Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE. Berufsaufgabe. besondere Kenntnisse
Orientierungssatz
Der Umstand, daß der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalles seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, bewirkt nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung hinausgehende Höherbewertung der MdE. Vielmehr sind auch nach § 581 Abs 2 RVO aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalls bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen, die der Verletzte infolge des Unfalls nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens wirtschaftlich verwerten kann, bei der Schätzung der MdE zu berücksichtigen (vgl BSG 1965-08-25 2 RU 52/64 = BSGE 23, 253).
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-07-01
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 13.05.1965) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 06.09.1963) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Mai 1965 wird zurückgewiesen, soweit die Beklagte zur Gewährung einer Dauerrente an den Kläger nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. für die Zeit vom 1. Mai 1963 bis zum 30. April 1964 verurteilt worden ist.
Im übrigen wird das Berufungsurteil aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. September 1963 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I
Der im August 1941 geborene Kläger lernte von April 1957 bis März 1960 den Beruf des Ofensetzers und legte die Gesellenprüfung ab. Im Winter 1960/1961 fand er keine Beschäftigung in diesem Beruf. Im April 1961 war der Kläger Hilfsarbeiter in einem chemischen Betrieb und erlitt dort am 27. April 1961 einen Arbeitsunfall, durch den er sich am linken Arm eine Radiusfraktur und Weichteilwunden zuzog. Wegen langwieriger Heilung der Fraktur wurde der Kläger erst am 3. Juli 1962 wieder arbeitsfähig. Die Beklagte gewährte ihm eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. bis Ablauf Oktober 1962, anschließend nach einer MdE von 20 v.H. Diese Rente entzog die Beklagte und lehnte gleichzeitig die Gewährung einer Dauerrente ab (Bescheid vom 27. März 1963); sie nahm auf Grund eines chirurgischen Gutachtens an, die jetzt noch vorhandenen Unfallfolgen - mäßige Bewegungsbehinderung der linken Hand und leichte Schwäche des linken Armes - verursachten nur noch eine MdE von 10 v.H.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Klage auf Gewährung einer Dauerrente vom 1. Mai 1963 an abgewiesen.
Durch Urteil vom 13. Mai 1965 (Breith. 1965, 823) hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg die Beklagte zur Gewährung einer Dauerrente von 20 v.H. seit dem 1. Mai 1963 verurteilt: Nach medizinischen Gesichtspunkten sei die unfallbedingte MdE bis zum 30. April 1964 mit 20 v.H., vom 1. Mai 1964 an mit 10 v.H. zu bewerten. Aus rechtlichen Gründen stehe dem Kläger jedoch die Dauerrente von 20 v.H. auch über den 30. April 1964 hinaus zu. Nach § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO, Fassung seit dem 1. Juli 1963) seien bei der MdE-Schätzung berufliche Schäden nicht mehr allein in extremen Fällen von Spezialberufen zu berücksichtigen; vielmehr sei die aus medizinischen Gründen bestehende MdE auch in den Fällen zu erhöhen, in denen der Verletzte durch nachhaltige Behinderung in der Ausübung seines erlernten Handwerks benachteiligt werde. Der Ofensetzerberuf, von dem sich der Kläger zur Zeit des Unfalls noch nicht gelöst habe, erfordere besondere Kraft und Fertigkeit beider Hände. Diesen Anforderungen genüge der Kläger nicht mehr wegen der Folgen des linksseitigen Unterarmbruchs. Es sei angemessen, für die dauernde berufliche Behinderung des Klägers die MdE um 10 v.H. zu erhöhen, so daß die Dauerrente von 20 v.H. auch noch nach dem 30. April 1964 weiterzugewähren sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 2. Juni 1965 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30. Juni 1965 Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Innerhalb der bis zum 2. September 1965 verlängerten Frist hat die Beklagte die Revision begründet und hierbei unrichtige Anwendung des § 581 Abs. 2 RVO gerügt. U.a. trägt sie vor, besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen könnten nicht bei einem Verletzten anerkannt werden, der - wie hier der Kläger - den Arbeitsunfall schon knapp nach Ablegung der Gesellenprüfung erlitten und daher noch keine nennenswerte Berufspraxis aufzuweisen habe; zu Unrecht habe das LSG angenommen, § 581 Abs. 2 RVO bedeute eine Abkehr von der vor dem 1. Juli 1963 in der Rechtsprechung herrschenden Auffassung und habe dem Begriff der MdE einen völlig neuen Inhalt verliehen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.
II
Die zulässige Revision der Beklagten hatte nur zum Teil Erfolg.
Sie ist unbegründet, soweit die Beklagte ihre Verurteilung zur Gewährung einer Dauerrente von 20 v.H. für die Zeit vom 1. Mai 1963 bis zum 30. April 1964 beanstandet. Bezüglich dieses Zeitraums hat das LSG angenommen, daß beim Kläger noch eine unfallbedingte MdE von 20 v.H. bestanden hat. Die hiergegen gerichteten Revisionsangriffe treffen nach Meinung des erkennenden Senats nicht zu. Das LSG hat - bei eingehender Auseinandersetzung mit den ihm vorliegenden ärztlichen Gutachten - sich der vom Sachverständigen Dr. R vertretenen Auffassung angeschlossen und dabei besonders hervorgehoben, daß der sehr komplizierte und langwierige Heilverlauf sowie die vom Kläger zu bewältigende Umgewöhnung von der linken auf die rechte Hand als Gebrauchshand sich zur Zeit der ersten Dauerrentenfeststellung noch zu stark ausgewirkt haben, als daß vom 1. Mai 1963 an die MdE auf weniger als 20 v.H. geschätzt werden konnte. Diese Erwägungen sind frei von Bedenken, sie halten sich innerhalb der Grenzen der insoweit gebotenen richterlichen Ermessensausübung (vgl. BSG 4, 147), begründete Rügen hiergegen enthält auch nicht der speziell diesem Thema gewidmete Revisionsschriftsatz vom 23. August 1965.
Mit Recht wendet sich die Revision indessen gegen die Zubilligung einer Dauerrente von 20 v.H. an den Kläger, soweit es sich um die Zeit vom 1. Mai 1964 an handelt. Insofern beruht das angefochtene Urteil auf unrichtiger Anwendung des § 581 Abs. 2 RVO. Die nach dieser Vorschrift für eine höhere Einschätzung der MdE erforderlichen Voraussetzungen liegen beim Kläger - nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen - nicht vor. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 25. August 1965 (BSG 23, 253) eingehend dargelegt hat, bewirkt der Umstand, daß der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalles seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung hinausgehende Höherbewertung der MdE. Vielmehr sind - im wesentlichen übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung - auch nach § 581 Abs. 2 RVO aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalls bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen, die der Verletzte infolge des Unfalls nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens wirtschaftlich verwerten kann, bei der Schätzung der MdE zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall hat das LSG nicht näher dargetan, inwiefern der Kläger, der nach Erlernung des Ofensetzerhandwerks diesen Spezialberuf nicht einmal mehr in nennenswertem Umfang praktisch ausgeübt hatte, sich bestimmte, im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO zu berücksichtigende besondere Kenntnisse und Erfahrungen angeeignet haben könnte. Wie die Gründe des angefochtenen Urteils vielmehr erkennen lassen, hat das LSG den Umstand, daß der Kläger eine Berufslehre absolviert hatte, pauschal beurteilt und allein schon hierauf eine Höherbewertung der - seit dem 1. Mai 1964 ärztlicherseits nur noch auf 10 v.H. geschätzten - MdE gestützt.
Dies bedeutet, wie die Revision zutreffend gerügt hat, eine Fehlinterpretation des § 581 Abs. 2 RVO. Hinsichtlich der Verurteilung zur Dauerrentengewährung vom 1. Mai 1964 an muß demnach das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hamburg vom 6. September 1963 zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Bei der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung hat der Senat berücksichtigt, daß die Beklagte den seinerzeitigen, der Sach- und Rechtslage entsprechenden Vergleichsvorschlag des LSG abgelehnt hatte.
Fundstellen