Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletztenrente aus der Unfallversicherung. Rentenüberzahlung. Rentenrückforderung
Orientierungssatz
Der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung darf eine Leistung, die er in Ausführung der vorläufigen Vollziehbarkeit eines angefochtenen und später aufgehobenen sozialgerichtlichen Urteils gemäß § 154 Abs 2 SGG erbracht hat, grundsätzlich zurückfordern. Freilich darf der Träger der Unfallversicherung nach dem Wortlaut des § 628 Abs 1 S 2 RVO eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang der Leistung wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.
Normenkette
RVO § 628 Abs. 1 Sätze 1-2; SGG § 154 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.10.1971) |
SG Münster (Entscheidung vom 13.12.1957) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Oktober 1971 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Unter den Beteiligten ist in Streit, ob die beklagte Berufsgenossenschaft vom Kläger die in Ausführung eines nicht rechtskräftigen, später aufgehobenen sozialgerichtlichen Urteils erbrachten Leistungen zurückfordern darf.
Die Beklagte hatte dem Kläger durch Bescheid vom 23. Juli 1953 eine vorläufige Verletztenrente entzogen und Dauerrente versagt, weil die bei ihm bestehenden Gebrauchsbehinderungen des linken Arms nicht mehr auf den angeschuldigten Arbeitsunfall vom Jahre 1951, sondern auf eine Selbstschädigung durch Abschnürung des linken Oberarms zurückgehe. Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger zwar vor dem Sozialgericht (SG) Münster, nicht aber in der Berufungsinstanz vor dem Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen Erfolg: Mit Urteil vom 26. Oktober 1965 hob das LSG nach umfangreicher Beweisaufnahme das Verletztenrente zusprechende Urteil des SG Münster vom 13. Dezember 1957 auf und wies die Klage unter Bestätigung der von der Beklagten vertretenen Auffassung ab. Die gegen dieses Urteil eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht (BSG) verworfen.
Mit dem streitigen Bescheid vom 7. März 1968, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 2. April 1968, forderte die Beklagte vom Kläger die in Ausführung der vorläufigen Vollziehbarkeit des später rechtskräftig aufgehobenen Urteils des SG Münster vom 13. Dezember 1957 erbrachten Leistungen von insgesamt 9.877,27 DM zurück und ließ ihm zugleich nach, die Schuld vorerst ab 1. Mai 1968 in monatlichen Raten von 50,- DM abzutragen.
Mit der hiergegen erhobenen Klage ist der Kläger zwar wiederum vor dem SG, nicht aber in zweiter Instanz vor dem LSG durchgedrungen. Mit dem angefochtenen Urteil vom 21. Oktober 1971 hat das LSG das den Rückforderungsanspruch der Beklagten verneinende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Die Beklagte treffe an der Überzahlung kein Verschulden, und der Kläger genieße hinsichtlich der in Ausführung des später aufgehobenen Urteils gezahlten Leistungen keinen Vertrauensschutz; die Rückforderung in Form eines ratenweisen Schuldabtrags sei auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die zugelassene Revision des Klägers. Er bringt im wesentlichen vor: Er habe im Sinne des § 628 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht gewußt oder wissen müssen, daß ihm die streitigen Zahlungen nicht zustünden; er sei auch heute noch fest davon überzeugt, daß ihm die Leistungen zu Recht zugesprochen worden seien. Die Rückforderung sei auch nicht wirtschaftlich vertretbar; diese Prüfung habe sich auf den Zeitpunkt der ersten Entscheidung im Jahre 1960, nicht aber auf spätere Zeiten zu beziehen; auch lasse sich für die nächsten 15 Jahre - solange werde ihn die Entscheidung der Beklagten belasten - die Entwicklung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse gar nicht übersehen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Bescheid der Beklagten vom 13. März 1968 und den Widerspruchsbescheid vom 17. April 1966 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und verweist auf die einschlägige Rechtsprechung des BSG.
II.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Nach § 628 Abs. 1 Satz 1 RVO braucht der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eine Leistung nicht zurückzufordern, die er vor rechtskräftiger Entscheidung zahlen mußte. Das bedeutet, daß er eine Leistung, die er in Ausführung der vorläufigen Vollziehbarkeit eines angefochtenen und später aufgehobenen sozialgerichtlichen Urteils gemäß § 154 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erbracht hat, grundsätzlich zurückfordern darf Freilich darf der Träger der Unfallversicherung nach dem Wortlaut des § 628 Satz 2 RVO eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.
Dem für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden § 628 RVO entspricht für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung voll § 1301 RVO (= § 93 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -). Der erkennende Senat hat zu dieser Bestimmung in seinem Urteil vom 27. Februar 1973 (SozR Nr. 18 zu § 1301 RVO) entschieden, daß der Versicherungsträger eine Leistung, die er gemäß der o.g. Vorschrift vor rechtskräftiger Entscheidung in Ausführung der vorläufigen Vollziehbarkeit eines sozialgerichtlichen Urteils erbringen mußte, grundsätzlich zurückfordern darf, wenn das zusprechende Urteil später beseitigt wird; dabei hat der Senat hervorgehoben, daß § 93 Abs. 2 Satz 2 RKG auf einen solchen Fall der später beseitigten vorläufigen Vollziehbarkeit eines nicht rechtskräftigen Urteils nicht ausgerichtet und daher diese Bestimmung mit der Modifizierung anzuwenden ist, daß der Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers immer besteht, wenn nur die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Leistungsempfängers vertretbar ist (vgl. auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. August 1973 - 5 RKn 7/71 -). Diese Rechtsprechung des Senats gilt auch für die Auslegung des § 628 RVO.
Auch im vorliegenden Fall hängt demnach der Anspruch der Beklagten allein von der wirtschaftlichen Vertretbarkeit der Rückforderung ab. Das LSG ist dabei zu Recht davon ausgegangen, daß im Rahmen der hiernach anzustellenden Prüfung auch die nach Erlaß des Rückforderungsbescheids gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers zu berücksichtigen sind. Dem stehen die Urteile des BSG in SozR Nr. 11 zu § 47 VerwVG und SozR Nr. 8 zu 1308 RVO nicht entgegen: Im vorliegenden Fall hat die Beklagte, beginnend ab 1. Mai 1968, einen monatlichen wiederkehrenden ratenweisen Abtrag der Überzahlung angeordnet und somit einen Bescheid mit Dauerwirkung erlassen, der eine Berücksichtigung auch der nach Bescheiderlaß eintretenden Verhältnisse zuläßt und fordert.
Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 27. Februar 1963 (aaO) ferner bereits entschieden, daß die Rückforderung einer Überzahlung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers auch dann vertretbar ist, wenn dieser die zu Unrecht gezahlte Leistung zwar nicht in einer Summe, wohl aber in angemessenen monatlichen Raten zurückzahlen kann. In Übereinstimmung mit dem LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger, der nach seinen eigenen Angaben niemanden unterhaltspflichtig ist, seit 1968 bei einem Nettolohn von durchschnittlich mehr als 600,- DM monatlich zuzüglich der bis zum Jahr 1971 gewährten Bergmannsprämie sowie bei weiterer zusätzlicher Berücksichtigung der seit 1958 laufenden Bergmannsrente von zunächst 62,- DM, später 112,- DM monatlich wirtschaftlich durchaus in der Lage war und ist, 50,- DM monatlich von seiner ihm gegenüber der Beklagten obliegenden Schuld abzutragen.
Die nach allem unbegründete Revision war daher zurückzuweisen und zu entscheiden, daß Kosten nicht zu erstatten sind (§ 193 SGG).
Fundstellen