Leitsatz (amtlich)
Ist der Anspruch auf Pflegezulage (BVG § 35 Abs 1) mangels Hilflosigkeit abgelehnt worden und ist hiergegen eine Klage anhängig, so wird ein später ergehender Bescheid, mit dem die Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Hirnschädigung auf mehr als 90 % abgelehnt wird, Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1973-12-18; SGG § 96 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. August 1974 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger bezieht wegen Hirnleistungsschwäche nach Hirnquetschung und Fleckfieberentzündung sowie wegen Verformung des rechten Querfortsatzes des vierten Lendenwirbels Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70%. Im Februar 1967 beantragte er die Gewährung einer Pflegezulage, weil er unter cerebralen Krampfanfällen leide und ständiger Begleitung bedürfe. Die Versorgungsverwaltung konnte sich - nach Auswertung ärztlicher Gutachten - nicht von der Anspruchsberechtigung des Klägers überzeugen und lehnte die begehrte Leistung ab (Bescheid vom 10. Oktober 1969; Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 1973).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil des SG Hannover vom 19. März 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil des LSG Niedersachsen vom 15. August 1974). Den Beweisresultaten entnahm das Berufungsgericht, daß der Kläger nicht dauernd fremde Hilfe benötige. Ein Anfallsleiden der behaupteten Art habe sich nicht bestätigen lassen. Auch gehöre der Kläger nicht zu dem Personenkreis der erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten. Dazu wäre erforderlich, daß seine Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt sei (§ 31 Abs. 3 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - in der bis zur Änderung dieser Gesetzesstelle gemäß dem 7. Gesetz über die Anpassung der Leistungen des BVG vom 9. Juni 1975, BGBl I, 1321, geltenden Fassung). Er beziehe aber Rente wegen einer MdE von 70%. Infolgedessen scheide die Möglichkeit aus, daß ihm - als Hirnbeschädigten - Pflegezulage ohne Prüfung der Hilflosigkeit zustehe (§ 35 Abs. 1 Satz 4 BVG). Allerdings schwebe über die Höhe der MdE noch ein weiterer Prozeß. - Damit dürfte das Verfahren SG Hannover S 17 V 14/74 gemeint sein. Der auf Verschlimmerung der Schädigungsfolgen gestützte Antrag war durch Bescheid vom 12. November 1973 und Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 1974 abgelehnt worden. Dies ist Gegenstand des oben erwähnten Prozesses vor dem SG Hannover. - Hierzu hat das LSG ausgeführt: Im Hinblick auf die Forderung nach Rentenerhöhung brauche die Verhandlung dieses Rechtsstreits nicht ausgesetzt zu werden. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III, VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I, 1625).
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 Abs. 1, 112 Abs. 2 Satz 2 SGG) sowie der §§ 96 und 123 SGG. Er beanstandet, daß sein Prozeßbegehren vom Gericht unzulässigerweise verkürzt worden sei. Er habe, wie aus der Klagebegründung, der Berufungsbegründung und seinem Schriftsatz vom 4. Mai 1975 hervorgehe, erkennbar gefordert, daß seine MdE mit einem Grad von 100 v. H. bewertet und ihm die Pflegezulage nach Stufe III zuerkannt werde. Das Gericht habe aber lediglich einen Antrag auf Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der Pflegezulage nach Stufe I entgegengenommen. Bei seiner Entscheidung habe es nur diejenigen Verwaltungsakte geprüft, die sich auf die Frage der Hilflosigkeit des Klägers bezogen. Es habe sich aber in dem Prozeß nicht damit befaßt, daß der Kläger auch einen Antrag wegen Verschlimmerung seiner anerkannten Gesundheitsstörungen gestellt und die Verwaltung ihn hierüber - noch während des gegenwärtigen Rechtsstreits über den Anspruch auf Pflegezulage - negativ beschieden habe. - An dem Verfahren des Berufungsgerichts hat der Kläger ferner auszusetzen, daß das Berufungsgericht die ärztlichen Stellungnahmen jenes Verfahrens nicht verwertet sowie die Akten eines früheren Prozesses (des SG Hannover, S 18 V 299/66), eines parallel laufenden Streitverfahrens über einen Berufsschadensausgleich - S 17 V 163/73 -, sowie arbeitsamtsärztliche Vorgänge nicht beigezogen habe. - Außerdem vermißt der Kläger, daß das LSG sich "Hand-" bzw. "Spruchhandakten" der Versorgungsbehörde nicht habe vorlegen lassen, obgleich in den beigezogenen Akten auf diese Unterlagen Bezug genommen worden und aus ihnen die nähere Bezeichnung der Schädigungsfolgen (Hirnleistungsschwäche nach Hirnquetschung und Fleckfieberentzündung) hervorgegangen sei.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Urteile sowie unter Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, dem Kläger Pflegezulage nach Stufe I ab 1. Oktober 1965 zu gewähren;
hilfsweise:
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung, Art. III, VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I, 1625) und hat Erfolg. Der Kläger hat einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens zutreffend gerügt.
Die Bescheide vom 12. November 1973 und 8. Januar 1974, mit denen die Versorgungsverwaltung - nach Erhebung der gegenwärtigen Klage - die vom Kläger geforderte Anhebung der MdE über 70 v. H. hinaus ablehnte, sind Gegenstand des gegenwärtigen Rechtsstreits geworden. Diese Rechtsfolge ist zwar nicht unmittelbar dem Wortlaut des § 96 Abs. 1 SGG, wohl aber seinem Sinn zu entnehmen. Die erwähnten Bescheide "änderten" allerdings nicht, wie es nach der Gesetzesformulierung vorausgesetzt wird, die zunächst angefochtenen Bescheide "ab"; sie traten auch nicht einfach an deren Stelle. Die Erklärungen der Versorgungsverwaltung, wonach es bei dem anerkannten Satz der MdE von 70% verbleibe, ließen die vorangegangenen Verwaltungsentscheidungen, daß dem Kläger aus anderen Gründen die Pflegezulage nicht zustehe, unangetastet. Gleichwohl wurden die späteren Bescheide gemäß § 96 Abs. 1 SGG in den anhängigen Rechtsstreit einbezogen; dies deshalb, weil sie sich im Inhalt und Tragweite nicht völlig von den hier zunächst angefochtenen Verwaltungsaussprüchen unterschieden, sondern im Gegenteil, wie diese dasselbe rechtliche Interesse des Klägers betrafen. Bei Bemessung der MdE ging es freilich in erster Linie um die Erhöhung der Beschädigtenrente. Zugleich war aber auch - mittelbar - über eine mögliche Grundlage der Forderung nach Pflegezulage zu befinden. Denn, wenn der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt war, wie er behauptet, war ihm - als erwerbsunfähigem Hirnbeschädigten - ohne weiteres die Pflegezulage zu gewähren (§ 35 Abs. 1 Satz 4 iVm § 31 Abs. 3 in der bis zur Änderung durch das 7. Anpassungsgesetz - AnpG-KOV - geltenden Fassung; hierzu: BSG 8, 69, 70 f.). Hierfür wäre es gleichgültig, daß die Erwerbsunfähigkeit (§ 31 Abs. 3 BVG aF) allein auf der Hirnverletzung beruhte (BSG 1, 56, 57 f.; SozR Nr. 19 zu BVG § 35) oder mit einer Hirnerkrankung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung in Verbindung zu bringen (BSG 8, 130, 132 ff.) oder maßgeblich durch ein berufliches Betroffensein beeinflußt wäre (§ 30 Abs. 2 BVG; BSG 22, 82). In diesen Fällen käme es auf das genaue Maß seiner Hilflosigkeit nicht an. Es hätte also außer Betracht bleiben können, ob der sonst nach § 35 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BVG zu verwirklichende Tatbestand erfüllt wurde. Über letzteres verhielten sich indessen die ersten Verwaltungsakte. In allen in Rede stehenden Bescheiden ging es aber - direkt oder indirekt, allein oder auch - um die Berechtigung des Klägers zur Pflegezulage. Unterschiedlich waren die Bescheide nur hinsichtlich der erörterten Anspruchsmerkmale. Insoweit ergänzten die neueren Bescheide die älteren. In bezug auf das vom Kläger verfolgte Ziel standen alle hier erwähnten Bescheide zueinander in einem inneren Zusammenhang. Im übrigen hatte der Kläger sein auf eine Pflegezulage gerichtetes Begehren gerade damit begründet, daß er nunmehr erwerbsunfähig sei. Bei dieser Übereinstimmung im Rechtsschutzobjekt mußte sich der Gedanke an die Konzentration und Erledigung des gesamten Streitstoffs in einem Prozeß aufdrängen. Der Durchsetzung dieses prozeßökonomischen Gedankens dient die Vorschrift des § 96 SGG (dazu Begründung zu § 43 des Regierungsentwurfs zur Sozialgerichtsordnung, Bundestagsdrucksache 4357/53; BSG 25, 161, 163). Die Vorschrift ist auch dann anzuwenden, wenn ein neuer Verwaltungsakt wenigstens teilweise einen bereits angefochtenen Bescheid bestätigt und insoweit sachlich-rechtlich dessen Ausspruch, auch das von ihm abgelehnte Begehren, berührt (vgl. ferner BSG SozR 1500 § 96 SGG Nr. 2). Aus dieser Erwägung heraus, die eine ausdehnende oder sinngemäße Interpretation des § 96 Abs. 1 SGG als geboten erscheinen läßt, werden auch solche Verwaltungsakte als durch ein anhängiges Gerichtsverfahren als erfaßt angesehen, die ein streitiges Rechtsverhältnis ebenso wie die zunächst angefochtenen Verwaltungsakte für einen anschließenden Zeitabschnitt regeln (BSG SozR Nrn. 14 und 19 zu SGG § 96; BSG 34, 255, 256 f.; 37, 93, 94). Nach dieser Auslegungsrichtlinie fällt der gegenwärtige Sachverhalt in den Normbereich des § 96 Abs. 1 SGG, zumal hier mehr noch als dort die Gleichheit des Rechtsschutzzieles deutlich hervortritt, nämlich in jedem Falle die Verurteilung der Behörde zur Bewilligung der Pflegezulage für eine weitgehend gleiche Zeit.
Die neuen Bescheide wurden mithin kraft Gesetzes zur Materie des gegenwärtigen Prozesses. Der Klagegegenstand wurde erweitert, ohne daß es hierzu einer Erklärung der Beteiligten oder eines Ausspruchs des Gerichts (vgl. § 99 Abs. 1 SGG) bedurfte. An diesem Ergebnis änderte sich weder dadurch etwas, daß der Kläger die neuen Bescheide durch eine gesonderte Klage anfocht, noch dadurch, daß er in der Berufungsverhandlung lediglich die Aufhebung der alten Bescheide beantragte. Der gesonderten Klage stand die Einrede der Rechtshängigkeit entgegen (§ 94 Abs. 2 SGG; BSG 5, 159, 163). Die Formulierung des Sachantrags in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht könnte als Beschränkung des Prozeßbegehrens nur gedeutet werden, wenn dies dem erkennbaren Willen des Klägers entsprochen hätte. Seine schriftsätzlichen Einlassungen sind aber, wie die Revision zutreffend hervorgehoben hat, gerade anders zu verstehen. Infolgedessen hätte das LSG sich nicht allein an die Fassung des gestellten Sachantrags halten dürfen; es hätte über den gesamten erhobenen Anspruch befinden müssen (§ 123 SGG; BSG 37, 93, 94; ferner: Urteil vom 5. April 1974, 9 RV 468/73). Darin war, wie ausgeführt, die Anfechtung der neuen Bescheide mit einbegriffen.
Für eine Sachentscheidung über diese Bescheide fehlt es an den tatsächlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht. Damit diese nachgeholt werden können, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Dieses wird auch über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen