Leitsatz (amtlich)
Den Hinterbliebenen eines nach dem Zusammenbruch bis zu seinem Tode in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt gewesenen Versicherten, welche im Gegensatz zu dem Versicherten ihren Wohnsitz in den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Gebieten östlich der Oder und Neiße beibehalten haben, stehen Hinterbliebenenrenten jedenfalls dann zu, wenn bei Eintritt des Versicherungsfalles die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in der Person des Versicherten schon allein aus den von dem Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Beitragszeiten erfüllt sind.
Leitsatz (redaktionell)
Das oberschlesische Gebiet ist nicht Ausland. Die unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete sind nicht als Ausland anzusehen, da über ihr Schicksal noch nicht entschieden ist; sie stehen zwar unter polnischer Verwaltung, sind aber nicht Teile des polnischen Staates.
Normenkette
SVFAG § 8
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart vom 3. April 1957 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Klägerin zu 2a) die Waisenrente bis zum 31. Januar 1956 zu zahlen ist.
Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) sind die Waisen des am 29. Januar 1953 verstorbenen J... P... Dieser war von 1918 bis 1924 als Fleischerlehrling und von 1924 bis 1935 als Fleischergeselle in elterlichen Betrieb in Oberschlesien beschäftigt. Anschließend war er bis 1939 - ebenfalls in Oberschlesien - selbständiger Fleischermeister. Von 1939 bis 1945 leistete er Kriegsdienst und befand sich bis zum 3. April 1946 in Kriegsgefangenschaft, aus der er in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde. Ab 5. April 1946 war er bis zu seinen Tod bei der Deutschen Bundesbahn, zuletzt als Wagenputzer in Bahnbetriebswagenwerk München, versicherungspflichtig beschäftigt und hat während dieser Zeit 74 Beitragsmonate zurückgelegt. Die Kläger behielten - zunächst ihren Wohnsitz in Gleiwitz (Oberschlesien) bei. Die Klägerin zu 1) hat sich am 17. April 1954 wieder verheiratet.
Am 2. Februar 1953 stellte die Klägerin zu 1) für sich und die Kläger zu 2). Ihre Kinder, Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der Invalidenversicherung des Versicherten. Mit Bescheid vom 30. März 1955 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, weil den Klägern kein Anspruch zustehe, solange sie nicht im Gebiet der Bundesrepublik oder des Landes Berlin ihren Wohnsitz hätten. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FremdRG) vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 848) in der Fassung vom 21. Januar 1956 (BGBl. I S. 17) und vom 4. September 1956 (BGBl. I S. 707) seien nicht erfüllt, weil nach dieser Vorschrift nur solche versicherten Personen oder deren Angehörige Anspruch auf Leistungen gegen einen Versicherungsträger in Bundesgebiet hätten, die sich im Gebiet eines auswärtigen Staates aufhielten. Die Kläger hätten ihren Wohnsitz jedoch nicht im Gebiet eines auswärtigen Staates, sondern in einem unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Gebiet.
Das Sozialgericht (SG.) Stuttgart hat auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage die Beklagte am 2. Februar 1956 verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenrente ab 1. Februar 1953 zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG.) hat die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten durch Urteil vom 3. April 1957 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Witwenrente der Klägerin zu 1) nur bis zum 30. April 1954 zu gewähren ist, und hat die Revision zugelassen.
Da die Kläger nicht im Ausland lebten - Oberschlesien sei nach wie vor deutsches Gebiet - seien zwar die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Ziff. 2 FremdRG nicht erfüllt, den Klägern stehe aber der Anspruch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu, daß sie Deutsche seien und im Inland - wenn auch nicht in dem Gebiet der Bundesrepublik oder West-Berlins - lebten. Die Klägerin zu 1) habe allerdings, da sie wieder geheiratet habe, nur einen Anspruch auf Witwenrente bis zum 30. April 1954.
Gegen das ihr am 5. Juni 1957 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 25. Juni 1957, eingegangen beim Bundessozialgericht am 29. Juni 1957, Revision eingelegt und diese begründet. Sie ist der Auffassung, daß sich die Ansprüche der Kläger nach den Vorschriften des FremdRG, nicht dagegen unmittelbar nach den Vorschriften der RVO richteten, weil die Kläger außerhalb des Bundesgebietes und West-Berlins, aber dennoch nicht im Ausland wohnten. Die Voraussetzungen des FremdRG seien aber nicht erfüllt.
Die Beklagte hat, nachdem die Kläger am 6. November 1957 ins Bundesgebiet zugezogen sind, die Ansprüche der Kläger zu 2 c) und d) - die das 18. Lebensjahr in diesem Zeitpunkt noch nicht vollendet hatten - vom Zeitpunkt ihres Zuzugs an anerkannt.
Sie hat beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. April 1957 aufzuheben und unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen, soweit sie den Anspruch nicht anerkannt habe.
Die Kläger haben das in dem Schriftsatz vom 18. Dezember 1957 ausgesprochene Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen und erklärt, daß der Antrag auf Gewährung der Waisenrente für die vier Waisen zu 2 a) - d) von Anfang an nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen, d.h. zunächst nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der einzelnen Waisen gestellt sei.
Sie haben beantragt,
die Revision der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.
Sie halten die Gründe des angefochtenen Urteils für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das LSG. sie zugelassen hat. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.
Da die Beklagte die geltend gemachten Ansprüche der Kläger für die Zeit nach deren Zuzug in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland anerkannt hat und die Kläger dieses Anerkenntnis angenommen haben, ist der Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache erledigt (§ 101 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Dieses Anerkenntnis betrifft nur die Ansprüche, die auch noch für die Zeit nach dem Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht worden sind, d.h. die Ansprüche der Kläger zu 2 c) und d). Der Anspruch der Klägerin zu 1) ist bereits durch das Berufungsgericht - von den Klägern unangefochten und daher ihnen gegenüber bindend - auf den 30. April 1954 begrenzt worden und die Kläger zu 2) haben klargestellt, daß ihr Klageantrag auf Gewährung von Waisenrente auf die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres beschränkt ist.
Soweit die Sache noch in Streit befangen ist, ist die Revision der Beklagten unbegründet. Wie das LSG. zu Recht angenommen hat, richten sich die geltend gemachten Ansprüche nicht nach Abschnitt II des FremdRG, weil sich die Kläger während der allein noch streitigen Zeit nicht in Gebiet eines auswärtigen Staates aufgehalten haben (§ 8 FremdRG). Der damalige Wohnsitz der Kläger, Gleiwitz O/S, gehört zu den östlich der Oder und Neiße gelegenen Gebieten, die zwar unter polnischer Verwaltung stehen, aber nicht Teil des polnischen Staates sind, über deren Schicksal auf Grund des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 [vgl. Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin vom 2. August 1945 Ziff. VI und IX (Amtsblatt des Kontrollrats Egl. Bl. 1 S. 13 ff.)], vielmehr erst in einem künftigen Friedensvertrag entschieden werden soll. Die Beklagte irrt, wenn sie aus der Unanwendbarkeit des Abschnitts II des FremdRG den Schluß zieht, den Klägern stünden nun überhaupt keine Ansprüche zu. Sie verkennt, daß es sich bei Abschnitt II des FremdRG nur um eine Spezialregelung handelt. Liegt der durch sie geregelte Spezialtatbestand des Auslandsaufenthalts nicht vor, und sind auch die sonstigen Vorschriften des FremdRG nicht anwendbar, so greifen bei Rentenansprüchen gegen Versicherungsträger, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland oder im Lande Berlin haben, allein die allgemeinen Vorschriften, d.h. die der RVO ein. Auch die Vorschriften der Abschnitte I und III des FremdRG sind nicht anwendbar. Entgegen der Annahme der Beklagten handelt es sich bei den von den Klägern begehrten Renten nicht um Fremdrenten nach Abschnitt I des FremdRG. Selbst wenn der Versicherte in Oberschlesien vor dem Zusammenbruch Beiträge entrichtet haben sollte - was bisher nicht festgestellt ist -, würde es sich bei dieser Rente schon deshalb nicht um eine Fremdrente handeln, weil sich die Kläger während der allein noch streitigen Zeit nicht in den Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder des Landes Berlin aufgehalten haben (§ 1 FremdRG). Auch die Voraussetzungen des Abschnitts III des FremdRG liegen - offensichtlich - nicht vor, so daß sich die Ansprüche nach den Vorschriften der RVC richten. Der Umstand, daß die RVO in den deutschen Gebieten östlich der Oder und Neiße nicht mehr gilt, steht ihrer Anwendung auf den zu entscheidenden Fall nicht entgegen. Es ist grundsätzlich dasjenige Recht maßgebend, welches an dem Ort gilt, an dem die versicherungspflichtige Beschäftigung stattgefunden hat (Kaskel-Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, Berlin 1912 S. 28). Der Versicherte ist in der Bundesrepublik Deutschland pflichtversichert beschäftigt gewesen und hat schon allein mit den auf Grund dieser Beschäftigung zurückgelegten Beitragszeiten die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Jedenfalls gilt in einen solchen Falle das Recht des Ortes, an welchem diese versicherungspflichtige Beschäftigung stattgefunden hat, d.h. hier die RVO.
Nach den Vorschriften der RVO ist der Anspruch der Kläger begründet. Der Klägerin zu 1) steht die Witwenrente nach § 3 Abs. 1 und § 21 Abs. 5 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) ohne zusätzliche Voraussetzungen zu, weil sie nach dem 31. Mai 1949 Witwe geworden ist, und den Klägern zu 2 a) bis d) die Waisenrente, weil sie Kinder des Versicherten sind und der Versicherte schon allein mit den nach dem Zusammenbruch entrichteten Beiträgen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt hat. Die Witwenrente der Klägerin zu 1) ist mit Ablauf des Monats, in welchem sie sich wiederverheiratet hat, weggefallen, wie das LSG. bereits zu Recht entschieden hat (§ 1287 RVO a.F.). Den Klägern zu 2) steht die Waisenrente nach § 1258 RVO a.F. bis zum Ablauf des Monats, in welchem sie das 18. Lehensjahr vollendet haben, zu (§ 1288 RVO a.F.). Hinsichtlich der Klägerin zu 2 a), die bereits vor Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung das 18. Lebensjahr vollendet hatte, mußte das angefochtene Urteil richtiggestellt werden. Die Waisenrente der Kläger zu 2 b) - d) endet kraft Gesetzes mit dem Ablauf des Monats, in welchem sie das 18. Lebensjahr vollendet haben bzw. vollenden werden. Sollten sie sich in Berufsausbildung befinden, steht ihnen die Geltendmachung der Weitergewährung der Waisenrente offen, falls die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Beklagte ist für die Feststellung und Leistung der Renten zuständig, da der Versicherte bei ihr versichert war und sie für die Regelung aller Ansprüche zuständig ist, die aus Versicherungsverhältnissen entstehen, die aus einer Beschäftigung bei der Deutschen Bundesbahn herrühren.
Die Frage, ob die Rente aus devisenrechtlichen Gründen überwiesen werden kann, bedurfte schon deshalb keiner Untersuchung, weil die Kläger jetzt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz haben.
Die Revision mußte aus diesen Gründen zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen