Leitsatz (amtlich)
1. Ein Versicherter, der außerhalb des Bezirks seiner KK erkrankt, aber zur Rückkehr an seinen Wohnort imstande ist, kann grundsätzlich die Erstattung der zur Rückbeförderung erforderlichen Kosten beanspruchen, auch wenn der Wohnort vom Ort der Erkrankung "unverhältnismäßig weit entfernt liegt" (Abweichung von RVA 1933-03-03 IIa K 161/32 = AN 1933 4, 179).
2. Der Erstattungsanspruch beschränkt sich jedoch auf den Teil der Beförderungskosten, der ausschließlich durch die Krankheit selbst bedingt ist, umfaßt mithin nicht die Kosten, die schon durch die Reise veranlaßt sind; nicht zu erstatten braucht die KK deshalb im allgemeinen Kosten, die durch die Rückreise an den Wohnort mit einem regulären Verkehrsmittel entstehen oder entstanden wären, wenn der Versicherte ein solches Verkehrsmittel benutzt hätte.
3. Auch ausschließlich krankheitsbedingte Transportkosten braucht die KK dann nicht zu erstatten, wenn sie dem auswärts erkrankten Versicherten am Erkrankungsort die erforderliche Krankenhilfe zur Verfügung gestellt hat, es sei denn, daß der Versicherte einen zwingenden Grund hatte, diese "nächsterreichbare" Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen, sondern sich an seinem Wohnort behandeln zu lassen.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 2 Fassung: 1930-07-26, § 220 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der beklagten Krankenkasse gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. September 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, ein bei der beklagten Krankenkasse versicherter Rentner, beansprucht die Erstattung von Beförderungskosten, die durch seine Rückführung aus einem österreichischen Kurort in ein Krankenhaus seiner Heimatstadt B entstanden sind.
Anfang Juni 1968 erlitt der damals 73-jährige Kläger während einer zwei Wochen vorher angetretenen, privaten Erholungskur in Bad H einen Schlaganfall. Seine behandelnden Ärzte hielten einen Rücktransport nach B "nur mit dem Rettungswagen", auf keinen Fall mit dem Flugzeug für möglich. Darauf wurde er am 12. Juni 1968 mit einem österreichischen Krankenwagen in ein B Krankenhaus überführt und dort bis Ende Juli 1968 stationär behandelt; die Transportkosten betrugen umgerechnet 878,65 DM.
Die Beklagte lehnte eine Erstattung dieser Kosten ab, weil der Kläger die notwendige Krankenhausbehandlung auch in Österreich hätte erhalten können; außerdem sei der Erkrankungsort unverhältnismäßig weit von dem "Erfüllungsort" ihrer Krankenhilfeleistungen (B) entfernt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Erstattung von 807,25 DM verurteilt; es hat dabei nur die auf innerdeutsches Gebiet entfallenden Transportkosten berücksichtigt und sie ferner um die Kosten gekürzt, die der Kläger bei einer Rückfahrt mit der Eisenbahn selbst hätte aufwenden müssen.
Die Berufung der Beklagten blieb - abgesehen von einer geringfügigen Ermäßigung des Erstattungsbetrages auf 800,35 DM - ohne Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) hat die Krankenkasse ihre Krankenhilfe grundsätzlich im Kassenbezirk als dem Erfüllungsort ihrer Leistungen zu erbringen und auch die dazu notwendigen Transportkosten - ohne Rücksicht auf die Entfernung zwischen dem Wohn- und dem Erkrankungsort des Versicherten - zu übernehmen. Ob und inwieweit solche Kosten im Sinne der §§ 182 Abs. 2, 368 e der Reichsversicherungsordnung (RVO) notwendig seien, richte sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Erkrankung des Versicherten. Hier hätte der Kläger zwar die gleiche Behandlung wie in B auch in einem nahegelegenen österreichischen Krankenhaus (S/P) erhalten können. Angesichts der ungewissen Dauer der Behandlung sei ihm aber ein Verbleiben in Österreich nicht zuzumuten gewesen; er habe vielmehr das "gute Recht" gehabt, sich, sobald medizinisch möglich, in seiner Wohnung und Familie pflegen und ärztlich behandeln zu lassen. Tatsächlich sei er schon Ende Juli 1968 wieder in häusliche Pflege entlassen worden, was bei einer Krankenhausbehandlung in Österreich nicht möglich gewesen wäre. Da er auch später nicht mit einem öffentlichen Verkehrsmittel habe reisen können, sei der hier erfolgte Krankentransport zweckmäßig gewesen. Die Beklagte habe daher dessen Kosten zu erstatten, und zwar unter Berücksichtigung auch des außerdeutschen Streckenabschnitts, jedoch unter Anrechnung des Preises einer normalen Eisenbahnfahrt von Bad H nach Berlin in Höhe von 78,30 DM (Urteil vom 16. September 1970).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt: Für den Rücktransport des Klägers nach Berlin habe kein zwingender Grund (§ 368 d Abs. 2 RVO) bestanden, da nach dem deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommen die erforderliche Heilbehandlung auch in Österreich möglich gewesen wäre. Im übrigen hätte der Kläger nach der bisher herrschenden Auffassung einen Erstattungsanspruch nur gehabt, wenn seine Wohnung vom Erkrankungsort nicht unverhältnismäßig weit entfernt gewesen wäre, der Transport die Beklagte also nicht unbillig belastet hätte. Die - vom LSG bejahte - Frage der Zweckmäßigkeit der Verlegung müsse außer Betracht bleiben, weil sie sich nur "retrospektiv" beantworten lasse. Wer, wie der Kläger, durch eine Auslandsreise einen "zusätzlichen Risikobereich" schaffe, könne von seiner Krankenkasse nicht den Ausgleich sämtlicher aus einer Erkrankung im Ausland erwachsenden Nachteile verlangen. Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der beklagten Krankenkasse ist unbegründet. Das LSG hat sie mit Recht für verpflichtet gehalten, dem Kläger die streitigen Transportkosten zu erstatten.
Gegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung sind die im zweiten Buch der RVO vorgeschriebenen Leistungen der Krankenkassen (§ 179 RVO). Die §§ 182 ff RVO, die hier allein in Betracht kommen, sehen als Leistungen der Krankenhilfe die Beförderung eines Versicherten zum Arzt oder Krankenhaus bzw. die Erstattung der dafür aufgewendeten Kosten nicht ausdrücklich vor. Gleichwohl gehören auch sie - als unselbständige Nebenleistungen - zu der von den Krankenkassen zu gewährenden Krankenhilfe, wenn ohne sie die "Hauptleistungen" der Krankenhilfe, insbesondere die ärztliche Behandlung und die Krankenhauspflege, nicht erbracht werden können (vgl. BSG 28, 253; SozR Nr. 15 zu § 184 RVO und Nr. 8 zu § 19 BVG).
Das gilt grundsätzlich auch in den Fällen, in denen ein Versicherter außerhalb des Kassenbezirks erkrankt. Zwar ist bisher als "Erfüllungsort" der Krankenhilfe in der Regel nur der Bezirk der jeweiligen Krankenkasse angesehen worden, weil die Kassen "als örtlich begrenzte Einrichtungen" (AN 1920, 332, 333 unten) nur innerhalb dieses Bereichs die ihnen obliegenden Sachleistungen, namentlich die ärztliche Behandlung, sicherstellen könnten (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Auflage, § 182 Anm. 7; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Auflage, S. 443; Hoffmann in Hanow-Lehmann, Kommentar zur RVO, 2. Band, 8. Auflage, § 182 Anm. 3, S. 82). Indessen hat schon das Reichsversicherungsamt (RVA) aus der Beschränkung der Leistungspflicht auf den jeweiligen Kassenbezirk nicht den Schluß gezogen, daß ein außerhalb dieses Bezirks erkrankter Versicherter sich auf eigene Kosten an den Erfüllungsort begeben müsse, um dort die Kassenleistungen in Empfang zu nehmen. Vielmehr hat schon das RVA - mit einer noch zu erörternden Einschränkung - anerkannt, daß ein auswärts erkrankter Versicherter, dessen Zustand die Rückkehr an den Wohnort erlaube, ebendort von seiner Kasse die Gewährung der Krankenhilfe, insbesondere der ärztlichen Hilfe, verlangen und "bei dieser Rechtslage" auch die Erstattung der durch die Rückbeförderung entstehenden Reisekosten "als Teil der von der Kasse zu tragenden Kosten der ärztlichen Behandlung" beanspruchen könne (GE 4579, AN 1933 S. IV 179, 180 = EuM 34, 64, 66).
Dieser Auffassung ist beizutreten. Wenn nämlich ein auswärts erkrankter, aber rückkehrfähiger Versicherter von einer anderen Krankenkasse, namentlich der Kasse des Aufenthaltsortes, keine Krankenhilfe erhält (§ 220 RVO), er also auf die Hilfe seiner eigenen Kasse angewiesen ist, dann muß ihm diese grundsätzlich durch Übernahme der Rückreisekosten auch die Möglichkeit geben, ihre Leistungen in Anspruch zu nehmen. Andernfalls könnte ein Versicherter, dem die für die Rückreise erforderlichen Geldmittel fehlen, sein Recht auf Krankenhilfe praktisch nicht verwirklichen (vgl. hierzu eine in EuM 34, 64, 66 mitabgedruckte Entscheidung des sächs. OVG).
Nicht beitreten kann der Senat dagegen dem RVA insoweit, als es aaO den Anspruch eines auswärts erkrankten Versicherten auf Ersatz der Rückreisekosten davon abhängig gemacht hat, daß der Ort der Erkrankung von der Wohnung des Versicherten "nicht unverhältnismäßig weit entfernt liegt". Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich einer eindeutigen Abgrenzung des genannten Merkmals entgegenstellen - in der Rechtsprechung sind insoweit unterschiedliche Kilometerwerte genannt worden (vgl. Gura in WzS 1956, 38, 40 f; Albrecht, Die Krankenversicherung 1956, 212, 214) -, führt die Auffassung des RVA in vielen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen, vor allem wegen der ungleichen Behandlung des Versicherten. So würden die außerhalb des Kassenbezirks, aber noch in dessen Nähe erkrankten Versicherten vollen Ersatz ihrer Beförderungskosten, alle anderen Versicherten dagegen nichts oder allenfalls denjenigen Teil der Reisekosten erhalten, der einer "nicht unverhältnismäßig weiten" Entfernung entspricht. Im übrigen wird die Auffassung des RVA, wie das LSG mit Recht betont hat, den heutigen, gegenüber früher wesentlich gewandelten Reise- und Urlaubsgewohnheiten breiter Bevölkerungskreise nicht mehr gerecht. Auch würde sie für viele Versicherte eine erhebliche Härte bedeuten, und zwar besonders für die Mitglieder der beklagten Krankenkasse, die sich bei nahezu jeder Urlaubsreise "verhältnismäßig weit" von ihrem Wohnort Berlin entfernen müssen.
Auf der anderen Seite ist dem RVA aaO darin zuzustimmen, daß der Gesetzgeber den Krankenkassen mit der Verpflichtung zum Ersatz von Reisekosten keine "unbillige Belastung" hat auferlegen wollen (ähnlich schon AN 1916, 739, 741 unten). Eine solche Belastung wird indessen schon dann vermieden, wenn die Erstattungspflicht der Krankenkasse gegenüber auswärts erkrankten Mitgliedern auf solche Beförderungskosten beschränkt wird, die ausschließlich und unmittelbar mit der Krankheit selbst zusammenhängen, wenn also diejenigen Kosten ausgeschieden werden, die schon durch die Reise veranlaßt und daher ihr zuzurechnen sind. Das sind im allgemeinen die Kosten, die durch die Rückreise zum Wohnort mit einem regulären Verkehrsmittel entstehen oder entstanden wären, wenn der Versicherte ein solches Verkehrsmittel benutzt hätte. Diesen Teil seiner Aufwendungen hat er mithin selbst zu tragen, so daß zu Lasten der Krankenkasse lediglich die Mehrkosten gehen, die mit der Benutzung eines besonderen Beförderungsmittels anstelle des allgemein üblichen verbunden sind, im vorliegenden Fall also die Kosten des Krankenwagens, soweit sie den Preis der Eisenbahnfahrt von Bad Hofgastein nach Berlin übersteigen; dabei ist mit dem LSG kein Unterschied zu machen zwischen den Kosten, die auf den inner- und denen, die auf den außerdeutschen Streckenabschnitt entfallen.
Selbst ausschließlich krankheitsbedingte Transportkosten braucht die Krankenkasse dann nicht zu erstatten, wenn sie dem auswärts erkrankten Versicherten an seinem Erkrankungsort die erforderliche Krankenhilfe zur Verfügung gestellt hat, es sei denn, daß der Versicherte einen zwingenden Grund hatte, diese "nächsterreichbare" Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen, sondern an seinen Wohnort zurückzukehren und sich dort behandeln zu lassen (vgl. § 368 d Abs. 2 RVO). Ob ein solcher Grund vorliegt, kann nur anhand der Umstände des einzelnen Falles beurteilt werden. Dabei sind allerdings keine allzu strengen Maßstäbe anzulegen, wenn es sich, wie hier, um einen alten Menschen handelt, der fern von seinen Angehörigen plötzlich von einer schweren Krankheit befallen wird, deren Behandlung nach Dauer und Erfolgsaussicht völlig ungewiss ist. Einem solchen Versicherten ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ein Verbleiben am Erkrankungsort in der Tat nicht zuzumuten, sobald sich für ihn medizinisch die Möglichkeit eines Rücktransports, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, eröffnet. Die Unzumutbarkeit der Behandlung am Erkrankungsort ist hier als zwingender Grund für die Rückkehr an den Wohnort anzuerkennen.
Daß der Transport des Klägers mit einem Krankenwagen den Umständen nach notwendig war (§ 182 Abs. 2 RVO), stellt auch die Beklagte nicht in Abrede; ebensowenig wird die Höhe der entstandenen Transportkosten von ihr beanstandet. Das LSG hat sie deshalb mit Recht zur Erstattung des noch streitigen Betrages verpflichtet. Ihre Revision ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1669344 |
BSGE, 225 |