamt zu entscheiden war, § 131 RVO zur Anwendung kommen. Im vorliegenden Fall ist ein Wiedereinsetzungssachverhalt zu beurteilen, der die Versäumung der Frist zur Einlegung der (weiteren) Berufung beim OVerwGer . Lüneburg zum Gegenstand hat. Die Streitfrage, ob die Spruchbehörden der RVO nach Inkrafttreten der MRVO 165 und des Grundgesetzes besondere Verwaltungsgerichte gewesen sind und demnach gegen die Entscheidung eines OVA. (weitere) Berufung zum OVerwGer . gegeben war, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls gelten für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der schon vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes abgelaufenen Berufungsfrist die Vorschriften der MRVO 165, wenn ein Beteiligter die Entscheidung eines OVA. entsprechend der von diesem erteilten Rechtsmittelbelehrung nach §§ 27 Buchst. c, 83 MRVO 165 mit der (weiteren) Berufung beim OVerwGer . angefochten hat (vgl. Urteil d. BSGer . v. 23.9.1955 - 3 RJ 74/55). Somit hat das LSGer. § 131 RVO zu Unrecht angewendet; es kommt § 36 MRVO 165 zur Anwendung, der die Möglichkeit einer - der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vergleichbaren - "Nachsicht" vorsieht.
Der Kläger konnte nach der angeführten Vorschrift "Nachsicht" erwarten, wenn er ohne eigenes Verschulden verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten. Ein Verschulden liegt vor, wenn ein Beteiligter diejenige Sorgfalt außer acht läßt, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. Diese Sorgfaltspflicht ist nicht verletzt, wenn ein Beteiligter die ihm gesetzlich zugebilligte Frist zur Einlegung des Rechtsmittels voll ausnutzt; er hat das Recht, auch noch am letzten Tage der Berufungsfrist die Berufung einzulegen (vgl. BGHZ. Bd. 2 S. 31; BGHZ. Bd. 9 S. 118). Wie der BGH. zu § 233 ZPO, der strenger als § 36 MRVO 165 als Wiedereinsetzungsgrund Verhinderung "durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle" erfordert, überzeugend ausgeführt hat, sind die Maßnahmen, die ein Beteiligter zur Gewährleistung des rechtzeitigen Eingangs der Rechtsmittelschrift bei Gericht zu treffen hat, nach vernünftigen Überlegungen und den Zeitverhältnissen angemessenen Berechnungen zu bestimmen (BGHZ. Bd. 9 S. 118 = NJW 1953 S. 824, vgl. auch Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk d. BGH. Nr. 20 zu § 233 ZPO). In Zeiten störungsfreien und im allgemeinen pünktlichen Postverkehrs darf sich ein Beteiligter grundsätzlich darauf verlassen, daß die Post zuverlässig arbeitet. Er braucht nicht damit zu rechnen, daß ein von ihm abgesandter einfacher Brief mit einer den gegebenen Umständen nach außergewöhnlichen Verzögerung beim Gericht eingehen wird. Die Anforderungen an die von dem Beteiligten zu übende Sorgfalt würden in einer dem Zweck des Verfahrens nicht entsprechenden Weise überspannt werden, wenn ihm zugemutet würde, für die Beförderung der Berufungsschrift zu der normalen Beförderungszeit noch eine Sicherheitsspanne hinzuzurechnen. Deshalb hat das LSGer. sich zu Unrecht damit begnügt, die Richtigkeit der Behauptung des Klägers zu unterstellen, er habe die Berufungsschrift bereits zwei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist abgesandt. Diese Behauptung ist wesentlich und bedarf der Nachprüfung; denn wenn der Kläger die Berufungsschrift schon zwei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist zur Post gegeben haben sollte, so wäre der wider Erwarten verspätete Eingang beim Berufungsgericht nicht von ihm verschuldet, so daß ihm "Nachsicht" hätte gewährt werden müssen.
Da die Entscheidung somit eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erfordert, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Fundstellen