Leitsatz (amtlich)
Hat ein Versicherter - durch sein Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen - eine Rentenbewilligung vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht, so kann er sich auch dann nicht auf seinen guten Glauben bei dem späteren Empfang von Rentenleistungen berufen, wenn er in diesem Zeitpunkt infolge einer inzwischen eingetretenen Rentenneurose selbst an die nicht vorhandenen unfallbedingten Gesundheitsschädigungen glaubte.
Hat sich ein Versicherter durch sein Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen Leistungen vom Unfallversicherungsträger erschlichen, so steht der Rückforderung nicht entgegen, daß sich der Versicherte im Zeitpunkt der Rückforderung in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen befindet; bei der Zwangsvollstreckung sind allerdings die Zwangsvollstreckungsschutzvorschriften zu beachten (Anschluß an BSG vom 1972-06-29 2 RU 256/68 = SozR Nr 4 zu § 628 RVO).
Normenkette
RVO § 628 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 1971 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger bezog von der Beklagten wegen der angeblichen Folgen eines im Jahre 1939 erlittenen Arbeitsunfalls eine Unfallrente. Mit Bescheid vom 14. November 1966 hob die Beklagte alle zugunsten des Klägers ergangenen bisherigen Bescheide auf, soweit darin der Bemessung der Erwerbseinbuße des Klägers eine unfallbedingte Augenschädigung zugrunde gelegt worden war. Die dagegen erhobene Klage blieb vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz und dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz erfolglos. Die gegen das Urteil eingelegte Revision verwarf das Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluß vom 25. Juli 1967 als unzulässig. Das LSG hat in seinem Urteil ausgeführt, dem Kläger sei die Rente gewährt worden, weil nach den damals vorliegenden ärztlichen Gutachten der Kläger bei dem Arbeitsunfall im Jahre 1939 eine Augenverletzung erlitten, die zu einer Herabsetzung seines Sehvermögens und zur Einschränkung des Gesichtsfeldes geführt habe. Hierbei habe es sich um eine Fehldeutung gehandelt. Beim Kläger seien keine Augenschädigungen vorhanden, die mit dem Unfall im Jahre 1939 in Zusammenhang zu bringen seien. Wohl finde sich bei dem Kläger eine unfallunabhängige Augenanomalie in Form von Drusenpapillen. Dieser Befund habe aber bereits vor dem Unfall vorgelegen. Aufgrund der dem früheren Gutachten unterlaufenen Fehldeutung des beim Kläger vorliegenden Augenbefundes sei es dazu gekommen, daß er den ihn untersuchenden Ärzten jahrzehntelang ein stark vermindertes Sehvermögen sowie nicht unerhebliche Gesichtsfeldausfälle habe vortäuschen können. Der Kläger besitze auch heute noch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf beiden Augen, wenn nicht ein volles, so doch zumindest ein Sehvermögen von der Hälfte der Norm und die Fähigkeit des Lesens üblicher Buch- und Zeitungsschrift. Eine Gesichtsfeldeinschränkung habe ebensowenig wie das Vorhandensein eines Zentralskotoms festgestellt werden können. Er habe durch sein schuldhaftes Verhalten die Zugunstenbescheide erschlichen und durch sein Verhalten den Tatbestand des § 263 des Strafgesetzbuches (StGB) und auch die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 3 und 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfüllt. Eine Strafverfolgung sei lediglich wegen der inzwischen erfolgten Verjährung unterblieben. Wenn Prof. Dr. O in seinem Gutachten von 27. August 1966 die Möglichkeit einräume, der Kläger habe sich unter Umständen mittlerweile so sehr in eine Rentenneurose verstrickt, daß er selbst an einen - nicht vorhandenen - erheblichen Sehleistungsschwund glaube, so stehe dies den getroffenen Feststellungen nicht entgegen, daß der Kläger wissentlich und vorsätzlich gehandelt habe. Denn Prof. Dr. O habe andererseits klar zum Ausdruck gebracht, daß er jedenfalls in den ersten Jahren nach dem Unfall sicher bewußt getäuscht habe. Für die Entscheidung des Rechtsstreits komme es allein auf den Zeitpunkt der Rentengewährung im Jahre 1940 an, in dem von einer Rentenneurose noch keine Rede habe sein können.
Mit Bescheid vom 9. November 1967 forderte die Beklagte von dem Kläger den Betrag von 20305,50 DM für die Zeit vom 2. August 1939 bis zum 30. September 1964 für zu Unrecht gezahlte Leistungen zurück. Der vom Kläger eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 1968 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage hat das SG Koblenz mit Urteil vom 20. Januar 1969 abgewiesen. Auf die dagegen eingelegte Berufung hat das LSG Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 15. Juli 1971 das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, Rechtsgrundlage des Rückforderungsanspruchs sei der im allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch. Dieser sei gegeben, weil die den Kläger begünstigenden Bescheide aufgehoben und damit der Rechtsgrund für die dem Kläger gewährten Leistungen entfallen sei. Gleichwohl dürfe aber die Beklagte die somit zu Unrecht gewährten Leistungen vom Kläger nicht zurückfordern, weil die besonderen Rückforderungsvoraussetzungen des § 628 Satz 2 RVO nicht erfüllt seien. Hiernach sei die Rückforderung von drei Voraussetzungen abhängig: Die Beklagte dürfe für die Überzahlung kein Verschulden treffen, der Kläger müsse bei Empfang der Leistungen gewußt haben oder wissen müssen, daß ihm die Leistungen nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustanden und die Rückforderung müsse wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar sein. Diese Voraussetzungen müßten auch für solche Rückforderungen erfüllt sein, die in die Zeit vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) zurückreichten, wie sich aus Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG ergebe. Im vorliegenden Fall fehle es an der wirtschaftlichen Vertretbarkeit der Rückforderung. Es könne nicht unterstellt werden, daß der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 628 Satz 2 RVO nicht an die Fälle der durch Täuschung erlangten Leistungen gedacht habe. Durch die Prüfung, ob die Rückforderung nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Leistungsempfängers vertretbar sei, solle vermieden werden, daß bei unzulänglichen wirtschaftlichen Verhältnissen des Leistungsempfängers der Rückforderungsanspruch letzten Endes auf Kosten der Allgemeinheit realisiert werde, wenn dann dadurch der Verpflichtete schließlich der Sozialhilfe zur Last falle. Die wirtschaftliche Vertretbarkeit einer Rückforderung sei nach den Verhältnissen zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung zu prüfen und diese seien am 12. Februar 1968, dem Tag des Erlasses des Widerspruchsbescheids, nicht so gewesen, daß die Rückforderung nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers vertretbar gewesen sei. Wenn das aber nicht der Fall gewesen sei, komme es auf die Frage, ob die Beklagte für die Überzahlung ein Verschulden treffe und ob der Kläger bei Empfang der Leistungen wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistungen nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustanden, sowie auf die vom Kläger erhobene Einrede der Verjährung nicht mehr an. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Zur Begründung ihrer Revision trägt die Beklagte vor, § 628 RVO habe den Sinn, in bestimmten Situationen den Interessenwiderstreit zwischen Sozialversicherungsträger und Versichertem in angemessener Weise zu lösen. Hierzu zählten nicht die Fälle, in denen der Versicherte durch sein Verhalten den an sich in § 628 RVO enthaltenen Anspruch auf Schutz gegen Rückforderungsansprüche von vornherein verwirkt habe. Aus einem unser Rechtsleben beherrschenden Grundsatz ergebe sich, daß der absichtlich herbeigeführte Schaden regelmäßig zu ersetzen sei (§§ 823, 826 BGB). Es sei kein Grund ersichtlich, der eine Ausnahme gerade im Verhältnis des Versicherten zum Sozialversicherungsträger zulassen würde.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Juli 1971 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 20. Januar 1969 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger trägt vor, er habe bei dem Empfang der Leistungen weder gewußt noch wissen müssen, daß ihm diese Leistungen nicht zustanden. Er leide an einer Stauungspapille oder Drüsenpapille und seine Sehschärfe sei vermindert. Inwieweit die Erkrankung auf den Unfall vom 17. Februar 1939 zurückzuführen gewesen sei, habe von ihm nicht erkannt werden können. Interessant sei in diesem Zusammenhang, daß nach Ansicht von Prof. Dr. O zumindest infolge krankhafter Neurose eine Selbsttäuschung vorliegen könne. Es sei nicht auszuschließen, daß eine Neurose schon im Jahre 1940 entstanden sei, als man ihm eröffnet habe, er leide an einem Gehirntumor und es bestehe die Gefahr einer Erblindung. Außerdem sei auch zur Zeit der Erteilung des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 1968 die Rückforderung wegen seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vertretbar gewesen. Schließlich müsse gegebenenfalls auch geprüft werden, ob die Beklagte an der Überzahlung ein Verschulden treffe und ob die von ihm erhobene Einrede der Verjährung durchgreife.
II
Die zulässige Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. Die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen nicht aus, um über den Rechtsstreit abschließend zu entscheiden.
Die Bescheide, die zu den Leistungen geführt haben, sind mit rückwirkender Kraft bindend aufgehoben worden, so daß die zurückgeforderten Leistungen zu Unrecht gezahlt worden sind. Den daraus sich ergebenden öffentlich-rechtlichen Rückforderungsanspruch liegt der allgemeine Grundsatz des öffentlichen Rechts, der auch auf dem Gebiete des Sozialrechts gilt, zugrunde, daß ohne Rechtsgrund gewährte öffentlich-rechtliche Leistungen zurückgefordert werden können und zu erstatten sind (BSG 32, 52, 54 mit weiteren Nachweisen).
Nach § 628 Satz 2 RVO darf aber ein Träger der Unfallversicherung eine Leistung nur zurückfordern, wenn
1. ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft,
2. soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und
3. soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.
Da das LSG die letzte der in § 628 Satz 2 RVO genannten drei Voraussetzungen für nicht erfüllt ansah, hat es die beiden anderen Voraussetzungen und auch die Frage, ob die vom Kläger erhobene Einrede der Verjährung durchgreift, ungeprüft gelassen. Der erkennende Senat schließt sich aber der Auffassung, daß eine Rückforderung im vorliegenden Fall schon deshalb nicht erfolgen kann, weil sie wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht vertretbar ist, nicht an. Wie der 2. Senat des BSG in einem Urteil vom 29. Juni 1972 - 2 RU 256/68 - (SozR Nr. 4 zu § 628 RVO) zu Recht entschieden hat, steht dann, wenn sich der Versicherte die Leistungen von einem Unfallversicherungsträger durch eine Vortäuschung erschlichen hat, der Rückforderung nicht entgegen, daß sich der Leistungsempfänger im Zeitpunkt der Rückforderung in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen befunden hat. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Bei einer Zwangsvollstreckung sind allerdings, worauf der 2. Senat auch bereits hingewiesen hat, die Vorschriften über den Vollstreckungsschutz (§ 115 Abs. 1 RVO, § 5 VerwVollStrG i. V. m. §§ 350, 369 AO i. V. m. §§ 811 bis 813, 850 bis 852 ZPO) anzuwenden, so daß die Existenzgrundlage der Empfänger erschlichener Leistungen gesichert ist.
Die drei in § 628 Satz 2 RVO genannten Voraussetzungen müssen daher grundsätzlich kumulativ erfüllt sein, jedoch kommt dem vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Verhalten des Leistungsempfängers bei der Anwendung des § 628 Satz 2 RVO eine besondere Bedeutung zu, die Ausnahmen von dem Erfordernis der kumulativen Erfüllung der drei Voraussetzungen rechtfertigen. So hat der erkennende Senat zu dem dem § 628 Satz 2 RVO inhaltlich gleichlautenden § 93 Abs. 2 Satz 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) entschieden, daß selbst dann, wenn dem Versicherungsträger an der Überzahlung ein Verschulden trifft, aber auch der Rentenempfänger durch sein Handeln oder ein pflichtwidriges Unterlassen die Überzahlung vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht hat, der Versicherungsträger gegen den Empfänger der Leistungen grundsätzlich Anspruch auf eine Rückerstattung hat (SozR Nr. 16 zu § 1301 RVO). Bei der Rückforderung einer vom Leistungsempfänger vorsätzlich oder grobfahrlässig verursachten Rentenleistung kann sich dieser auch nicht auf seinen guten Glauben bei dem späteren Empfang von Rentenleistungen berufen, wenn er sich in diesem Zeitpunkt so sehr in eine inzwischen eingetretene Rentenneurose verstrickt hat, daß er nun selbst an die nicht vorhandenen unfallbedingten Gesundheitsschädigungen glaubte. Die erste Regelung des § 628 Satz 2 RVO erfaßt die schuldhafte Verursachung einer Überzahlung durch den Versicherungsträger. Der Fall, daß der Versicherte die Überzahlung vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht oder mitverursacht hat, ist in § 628 Satz 2 RVO nicht ausdrücklich geregelt, denn die zweite und dritte Regelung in dieser Vorschrift, die sich mit dem Versicherten befassen, stellen auf spätere Zeitpunkte, nämlich auf den Empfang der Leistung und auf deren Rückforderung ab. Wie aber der erkennende Senat in dem o. a. Urteil entschieden hat, ist eine Rückforderung auch möglich, wenn der Versicherte die Leistung vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht oder mitverursacht hat. Liegt aber schon ein solcher Fall vor, so kommt es nicht mehr darauf an, ob der Versicherte später bei dem Empfang der Leistung gutgläubig war. Denn das zur rechtswidrigen Rentenfeststellung führende Verhalten des Versicherten hat mittelbar auch die Überzahlung zur Folge, ohne daß der spätere gute Glaube des Versicherten hieran etwas ändern könnte. Auch durch die o. a. Entscheidung des 2. Senats des BSG, nach welcher das Erschleichen einer Leistung zur Folge hat, daß es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten grundsätzlich nicht ankommt, wird letztlich das Erfordernis, daß alle drei Voraussetzungen des § 628 Satz 2 RVO kumulativ erfüllt sein müssen, eingeschränkt.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es also nach diesen Grundsätzen darauf an, ob der Kläger durch sein Handeln oder durch ein pflichtwidriges Unterlassen die rechtswidrige Rentenfeststellung und Überzahlung der zurückgeforderten Leistungen vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht hat, bzw. ob er sogar die Leistungen erschlichen hat. Hierüber hat das LSG in dem anhängigen Verfahren keine Feststellungen getroffen. Feststellungen, die hierüber in einem früheren Verfahren getroffen, aber von der Rechtskraft einer in dem früheren Verfahren getroffenen Entscheidung nicht erfaßt werden, können die notwendigen Feststellungen nicht ersetzen. Da das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht treffen kann, müßte deshalb der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden, es sei denn, die vom Kläger erhobene Einrede der Verjährung griffe in jedem Falle durch. Sie greift aber hier in keinem Falle durch, denn die Verjährung beginnt frühestens mit dem rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens, in dem die zugunsten des Klägers ergangenen Bescheide, die zur Überzahlung führten, aufgehoben worden sind, d. h. also mit der Rechtskraft des Beschlusses des BSG vom 25. Juli 1967. Die Beklagte hat aber bereits wenige Monate später ihren Rückforderungsanspruch mit dem Bescheid vom 9. November 1967 erhoben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen